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Chakren maximal geöffnet

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Ein guter Innenminister sollte das Grundgesetz aus dem Effeff kennen, einen herausragenden schmückt darüber hinaus – oder stattdessen? – ein siebter Sinn. Wir reden von Bundesgroßinnenminister Horst Seehofer. Der verkündete vor einigen Tagen, eine Studie zu Racial Profiling bei der Polizei werde es nicht geben, das sei nicht sinnvoll. Seitdem ist die Verwunderung groß; zuvor hatte er eine solche Studie noch befürwortet. Seehofer indes ließ zur Begründung verbreiten, seine Entscheidung sei unter anderem damit verbunden, dass Racial Profiling bei der Polizei ja verboten sei. Was soll man dann schon untersuchen? So bestechend diese Argumentation in ihrer Zirkularität ist, sie verstellt womöglich den wahren Grund für die Neupositionierung: Wahrscheinlich hatte Seehofer mit seinem siebten Sinn einfach in die Polizei hineingehört, hineingefühlt, seine Chakren maximal geöffnet, und da war kein Zweifel mehr: Racial Profiling, Rassismus gar, das gibt es bei der Polizei nicht.

Mit wohl weniger guten Antennen ausgestattete Zeitgenossen wie der Anwalt Mehmet Daimagüler oder der stellvertretende Stuttgarter Polizeipräsident Thomas Berger, die beide kürzlich in Kontext zu Wort kamen, sollten dies akzeptieren, auch Leute wie Bundesjustizministerin Christine Lambrecht, der notorisch miesmachende Hamburger Polizeiwissenschaftler Rafael Behr, der Bund Deutscher Kriminalbeamter, der Seehofers Nein kritisierte oder Kontext-Autorin Johanna Henkel-Waidhofer.

In sinnlicher Hinsicht ist auch Thomas Strobl ein herausragender Innenminister. Wenige seiner Kollegen wittern rechtsfreie Räume und Linksextremisten so zuverlässig wie der Heilbronner. Schon unmittelbar nach der Stuttgarter Krawallnacht vom 20. Juni hatte er unter den Gewalttätern auch Linksextreme ausgemacht, und obwohl die Stuttgarter Polizei dafür bislang keinerlei Belege gefunden hat, bleibt Strobl im Wesentlichen bei seiner Einschätzung. Was StZ-Autor Sascha Maier zu der Frage verleitete: "Hat Thomas Strobl (CDU) Informationen über die Krawallnacht vom 20. Juni, die den Ermittlungsbehörden nicht vorliegen?"

In Bezug auf besagte Krawallnacht hinkt die empirische Täter- und Motivsuche der sensuellen deutlich hinterher, allzu viel Genaues weiß man noch nicht, was natürlich unbefriedigend ist. Um der Bevölkerung in so einem Fall die Angst vor rechtsfreien Räumen zu nehmen, ist auch mal entschiedenes Handeln nötig, was sinnlich weniger beschlagene Zeitgenossen oft als Aktionismus, Ablenkungsmanöver oder Willkür deuten. In diese Richtung gingen manche Interpretationen der Razzien gegen linke Einrichtungen im Land vom vergangenen Wochenende. Begründet wurden die Razzien mit Ermittlungen in Zusammenhang mit einem Angriff am Rande einer "Querdenken"-Demo auf dem Cannstatter Wasen im Mai, bei der ein Mitglied der rechten Vereinigung "Zentrum Automobil" schwer verletzt worden war; auf der linken Plattform "Indymedia" hatten sich dazu "einige Antifas" bekannt.

Besonders robust ging die Polizei dabei offensichtlich im linken Tübinger Wohnprojekt Lu15 vor – nicht zum ersten Mal übrigens. Zu größeren Irritationen führte, dass dabei ein Mitarbeiter des Linken-Bundestagsabgeordneten Tobias Pflüger festgenommen wurde, obwohl dieser laut Pflüger nachweisen könne, zu besagtem Zeitpunkt nicht am Cannstatter Wasen gewesen zu sein. Und brisant auch, dass dabei Parlaments-Dokumente, die der Mann, weil im Homeoffice arbeitend, bei sich zu Hause hatte, beschlagnahmt wurden. Dokumente, in denen es möglicherweise um die Themen Rechtsextremismus und Kommando Spezialkräfte in Calw geht, denn dazu soll Pflügers Mitarbeiter momentan recherchieren. Ob und was das eine mit dem anderen zu tun hat, können wir Ihnen, liebe LeserInnen, noch nicht erklären; uns fehlt da einstweilen der siebte Sinn.

Keinen siebten Sinn braucht Hans D. Christ vom Württembergischen Kunstverein (WKV), um festzustellen, dass die Randalenacht vom 20. Juni auch ohne abschließende Ermittlungsergebnisse schon einige sehr konkrete Folgen zeitigt. Folgen, die für ihn einem "Verfallsprozess des Rechts politische Legitimation zuliefern", wie er in einem kurzen Erfahrungsbericht schreibt. Darüber hinaus erörtert er, inwieweit die Krawalle in Stuttgart und die Behandlung von Menschen in Schlachthöfen wie bei Tönnies eine gemeinsame Basis haben. Und zeigt dabei, dass es sich immer wieder lohnt, über den Tellerrand hinauszudenken.


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2 Kommentare verfügbar

  • Jue.So Jürgen Sojka
    am 09.07.2020
    Antworten
    Eine kleine, jedoch _nicht unerhebliche_ Bitte an die KONTEXT-Radaktion:
    Das Grundgesetz braucht _niemand_ aus dem Effeff kennen.
    Zu erkennen ist lediglich, für welche Gegebenheiten im Grundgesetz nachzulesen ist – Recht verstehen, das _muss_ dazu auch ermöglicht sein!

    Nun erleben wir, dass…
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