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Sozialer Wohnungsbau in BW

Vor dem Kollaps

Sozialer Wohnungsbau in BW: Vor dem Kollaps
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Der Wohnungsbau in Baden-Württemberg bricht ein. Im ersten Halbjahr ist die Zahl der Baugenehmigungen um sage und schreibe 20 Prozent zurückgegangen. Zur Trendumkehr fehlt Grün-Schwarz das Geld und zur realistischen Bestandsaufnahme der Mut. Also wird weiter herumdilettiert – ohne jede Aussicht auf Besserung.

Nicole Razavi (CDU) hatte sich in der Hochzeit der Auseinandersetzung um Stuttgart 21 ihren Ruf als selbstbewusste und manchmal hoch aggressive Landtagsabgeordnete hart erarbeitet. Als baden-württembergische Ministerin für Landesentwicklung und Wohnen muss die frühere Geschäftsführerin der Fraktion auch anders können. "Wir wollen den Motor im Wohnungsbau nicht ausgehen lassen", erklärt sie schriftlich in der letzten Plenarsitzung vor der Sommerpause ungewohnt kleinmütig. Und versucht die Tatsache schönzureden, dass 2023 gar kein Geld für einschlägige Wohnraumförderung mehr da ist. Der Grund: Die veranschlagten 463 Millionen Euro für den sozialen Wohnungsbau sind schon überbucht. Das sei doch "erfreulich", behauptet Razavi, zeige sich doch, "dass bei der Ausgestaltung des Programms die richtigen Entscheidungen getroffen wurden".

Aus Sicht der vielen, die auf der Suche nach bezahlbaren vier Wänden sind, stellt sich die Lage ganz anders dar: All die vollmundigen Versprechungen bleiben uneingelöst. Dabei ist es noch gar nicht so lange her, dass Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) den Problemversteher gab. "Ich will, dass gerade auch die Menschen, die unsere Gesellschaft so dringend braucht – Krankenpfleger, Erzieherinnen, Polizisten –, sich eine Wohnung in der Nähe ihres Arbeitsplatzes leisten können", sagte er 2019. Es bereite ihm "große Sorgen", wie etwas so grundlegend ins Rutschen gerate, dass sich immer mehr Menschen richtig schwertun, eine leistbare Wohnung zu finden. Selbst wer ordentlich verdiene, lege "manchmal locker die Hälfte vom Lohn hin". Goldene Worte folgen: Die Landesregierung habe eine Offensive an den Start gebracht, da "es der Markt alleine sicher nicht richten wird".

Vier Jahre später steht Baden-Württemberg nicht besser da, sondern deutlich schlechter – trotz des eigens gegründeten Ministeriums für Wohnen und Landesentwicklungsplanung und trotz des neuen Strategiedialogs "Bezahlbares Wohnen und Innovatives Bauen". Unter anderem Kretschmanns einflussreicher Amtschef im Staatsministerium Florian Stegmann hat Mitte Juli im Kabinett über den Stand der Dinge berichtet und angekündigt, jetzt stehe "die Schärfung der Aufgaben und Fragestellungen für die kommenden Monate im Mittelpunkt". Ganz so, als lägen die nicht wie ein offenes Buch vor allen Verantwortlichen, und das seit vielen Jahrzehnten.

Jahrzehntelang nichts gelernt

"Die schwierige Lage auf dem Mietwohnungsmarkt ist besorgniserregend", räumte beispielsweise der zuständige Minister 1990 ein. Der hieß Dietmar Schlee (CDU) und drängte anhaltend auf mehr Geld vom Bund, insbesondere zwecks Unterstützung der Ballungsräume. Union und FDP in der Bundesregierung hatten die Wohnungsgemeinnützigkeit gerade abgeschafft. Damit verloren alle rund 1.800 (!) gemeinnützigen Wohnungsbauunternehmen ihre Steuerprivilegien. Eines der Argumente gegen die Gemeinnützigkeit von Wohnungsbau: Die Wohnungsnot der Nachkriegszeit sei überwunden. Für Ballungsräume wollten die Länderbauminister damals zumindest eine Begrenzung von Mieterhöhungen ernsthaft diskutiert wissen.

Einmal 1,4 Prozent mehr

Ende 2022 verzeichnet Baden-Württemberg erstmals seit vielen Jahren ein leichtes Plus im Sozialwohnungsbestand. Gebaut worden waren in dem Jahr 2.167 neue Wohnungen, 1.431 fielen aus der Sozialbindung, was gerade mal 763 zusätzliche Wohnungen für Menschen mit geringem Einkommen bedeutete. Nach einer 2017 vom damals noch zuständigen Wirtschaftsministerium in Auftrag gegebenen Studie des Prognos Instituts müssten es aber per anno mindestens 1.500 neue Einheiten sein, um den Rückgang aufzuhalten.

Landesweit gab es im Vorjahr knapp 52.300 Sozialwohnungen, 2006 waren es noch 91.000. Für dieses Jahr erwartet Landesbauministerin Nicole Razavi 2.000 neue Sozialwohnungen. Die Architektenkammer geht von weniger aus, weil zu erwarten sei, dass angesichts des Kostendrucks "gerade preissensible Baumaßnahmen nahezu zum Stillstand kommen", heißt es in einer Stellungnahme.  (lee)

Dazu kam es nicht, stattdessen begann der Ausverkauf. Nach und nach sind drei Millionen Sozialwohnungen verschwunden und dennoch wurde weitergewurstelt. Auf aus heutiger Sicht ausgesprochen hohem Niveau allerdings, denn die Zahl der Baugenehmigungen für Baden-Württemberg erreichte ihr Allzeithoch von 107.000 im Jahr 1994. Fast drei Jahrzehnte später sind es nurmehr 50.000, damit aber immerhin das Doppelte des Jahres 2008, als CDU und FDP die Förderungen weitestgehend heruntergefahren hatten. Dies mit der unzutreffenden Begründung des FDP-Wirtschaftsministers Ernst Pfister: "Das reine Mengenziel des Wohnungsbaus ist überwunden."

Dabei war da die Weiche schon falsch gestellt durch den Rückzug des Bundes aus dem originären Wohnungsbau. Im Zuge der Föderalismuskommission I von 2003 wanderten die Zuständigkeiten vom Bund an die Länder. Die dachten aber gar nicht daran, Sozialwohnungen in ausreichendem Maße zu bauen. Im Südwesten streiften CDU und FDP das Thema in ihrem Koalitionsvertrag von 2006 nicht einmal mit einem Halbsatz. Die Übertragung an die Länder sei nachvollziehbar gewesen, schreibt der Speyerer Professor Joachim Wieland in einer Analyse sechs Jahre später, da die Länder die regionalen Bedürfnisse besser kennen würden und eine zentrale Lenkung nicht unbedingt notwendig gewesen sei. Sehr wohl aber war es falsch, die eigentlich vereinbarte Zweckbindung nicht zu kontrollieren: "Der Bund zahlte den Ländern ab 2007 zwar jährlich 518 Millionen Euro, damit die neue Einheiten bauen können." Damit seien aber unter anderem Haushaltslöcher gestopft worden. Ein Ausweg aus dieser Misere wäre nach Wieland, dass der Bund "bei den Ländern Sozialwohnungen gleichsam bestellt und nur Geld gibt, wenn die nachweislich gebaut worden sind".

Viele Versprechen, wenig Ergebnisse

Auch dazu kam es nicht. Zugleich verringerte sich der Bestand immer weiter, weil die Bindung fiel. Für Baden-Württemberg versprach die grün-rote Nachfolgeregierung 2011 einen "Paradigmenwechsel". Unter den schwarz-gelben Vorgängern habe die Wohnungspolitik "ein Schattendasein gefristet habe, "mit gravierenden Folgen". Entscheidend mehr Geld mochte allerdings auch SPD-Superminister Nils Schmid nicht in die Hand nehmen. Außerdem sind die Agenden im Land traditionell ein Wanderpokal, das heißt, mal im Innen-, mal im Wirtschafts- oder mal teilweise im Verkehrsressort angesiedelt. Und selbst heute ist es nicht wirklich in einem Haus, also in Razavis Ministerium, gebündelt, wie sich am Strategiedialog zeigt: Staats- und Wirtschaftsministerium mischen kräftig mit.

Die zu Ende gehende Ära Kretschmann ist mit davon geprägt, dass der grundlegend andere Umgang mit einem Notstand misslingt. Als ob ein Fluch über allen Bemühungen hänge, seitdem 2012 unter Grün-Rot 21.500 Wohnungen der Landesbank Baden-Württemberg an die Augsburger Patrizia verkauft wurden. Leer aus gingen die Bieter rund um die Landeshauptstadt, denen die Falschbehauptung aufgetischt wurde, EU-Recht habe ein anderes Vorgehen nicht zugelassen. Herumgedoktert wird immer weiter an Symptomen wie schon zu Zeiten von Schwarzen und Liberalen an der Stellschraube Landesbauordnung (LBO). Dabei müssten doch längst alle Verständigen wissen, dass sich Entscheidendes so nicht ändern lässt. 1996 (!) zum Beispiel hatten CDU und FDP einen "neuen Aufschwung" versprochen durch die Genehmigung dreigeschossiger Wohngebäude aus Holz. Gebracht hat´s nichts.

So entsteht kein Vertrauen in Politik

Noch eine schlechte Idee

Klara Geywitz, die rote Bundesbauministerin, will das Wachstumsbeschleunigungsgesetz ihres liberalen Kabinettskollegen Christian Lindner ergänzen. Zu den ohnehin schon gut 50 steuerentlastenden Maßnahmen mit einem Volumen von sechseinhalb Milliarden Euro soll mit erleichterten Abschreibungsmöglichkeiten für den Wohnungsbau eine weitere hinzukommen. In den ersten acht Jahren könnten danach degressiv insgesamt 48 Prozent der Baukosten steuerlich geltend gemacht werden. Wie sie die Ausfälle ausgleichen will, lässt die Sozialdemokratin offen. Die Deutschen Gesellschaft für Mauerwerks- und Wohnungsbau (DGfM) spricht von einem Schritt in die richtige Richtung. "Ohne nachhaltige Anreize wird es keine Investitionen in Bautätigkeit geben", heißt es in einer Stellungnahme. "Die Idee ist sozial völlig ungezielt", kritisiert Caren Lay, die Obfrau der Linken im Bundestagsausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommunen. Denn begünstigt würden auch die, die "sehr lukrativ in teure Luxuswohnungen investieren". Und Chris Kühn, der Wohnbauexperte der Grünen-Bundestagsfraktion aus Tübingen, wusste einst im Wahlkampf – gerichtet an die Adresse der Union - auch, was von "reinen Investorengeschenken" zu halten sei: "Das ist ökonomischer Bullshit."  (jhw)

Traurige Berühmtheit erlangte die LBO, als sich Grün-Rot auf den Weg machte, auf den Klimawandel gerade in heißen Städten zu reagieren durch Bepflanzung von Gebäuden überall dort, wo Bäume, Parks und Gärten fehlten. "Die absurde Efeu-Novelle", titelte "Die Welt". Weil diese Neuerungen in die Zuständigkeit des grünen Verkehrsministers Winfried Hermann fielen, warf Razavi diesem "Blamage und Heuchelei" vor. Dabei war schon da der positive Effekt einer solchen Maßnahme nachgewiesen. Inzwischen muss nach ihrer Ansicht alles auf den Prüfstand, "was das Bauen verlangsamt, erschwert und verteuert". Dabei sagt sie selbst, dass der Mietwohnungsbau insgesamt "unter einer allgemeinen Wirtschaftlichkeitslücke" leidet. Diese Einsicht könnte die Grundlage werden für einen realen Paradigmenwechsel, was letztlich bedeutet, mehr Geld in die Hand zu nehmen. Was aber mitnichten geschieht, weil die öffentliche Hand auch künftig zu wenig Geld investieren will.

Selbst das bekennt Razavi schwarz auf weiß. "Ist vonseiten der Landesregierung die Bereitschaft vorhanden, einen Rettungsschirm für bereits in Planung befindliche Projekte zu spannen, um mit zusätzlichen Mitteln solchen Projekten unter der Bedingung, dass durch diese zu einem Mindestanteil geförderte Wohnungen geschaffen werden, zur Fertigstellung zu verhelfen?", fragt Jonas Hoffmann (SPD) in der letzten Plenarsitzung vor der Sommerpause. Die Antwort der Ministerin fällt unzweideutig aus: "Ein Rettungsschirm, mit dem Bauwillige gegen alle denkbaren negativen Veränderungen pauschal geschützt werden, kann nicht Gegenstand einer Landesförderung sein und wäre auch nicht bezahlbar." Die Konsequenzen müssen die Wohnungssuchenden tragen, und die wenden sich – im Extremfall – frustriert ab vom Staat oder gar von der Demokratie.


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2 Kommentare verfügbar

  • J. Distel
    am 01.09.2023
    Antworten
    Alles hängt mit allem zusammen. Und einfache Lösungen gibt es nicht. Und wer glaubt, dass nur ein sozialer Wohnungsbau die grundlegenden Probleme tatsächlich umfassend lösen kann, irrt. Ohne private Investitionen wird es nicht gehen.

    Weitere wesentliche Punkte, die im Immobilienmarkt eine Rolle…
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