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Migrationspolitik

Ohne Skrupel

Migrationspolitik: Ohne Skrupel
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Größtmögliche Abschreckung – so lautet die Devise in der flüchtlingspolitischen Debatte. Von der CDU bis hin zu den Grünen. Die Bühne dafür bieten Medien, die nur noch denen zuhören, die am lautesten schreien. Der baden-württembergische Flüchtlingsrat fordert ein Ende des Populismus.

Es kostet jeden Morgen mehr Überwindung, Nachrichten zur Migrationspolitik zu hören und zu lesen. Eine Art Wettkampf scheint in der Politik ausgebrochen zu sein, ein perfides Überbieten um die erfinderischsten Vorschläge zur Abschreckung geflüchteter Menschen. Migrationsabkommen mit Diktaturen aushandeln, Menschen an den europäischen Außengrenzen einsperren, Bezahlkarten einführen, Sozialleistungen senken, Arbeitszwänge einführen – je drastischer die Mittel, desto besser.

Wir sind schockiert darüber, wie gedankenlos und ohne Skrupel derzeit rhetorische Elemente reproduziert werden, die wir eigentlich bei der AfD verortet hätten, und mit welcher Geschwindigkeit sich das Spektrum des Sagbaren ausweitet. Parteichefs wie Friedrich Merz (CDU) verbreiten gezielt Falschinformationen zu erfundenen Zahnarztbesuchen migrierter Menschen, um dann in einem zweiten Schritt eine Einschränkung ihrer Gesundheitsversorgung zu fordern.

In der Debatte geht es nur noch um die Eindämmung der wahlweise als "irregulär" oder "illegal" bezeichneten Migration. Das ist absurd, denn es ist gerade die politisch gewünschte Abwesenheit legaler Migrationsmöglichkeiten, die Menschen auf die gefährlichen Fluchtrouten treibt. Außerdem haben etwa drei Viertel der in Deutschland ankommenden Menschen (zahlenmäßig allen voran Syrer:innen, Afghan:innen und Türk:innen) Anspruch auf Schutz.

Fakten fehlen

Wieso werden diese Menschen von Politiker:innen eigentlich inzwischen fast ausschließlich als "illegal" und nicht als "geflüchtet" bezeichnet? Wieso werden sie nicht einfach als Menschen wahrgenommen, die die Umstände zur Flucht gezwungen haben? Die Eskalationsspirale der Abwehrpolitik braucht genau diese Entmenschlichung: Forderungen nach dem Einsatz von physischer Gewalt an den EU-Außengrenzen, wie jüngst von Jens Spahn (CDU) geäußert, gehen leichter über die Lippen, wenn sie sich gegen die Vorstellung einer anonymen Masse "irregulärer Migrationsbewegungen" richten. Sprache hat machtvolle Konsequenzen; sie schafft Bilder in unseren Köpfen, formt unsere Wahrnehmung der Welt und damit auch unser Handeln.

Fakten haben es schwer in dieser Debatte. Dies zeigt sich zum Beispiel daran, wie Politiker:innen am Mythos der Push- und Pull-Faktoren festhalten – einer Theorie, die in der wissenschaftlichen Community schon seit den 1960er-Jahren als überholt gilt, weil sie das komplexe Phänomen der Migration auf einen augenscheinlich simplen Mechanismus reduziert: Menschen würden durch "wegdrückende" Faktoren aus ihrem Herkunftsgebiet gepusht und durch "anziehende Faktoren" in ein anderes Gebiet gelockt. Als ließe sich Migration wie auf Knopfdruck steuern: Wenn wir die Lebensumstände geflüchteter Menschen in Deutschland nur weniger "anziehend" gestalten, wird sich die Fluchtmigration schon reduzieren. Wer glaubt ernsthaft, dass auch nur ein Mensch weniger zur Flucht gezwungen wird, den Kampf ums Überleben und die eigene Existenz aufgibt, weil in Deutschland nun Bezahlkarten für Asylsuchende eingeführt werden sollen?

Obwohl ausgeschlossen ist, dass derartige Abschreckungsmaßnahmen zum erwünschten Ergebnis führen (der Reduktion der Geflüchteten-Zahlen), sind diese Vorschläge jedoch keinesfalls ohne Konsequenzen. Sie machen den Betroffenen das Leben noch schwerer, weil sie ihre ohnehin eingeschränkten Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe weiter begrenzen. Vor allem aber werden wieder einmal genau die Stereotype aufgewärmt, gegen die Geflüchtete sowieso im Alltag permanent kämpfen müssen: Vorschläge zur Einführung eines Arbeitszwangs suggerieren, Geflüchtete wollten nicht arbeiten; Vorschläge zur Einschränkung der gesundheitlichen Versorgung legen nahe, Geflüchtete hätten es auf die Ausbeutung des ohnehin schon maroden deutschen Gesundheitssystems abgesehen – das sich übrigens gerade noch über Wasser halten kann, weil darin 22,5 Prozent Menschen mit Einwanderungsgeschichte arbeiten.

Die Verbreitung der faktenfeindlichen Abwehrrhetorik zeigt, dass rechtsextreme Kräfte die letzten Jahre in Deutschland ganze Arbeit geleistet haben. Und indem nun Politiker:innen aus dem gesamten Spektrum eifrig dazu beitragen, dass sich Fake News zu geflüchteten Menschen in den Köpfen festsetzen, wird der Weg für weitere Wahlerfolge der AfD geebnet.

Als Flüchtlingsrat empfinden wir es als zunehmend schwierig, Gehör in der aktuellen Diskussion zu finden. Unsere grundlegenden Forderungen nach einer menschlichen Flüchtlingspolitik drohen zu verhallen in einer Debatte, die sich ausschließlich auf Instrumente zur Flüchtlingsabwehr fokussiert. Im Vergleich zu 2015/16 gibt es im Bundestag keine relevante Opposition mehr, die sich für NGOs wie der unseren als natürliche Verbündete anbieten würde. Drängt die Ampel-Koalition auf mehr Abwehr, dann verlangt die CDU dieselben Maßnahmen in noch härterer Gangart.

Winfried Kretschmann – bodenlos

In Baden-Württemberg scheint Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) vor lauter Pragmatismus den Boden unter den Füßen verloren zu haben: Zur letzten Ministerpräsident:innen-Konferenz forderte er zusammen mit den CDU-Regierungschefs eine Externalisierung von Asylverfahren à la britischem Ruanda-Modell – obwohl dieses bekanntermaßen vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bereits vorerst gestoppt wurde. Grundsätzliche Gegenrede aus der Parteienlandschaft anlässlich dieser aggressiven Scheinlösungen wird kaum noch laut. Das ist ein Riesenunterschied zu 2015/16, als die grüne Opposition regelmäßig ihre Stimme gegen asylrechtliche Verschärfungen erhob. Heute gelten Forderungen nach dem Einhalten von Grund- und Menschenrechten in der Flüchtlingspolitik als zunehmend radikal.

Der Fokus der Debatte auf die generelle Flüchtlingsabwehr macht es uns schwer, mit kleinteiligeren Lösungsvorschlägen zur Entlastung des Aufnahmesystems und der Ausländerbehörden durchzudringen. So könnte zum Beispiel der Verzicht auf die Wohnpflicht in den Erstaufnahmeeinrichtungen die Unterbringungsstrukturen entlasten und die Abschaffung der Wohnsitzauflage für Bürokratieabbau sorgen. Hierzu beitragen würde auch die generelle Erteilung von Arbeitserlaubnissen. So müssten die Ausländerbehörden diesbezüglich keine Anträge abarbeiten. Regelmäßig wendet sich der Flüchtlingsrat mit solchen Vorschlägen an Behörden und Politik, die häufig mit dem Totschlagargument weggewischt werden, sie seien im Kontext der aktuellen Debatte nicht vermittelbar.

Medien tragen zur Schieflage der Debatte bei

Entscheidend dazu beigetragen, diese Debatte immer weiter nach rechts zu verschieben, hat auch die Art und Weise, wie das Thema medial bearbeitet wird. Unsere Wahrnehmung ist: Wer am lautesten schreit und sich am radikalsten positioniert, wird am häufigsten zitiert. Den brutalsten Botschaften wird die größte Bühne geboten. Eine kritische Einordnung der populistischen Parolen wird nicht systematisch vorgenommen. Zum Beispiel wäre es sinnvoll, erstmal nachzurecherchieren, wie ein Arbeitszwang für geflüchtete Menschen überhaupt umgesetzt werden könnte, bevor derartige Forderungen kommentarlos weiterverbreitet werden.

Was die Titelseiten der Zeitungen schmückt, in Fernseh- und Radiobeiträgen rauf und runter dekliniert wird, beeinflusst unsere Wahrnehmung. Mehrheitlich vermittelt die Berichterstattung derzeit den Eindruck, ganz Deutschland habe sich darauf geeinigt, dass die Lösung aller gesellschaftlicher Probleme darin liege, geflüchtete Menschen von den europäischen und vor allem den deutschen Grenzen fernzuhalten.

Dies liegt auch daran, wie Journalist:innen Themen auswählen. Den Perspektiven derer, die sich solidarisch mit Geflüchteten zeigen, wird aktuell kaum Raum geboten. Dabei wissen wir aus unserer Arbeit, dass es nach wie vor sehr viele Menschen in Baden-Württemberg gibt, die sich tagtäglich und mit großer Beharrlichkeit für die Rechte Geflüchteter einsetzen. Angesichts der Schieflage in der Berichterstattung empfinden diese Menschen einen ähnlichen Frust wie wir. Wieso sind Bilder von Protesten gegen den Bau von Flüchtlingsunterkünften immer interessanter als solidarische Stimmen aus der Zivilgesellschaft oder gelungene Lösungsansätze bei der kommunalen Unterbringung?

Jeder Mensch kann ein Flüchtling werden

Und eine weitere Perspektive bleibt in der Berichterstattung weitgehend unsichtbar: die von geflüchteten Menschen selbst. Journalist:innen vermitteln nur selten Einblicke in die Lebensrealitäten von Menschen, die zum Beispiel ein Asylverfahren durchlaufen und ihren Alltag unter den Prämissen des rigiden deutschen Aufnahmesystems gestalten müssen. Auch wird kaum recherchiert, wie die aktuelle Debattenführung Menschen trifft, die zu einem früheren Zeitpunkt nach Deutschland geflohen sind und sich hier unter größter Mühe eine neue Existenz aufgebaut haben, die nun möglicherweise stärker denn je als bedroht erscheint.

Die Debatte zu Fluchtmigration darf nicht derart einseitig und destruktiv weitergeführt werden. Was es braucht, ist ein echter Paradigmenwechsel. Globale Ungleichheiten und Fragen nach Gerechtigkeit und Solidarität müssen bei dem Thema systematisch mitgedacht werden. So ist die Möglichkeit, sich frei zu bewegen, weltweit extrem ungerecht verteilt. Vor dem Hintergrund, dass deutsche Staatsbürger:innen mit ihrem Pass in 190 Länder dieser Welt reisen dürfen, erscheint es umso absurder, Menschen aus Krisengebieten dazu zwingen zu wollen, auf den Versuch zu verzichten, ihr Leben andernorts fortzuführen.

Menschen, die das Glück haben, nicht zur Flucht gezwungen zu werden, die vergleichsweise gemütlich von Geburt an in einem reichen Land wie Deutschland leben, sollten sich bewusster werden, dass es sich dabei um unverdiente Privilegien handelt. Wir müssen uns konsequenter vor Augen halten, dass flüchten zu müssen oder verreisen zu dürfen absolut nichts mit individuellem Verdienst zu tun hat. Kontexte und Situationen können potenziell aus jedem Menschen einen "Flüchtling" machen.

Darüber hinaus muss Fluchtmigration endlich als Phänomen begriffen werden, das in unterschiedlichsten Ausprägungen seit Menschheitsgedenken existiert und auf das ein Nationalstaat nur sehr bedingt Einfluss nehmen kann. Fluchtmigration nicht als Problem zu fassen, sondern als unumstößliche Tatsache, bringt auch Erleichterung: Statt Energie durch Abwehrpolitik zu verschwenden, können wir uns endlich ganz pragmatisch auf die Frage konzentrieren, wie geflüchtete Menschen möglichst gut aufgenommen werden können.
 

Anja Bartel und Meike Olszak leiten zusammen die Geschäftsstelle des Flüchtlingsrats Baden-Württemberg. Bartel hat in Migrationssoziologie (Straßburg) promoviert, Olszak hat Politik und Internationales Recht (Santiago, Tallinn, Turin) studiert.

Weiterführende Artikel mit Fakten, Zahlen und Argumenten zur Asyldebatte finden Sie hier. Mehr Informationen zu Reformen des Abschieberechts gibt es hier und hier.


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4 Kommentare verfügbar

  • Peter Nowak
    am 27.11.2023
    Antworten
    "Im Vergleich zu 2015/16 gibt es im Bundestag keine relevante Opposition mehr, die sich für NGOs wie der unseren als natürliche Verbündete anbieten würde“, schreiben die beiden Autorinnen. Da hätte ich die Frage, ob sich das bei einer Linkspartei ohne Wagenknecht ändert, die mit Carola Rackete…
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