Der Fokus der Debatte auf die generelle Flüchtlingsabwehr macht es uns schwer, mit kleinteiligeren Lösungsvorschlägen zur Entlastung des Aufnahmesystems und der Ausländerbehörden durchzudringen. So könnte zum Beispiel der Verzicht auf die Wohnpflicht in den Erstaufnahmeeinrichtungen die Unterbringungsstrukturen entlasten und die Abschaffung der Wohnsitzauflage für Bürokratieabbau sorgen. Hierzu beitragen würde auch die generelle Erteilung von Arbeitserlaubnissen. So müssten die Ausländerbehörden diesbezüglich keine Anträge abarbeiten. Regelmäßig wendet sich der Flüchtlingsrat mit solchen Vorschlägen an Behörden und Politik, die häufig mit dem Totschlagargument weggewischt werden, sie seien im Kontext der aktuellen Debatte nicht vermittelbar.
Medien tragen zur Schieflage der Debatte bei
Entscheidend dazu beigetragen, diese Debatte immer weiter nach rechts zu verschieben, hat auch die Art und Weise, wie das Thema medial bearbeitet wird. Unsere Wahrnehmung ist: Wer am lautesten schreit und sich am radikalsten positioniert, wird am häufigsten zitiert. Den brutalsten Botschaften wird die größte Bühne geboten. Eine kritische Einordnung der populistischen Parolen wird nicht systematisch vorgenommen. Zum Beispiel wäre es sinnvoll, erstmal nachzurecherchieren, wie ein Arbeitszwang für geflüchtete Menschen überhaupt umgesetzt werden könnte, bevor derartige Forderungen kommentarlos weiterverbreitet werden.
Was die Titelseiten der Zeitungen schmückt, in Fernseh- und Radiobeiträgen rauf und runter dekliniert wird, beeinflusst unsere Wahrnehmung. Mehrheitlich vermittelt die Berichterstattung derzeit den Eindruck, ganz Deutschland habe sich darauf geeinigt, dass die Lösung aller gesellschaftlicher Probleme darin liege, geflüchtete Menschen von den europäischen und vor allem den deutschen Grenzen fernzuhalten.
Dies liegt auch daran, wie Journalist:innen Themen auswählen. Den Perspektiven derer, die sich solidarisch mit Geflüchteten zeigen, wird aktuell kaum Raum geboten. Dabei wissen wir aus unserer Arbeit, dass es nach wie vor sehr viele Menschen in Baden-Württemberg gibt, die sich tagtäglich und mit großer Beharrlichkeit für die Rechte Geflüchteter einsetzen. Angesichts der Schieflage in der Berichterstattung empfinden diese Menschen einen ähnlichen Frust wie wir. Wieso sind Bilder von Protesten gegen den Bau von Flüchtlingsunterkünften immer interessanter als solidarische Stimmen aus der Zivilgesellschaft oder gelungene Lösungsansätze bei der kommunalen Unterbringung?
Jeder Mensch kann ein Flüchtling werden
Und eine weitere Perspektive bleibt in der Berichterstattung weitgehend unsichtbar: die von geflüchteten Menschen selbst. Journalist:innen vermitteln nur selten Einblicke in die Lebensrealitäten von Menschen, die zum Beispiel ein Asylverfahren durchlaufen und ihren Alltag unter den Prämissen des rigiden deutschen Aufnahmesystems gestalten müssen. Auch wird kaum recherchiert, wie die aktuelle Debattenführung Menschen trifft, die zu einem früheren Zeitpunkt nach Deutschland geflohen sind und sich hier unter größter Mühe eine neue Existenz aufgebaut haben, die nun möglicherweise stärker denn je als bedroht erscheint.
Die Debatte zu Fluchtmigration darf nicht derart einseitig und destruktiv weitergeführt werden. Was es braucht, ist ein echter Paradigmenwechsel. Globale Ungleichheiten und Fragen nach Gerechtigkeit und Solidarität müssen bei dem Thema systematisch mitgedacht werden. So ist die Möglichkeit, sich frei zu bewegen, weltweit extrem ungerecht verteilt. Vor dem Hintergrund, dass deutsche Staatsbürger:innen mit ihrem Pass in 190 Länder dieser Welt reisen dürfen, erscheint es umso absurder, Menschen aus Krisengebieten dazu zwingen zu wollen, auf den Versuch zu verzichten, ihr Leben andernorts fortzuführen.
Menschen, die das Glück haben, nicht zur Flucht gezwungen zu werden, die vergleichsweise gemütlich von Geburt an in einem reichen Land wie Deutschland leben, sollten sich bewusster werden, dass es sich dabei um unverdiente Privilegien handelt. Wir müssen uns konsequenter vor Augen halten, dass flüchten zu müssen oder verreisen zu dürfen absolut nichts mit individuellem Verdienst zu tun hat. Kontexte und Situationen können potenziell aus jedem Menschen einen "Flüchtling" machen.
Darüber hinaus muss Fluchtmigration endlich als Phänomen begriffen werden, das in unterschiedlichsten Ausprägungen seit Menschheitsgedenken existiert und auf das ein Nationalstaat nur sehr bedingt Einfluss nehmen kann. Fluchtmigration nicht als Problem zu fassen, sondern als unumstößliche Tatsache, bringt auch Erleichterung: Statt Energie durch Abwehrpolitik zu verschwenden, können wir uns endlich ganz pragmatisch auf die Frage konzentrieren, wie geflüchtete Menschen möglichst gut aufgenommen werden können.
Anja Bartel und Meike Olszak leiten zusammen die Geschäftsstelle des Flüchtlingsrats Baden-Württemberg. Bartel hat in Migrationssoziologie (Straßburg) promoviert, Olszak hat Politik und Internationales Recht (Santiago, Tallinn, Turin) studiert.
Weiterführende Artikel mit Fakten, Zahlen und Argumenten zur Asyldebatte finden Sie hier. Mehr Informationen zu Reformen des Abschieberechts gibt es hier und hier.
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Peter Nowak
am 27.11.2023