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Superblock in Stuttgart-West

Ruhe im Verkehr

Superblock in Stuttgart-West: Ruhe im Verkehr
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Die Idee stammt aus Barcelona: Mehrere Häuserblocks werden zu einem verkehrsberuhigten Superblock zusammengefasst. Im Stuttgarter Westen könnte 2024 zumindest eine Sparversion davon entstehen.

"Nach einer Woche fingen die Leute an, auf der Straße zu gehen", erinnert sich Hanka Griebenow an die Stuttgarter Mobilitätswoche im September 2021, als in der Augustenstraße im Stuttgarter Westen ein temporärer Pop-up-Superblock eingerichtet wurde. Von der Fahrbahn waren Spielplatz- und Veranstaltungsbereiche abgezwackt worden. Diagonalsperren, die schräg auf den Kreuzungen standen, bremsten den Durchgangsverkehr aus.

Die üblichen Pannen gab es auch. Gleich am ersten Tag war die parallele Hauptverkehrsachse Rotebühlstraße gesperrt – ohne richtig ausgeschilderte Umleitung. Autofahrer dachten, sie müssten auf die Augustenstraße ausweichen. Die Müllabfuhr war nicht informiert. Doch nach einem schönen Wochenende hatten sich die Menschen daran gewöhnt, dass der Straßenraum nicht mehr in erster Linie für Autos da war. Aber da war alles fast schon wieder vorbei.

Nun soll es einen anderthalb Jahre währenden Verkehrsversuch geben. Die Augustenstraße zwischen Schwab- und Silberburgstraße sowie die Querstraßen in beide Richtungen werden zu einem Superblock zusammengefasst. Der Autoverkehr wird an jeder Kreuzung durch Diagonalsperren auf die Hauptverkehrsstraßen, die Rotebühl- und Reinsburgstraße zurückgeschickt. Wissenschaftler:innen der Uni Stuttgart untersuchen, ob sich der Umbau positiv auf Wohlbefinden, Gesundheit und Lebensqualität der Anwohner:innen auswirkt.

In Barcelona sprechen sie von Superinseln

In Barcelona heißen diese Blocks "Superilles", katalanisch für Superinseln. Inseln der Ruhe im fließenden Verkehr. Bereits in den 1990er-Jahren hat die Stadt erste Erfahrungen gesammelt, bis 2019 die ersten sechs Superblocks eingerichtet und dann Gelder für 21 weitere bewilligt. 503 Superblocks sind geplant, langfristig soll die ganze Stadt zunehmend vom Durchgangsverkehr entlastet werden. Weltweit gibt es Nachahmer. Buenos Aires hat schon fünf. In Berlin wollen 65 Initiativen einen dort sogenannten Kiezblock einrichten. Wien nennt sie "Supergratzl".

In Stuttgart treibt die Quartierswerkstatt Augustenstraße die Idee voran, Vereinsvorstand Ulrich Heck ist zugleich Kreisvorsitzender des Verkehrsclubs Deutschland (VCD), die Architektin und Mitstreiterin Hanka Griebenow engagiert sich noch in der Initiative Wanderbaumallee, die wiederum aus dem Realexperiment "Parklets für Stuttgart" hervorgegangen ist. Parklets sind Parkplätze, die zu öffentlichen Aufenthaltsräumen umfunktioniert werden. Nach erfolgreichen ersten Versuchen hat die Stadt Stuttgart vor einigen Jahren ein Genehmigungsverfahren entwickelt. Man muss einen Antrag stellen, 100 Euro zahlen und eine Haftpflichtversicherung abschließen.

Auch in der Augustenstraße gibt es mittlerweile zwei Parklets: eines vor dem Greenpeace-Büro, eines weiter oben. Die Terrasse des Kulturzentrums "Merlin" könnte man auch als Parklet bezeichnen. Sie sollte eigentlich dem neuen Betreiber des Cafés, das wegen Corona längere Zeit geschlossen war, zu einem guten Start verhelfen. Doch nun wurde sie erst im Dezember eröffnet, bei Temperaturen um den Gefrierpunkt. Die Stadt war mit der Versetzung eines Fahrradständers und der Genehmigung nicht in die Pötte gekommen.

Annette Loers, die Geschäftsführerin des "Merlin", plädiert sehr für den Superblock, hat Architekturstudierenden der Universität Stuttgart eine interaktive Ausstellung ermöglicht, erste Gespräche mit Gewerbetreibenden organisiert, die Initiative unterstützt, die mit Flyern unterwegs war und das Konzept im Bezirksbeirat vorgestellt hat.

Was soll sich ändern im Quartier? Während bisher der Durchgangsverkehr in beide Richtungen der Länge nach durch die Augustenstraße fahren konnte, soll er nun nur noch einspurig geführt und an jeder Kreuzung auf eine der Hauptverkehrsstraßen zurückgelenkt werden. So schwer sollte das nicht sein: Nach eigenen Beobachtungen auf dem Weg zur Kontext-Redaktion gibt es in dem Gebiet bisher nur wenig Verkehr, von Parkplatzsuchenden abgesehen.

Fünf Prozent weniger Parkplätze? Nicht in Stuttgart

Wenn man allerdings die Superblocks von Barcelona mit dem vergleicht, was in Stuttgart geplant ist, zeigen sich doch große Unterschiede. Lediglich 17 Parkplätze sollen nach Angaben der Stadt entfallen. Das entspricht gerade mal einer Straßenseite in einem Straßenabschnitt.

Erinnert sei auch an die Empfehlung des Bürgerrats Klima, ein Gremium aus 61 per Los ausgewählten Stuttgarter:innen, fünf Prozent der Parkplätze in der ganzen Stadt jährlich abzubauen. Das entspricht dem Rat des renommierten Stadtplaners Jan Gehl aus Kopenhagen. Doch in Stuttgart können sich das nicht einmal die Grünen vorstellen. Wie auch Gehl im Kontext-Gepräch hat sich der Bürgerrat für mehr Park & Ride-Plätze ausgesprochen. Dafür sei der Regionalverband zuständig, sagt die Stadtverwaltung und schiebt den Ball weiter.

Kein Vergleich mit Barcelona: Auf Bildern von den drei Superblocks um die Markthalle Sant Antoni in Barcelona sind keine Autos zu sehen. Nur Spielplätze und Baumkübel, Tische und Bänke, Fußgänger und Radfahrer. Der Autoverkehr ist zwar nicht völlig verbannt, aber nur Anwohner:innen und Lieferverkehr dürfen in den Superblock hinein und das nur im Schritttempo. Fußgänger haben Vorfahrt. Geparkt wird in Tiefgaragen.

Das ist das große Thema in Stuttgart: Es könnte ein heilig's Parkplätzle wegfallen. Aber tut's das wirklich? In Wirklichkeit, sagt Ulrich Heck, sei der Verkehrsversuch nur genehmigt worden, weil anderswo Ersatzparkplätze nachgewiesen wurden: unter anderem in der Tiefgarage der Allianz, die bald nach Vaihingen umzieht. Unterm Strich könnten es sogar mehr Parkplätze werden. Das ist nicht das, was Heck will. Er wünschte sich, dass die Anwohner:innen auf das eigene Auto verzichteten, was so schwierig nicht sein dürfte: Das Quartier ist mit zwei S-Bahn-Stationen gut an den ÖPNV angeschlossen, für Radler:innen wird vieles besser und wer dennoch gelegentlich ein Auto brauche, könne auf sechs geplante Stellplätze des Carsharing-Anbieters "Stadtmobil" zurückgreifen.

Architektin Griebenow glaubt, die Zustimmung der Anwohner:innen sei viel größer als die Stadt vermute. Im Bezirksbeirat kann Vorsteher Bernhard Mellert (Grüne) von einem einstimmigen Ja zum Verkehrsversuch berichten, selbst die CDU habe beantragt zu untersuchen, ob sich der gesamte Stuttgarter Westen in Superblocks umwandeln lasse. Allerdings lerne er auch andere Meinungen kennen, und deshalb sei das Ausprobieren wichtig, um den Menschen zu zeigen, dass die Lebensqualität steige und die Stellplatzfrage keine unüberwindlichen Schwierigkeiten bereite.

Stuttgart schafft gerade mal den Mindeststandard

Das lehrt auch das Beispiel Barcelona. Als dort im Stadtteil Poblenou 2016/17 einer der ersten großen Superblocks entstand, stieß dies anfangs auf heftige Kritik. Inzwischen achtet die Stadt darauf, die Anwohner:innen rechtzeitig einzubinden. Alles wird untersucht: die Auswirkungen auf die Gesundheit ebenso wie für den Einzelhandel, der von der Verkehrsberuhigung nachweislich profitiert. Als Händler kürzlich gegen eine neue Fußgängerzone klagten und Recht bekamen, beeilten sie sich zu sagen, dass sie die Verkehrsberuhigung keinesfalls rückgängig machen wollten. Sie hatten nur der im Juni 2023 abgewählten linken Bürgermeistern Ada Colau eins auswischen wollen.

Durch die Neuwahl ist das Vorhaben in Barcelona ein wenig ins Stocken geraten. Colaus Nachfolger Jaume Collboni, Sozialdemokrat, muss auf die Konservativen vom Partido Popular Rücksicht nehmen, die ihm gegen den Separatisten Xavier Trias ins Amt geholfen haben. Doch die Idee ist nicht aufzuhalten. Im März hat in Barcelona das erste Internationale Superblock-Meeting stattgefunden, mit Beteiligten aus 15 europäischen Städten.

Auch in Deutschland gab es im November in Darmstadt eine erste Superblock-Konferenz mit 27 beteiligten Städten. Eine Fachgruppe des Vereins "Changing Cities" hat dort ihre Empfehlungen vorgestellt. In drei Stufen: Mindeststandard, Regelstandard und Goldstandard. Der Stuttgarter Verkehrsversuch entspricht dem Mindeststandard, aber nicht dem Regelstandard. Denn dazu gehört auch, dass mindestens 25 Prozent der Straßenränder für blau-grüne Infrastruktur wie Bäume und Regenwasseraufbereitung reserviert sind. Die Aktivist:innen der Quartierswerkstatt Augustenstraße hätten es lieber heute als morgen so.

Jan Lutz, seinerzeit Ideengeber des Reallabors für nachhaltige Mobilitätskultur und nun seit einigen Jahren beim Carsharing-Anbieter Stadtmobil tätig, unterstützt das mit der nötigen Skepsis. "Nach den Schwierigkeiten, die wir früher hatten, Stellplätze für unsere Fahrzeuge zu bekommen, ist das schon ein Fortschritt", sagt er, "besser, es geht langsam voran als gar nicht." Immerhin: Dem Bürgerrat folgend, hat der Gemeinderat beschlossen, Ende 2025 zwei weitere Superblocks entstehen zu lassen. Einen im Lehenviertel und einen am Stöckach. Grüne, SPD, Puls und FrAktion stimmten dafür.

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5 Kommentare verfügbar

  • WernerS
    am 15.01.2024
    Antworten
    "Geparkt wird in Tiefgaragen". Dann fangt schon mal an Tiefgaragen zu bauen. Amsterdam und Barcelona machen das seit Jahren. Wenn unsere Radfahrer dort als Touristen hinfahren, sehen die das natürlich nicht.
    In Deutschland geht es nur darum, die Parkplätze zu monetarisieren. Den Platz braucht man…
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