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Neuer SPÖ-Chef Andreas Babler

Ein Austro-Marxist

Neuer SPÖ-Chef Andreas Babler: Ein Austro-Marxist
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Die Optik ist fatal, die überschießende Häme ob der Wahlpanne, national wie international, trotzdem billig. Denn wenn es dem Jetzt-doch-Chef der österreichischen Roten, Andreas Babler, gelingt, sich fest zu verankern an der SPÖ-Spitze, bekommt Europas Sozialdemokratie einen neuen kämpferischen Linksaußen.

Er hat die Rede seines Lebens gehalten am vergangenen Samstag beim außerordentlichen Parteitag der SPÖ in Linz. Viel Tempo, große Lautstärke, pointierte Inhalte und verblüffte Begeisterung bei erstaunlich großen Teilen des Publikums. Andreas Babler will Konzerne und Vermögende stärker besteuern, spricht von der stolzen Arbeiterschaft, die weniger bekommt als sie verdient, er verlangt mehr Einwanderung ("Wer sind die Leute, die in der Gastronomie das Drecksgeschirr waschen?") und nennt den Kampf gegen die Erderwärmung einen "zutiefst sozialdemokratischen Verteilungskampf". Wenn alles weiter kippt, sagt er, "werden die Superreichen noch immer ihre Klimaanlagen haben und ihre Pools und ihr kaltes Getränk aus dem Kühlschrank holen, während zig Millionen Menschen auf der Flucht sind". Und er will, frei nach Willy Brandt, nicht nur mehr Demokratie, sondern mehr Sozialdemokratie wagen.

Im Laufe der vorgegebenen 45 Minuten wird der Beifall der gut 600 Delegierten im Linzer Design-Center immer lauter, manchmal frenetisch, am Ende gibt es Standing Ovations vor allem aus dem roten Wien, von vielen Frauen, Gewerkschafter:innen und jungen Genoss:innen. Und da und dort den Eindruck, dass der 50-Jährige die Stimmung zu seinen Gunsten gedreht haben könnte. Drei Stunden später ist ausgezählt und Hans-Peter Doskozil, der im Burgenland eine Koalition mit der rechtsnationalen FPÖ hinter sich hat und eine solche auch für die Bundesebene in seinem innerparteilichen Wahlkampf keineswegs gänzlich ausschloss, elfter Vorsitzender der Nachkriegs-SPÖ. Dies allerdings nur für 48 Stunden. Denn dann muss eine seiner engsten Vertrauten, Michaela Grubesa, die Vorsitzende der Wahlkommission, bekanntgeben, dass "aufgrund eines technischen Fehlers das Ergebnis vertauscht wurde". Der Verlierer wird zum Sieger erklärt und umgekehrt.

Ösi-Witze, schadenfreudige Operettenstaatsszenarien oder bissige Memes schießen durchs Netz, in TV-Straßenumfragen glauben Leute an verspätete Aprilscherze, selbst in die "Washington Post" schaffen es "Austria's main center-left opposition party" und ihr Desaster. Verschwörungstheorien machen schnell die Runde und unter vernünftig Gebliebenen die große Hoffnung, dass am Ende nicht noch etwas ganz anderes als Dilettantismus bei der eigentlich nicht gerade komplizierten Auszählung von gut 600 Delegiertenstimmen ans Tageslicht kommt.

Inzwischen steht jedenfalls der Betrugsverdacht im Raum. Denn erst nach gehässigen, immer neuen und nie belegten Unterstellungen hatte der ursprüngliche jahrlange Vorsitzende der ständigen Wahlkommission der SPÖ, der 75-jährige Wiener Harry Kopietz, der es bis zum Landtagspräsidenten brachte, vor Pfingsten aus gesundheitlichen Gründen seinen Hut genommen. Grubesa versprach, dass "ab sofort seriös" gearbeitet werde. Seit Montagnachmittag ist die Steirerin "das Gesicht des Debakels". Noch lange nachhallen wird ihr überraschendes Pressestatement, bei dem sie zunächst über "eine ominöse verlorene Stimme" berichtete und dann "des Weiteren" von dem "außerordentlichen Fehler" eines Mitarbeiters und der Verwechselung der Ergebnisse.

Doskozil agierte als Meister der Querschüsse

Babler, der neue Parteichef mit knapp 53 Prozent der Delegiertenstimmen, hat umgehend eine abermalige Kontrolle des Ergebnisses verlangt. Wird Andi, wie ihn seine vielen Freund:innen nennen, bestätigt und tatsächlich Nachfolger der glücklosen Vorgängerin Pamela Rendi-Wagner, ist das eine ganz besondere Ironie des Schicksals. Denn Doskozil hatte der ersten Frau an der Spitze seit ihrem Amtsantritt 2018 das Leben schwer gemacht. Als Meister der Querschüsse stichelte und mäkelte er fortwährend und ließ davon nicht einmal ab, als die SPÖ über Wochen in der Demoskopie bei selbst im europäischen Vergleich stattlichen 30 Prozent lag und damit deutlich vor der regierenden ÖVP und der Rechtsaußen-FPÖ.

Stattdessen eskalierte der ehemalige Verteidigungsminister und frühere Polizist Doskozil den Dauerkonflikt mutwillig immer weiter, gab sogar heimlich eine Umfrage in Auftrag mit dem Ergebnis, die ihm im Falle einer Neuwahl bessere Chancen einräumte, Bundeskanzler zu werden. Dann griff er selber nach dem Bundesvorsitz, setzte eine in der Satzung so gar nicht vorgesehene Mitgliederbefragung durch und verantwortet die wochenlange Selbstbeschäftigung der Partei in Zeiten, in denen mit roten Themen, speziell der extremen Teuerung im EU-Vergleich, ein Wahlsieg wie eine reife Frucht nur hätte geerntet werden müssen.

Beim Basisvotum konnte Doskozil schlussendlich 36.000 der knapp 150.000 Mitglieder für sich aktivieren und scheute die von vielen zur Klarstellung der Machtverhältnisse verlangte Stichwahl. Nur 33.500 votierten für die Bundesvorsitzende Rendi-Wagner, die sich daraufhin umgehend aus der Politik zurückzog. Vor ihr lag mit 33.700 Stimmen auch Babler, der mit Erfolg den Zweikampf auf dem Parteitag suchte. Nicht zuletzt, weil ihm auf einer aufwändigen wochenlangen Tour durchs ganze Land die Herzen zugeflogen waren, weil Anträge auf Erwerb eines roten Parteibuchs in einem seit Langem nicht mehr gekannten Ausmaß eingingen, weil er anhaltend aus seiner linken Gesinnung keinen Hehl macht. Für viel Aufregung der Bürgerlichen und der Rechtsnationalen sorgte, als er sich sogar "marxistisch orientiert seit meiner Jugendorganisation" einordnete. Allerdings will er Marxismus richtig interpretiert wissen, etwa als "gute Brille, um Zusammenhänge zu analysieren".

Dabei war Marxismus österreichischer Ausprägung lange salonfähig und damit auch die daraus resultierende Suche nach dem Dritten Weg als Alternative zwischen Kommunismus und Kapitalismus. Die SPÖ-Legende Bruno Kreisky erinnerte noch in den 1970er-Jahren in einem berühmten Briefwechsel mit den sozialdemokratischen Partei- und Regierungschefs Willy Brandt (BRD) und Olof Palme (Schweden) daran, dass "Sozialisten die Klassen beseitigen und das Arbeitsprodukt der Gesellschaft gerecht verteilen wollen". Bis heute tragen alle Zeichen und die roten Flaggen der SPÖ die drei nach unten zeigenden Pfeile, die für den Kampf der Arbeiter:innen gegen Faschismus, Klerikalismus und Kapitalismus stehen.

Markenzeichen Bablers: offensive Positionierungen

Unter großem Applaus warb Babler in Linz für die 32-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich, "nicht als Utopie, sondern aus Respekt vor den arbeitenden Menschen". Der frühere Bundessekretär der Sozialistischen Jugend und Vizepräsident der Weltjugendinternationale hat offensive ideologische Positionierungen zu seinem Markenzeichen gemacht – um den Preis, sich gelegentlich extrem zu vergaloppieren, wie mit seiner Philippika gegen die EU vor ein paar Jahren, die er schmähte als "aggressivstes außenpolitisches militärisches Bündnis, das es je gegeben hat". Für ihn sprechen vor allem die großen Erfolge auf schwierigstem kommunalpolitischem Pflaster. Er ist seit 2014 Bürgermeister im niederösterreichischen Traiskirchen, jener Gemeinde, in der die größte Aufnahmeeinrichtung für Asylbewerber:innen in der ganzen Republik liegt. Von Anfang an kämpfte er dafür, alle Flüchtlinge menschenwürdig unterzubringen. Im 37-köpfigen Gemeinderat sitzen 28 Genoss:innen und nur drei Vertreter der FPÖ. Der Bürgermeister selbst ist mit gut 72 (!) Prozent und dem besten Ergebnis für die Roten in der 19.000-Einwohner:innen-Stadt seit 1945 gewählt.

Dazu hat er jenen Stallgeruch, der seiner promovierten Vorgängerin Rendi-Wagner völlig fehlte: Babler kommt aus dem, was in Traiskirchen "eine Semperit-Familie" heißt. Das vor fast hundert Jahren gegründete Kautschukwerk war lange Zeit größter Arbeitgeber der Kommune, für zu Hochzeiten 15.000 Beschäftigte. In den 1980er-Jahren wurde die Reifensparte an "Continental" verkauft, die Zehn-Jahres-Produktionsgarantie mit einer Verlagerung nach Tschechien gebrochen, 2009 wickelten 30 Mitarbeiter:innen den Abriss ab. "Das hat mich stark geprägt", sagt er, "weil wir hautnah erlebt haben, was passiert, wenn Konzerne in ihrem Profit- und Auslagerungswahn Jobs in Österreich einstampfen." Die Stadt und die Bevölkerung seien "in den Kampf gegen die Konzernmacht gegangen, und da habe ich gelernt, dass man sich wehren kann und wehren muss."

Das letzte Kapitel des Auszählungs-Fiaskos ist noch nicht geschrieben. Alle, die mit den Roten ohnehin nichts oder wenig am Hut haben, versuchen, den Vorgang der ganzen Partei in die Schuhe schieben. Von der unprofessionellen Schlamperei oder selbst vom Vorsatz einiger weniger kurzerhand auf den ruinösen Zustand insgesamt zu schließen, wie es massenhaft geschieht, zeugt jedoch von hanebüchener Oberflächlichkeit – das Denken in den Kategorien des Boulevard schreitet munter voran. "GeSPÖtt", titelte Österreichs größtes Blatt, die "Kronen Zeitung". Vielerorten überschlagen sich immer neue Superlative für die Panne, als auf Jahre unwählbar wird die SPÖ in bürgerlichen Medien eingestuft. Nur einige wenige halten dagegen: Es habe überhaupt nichts mit der Sozialdemokratie zu tun, "wenn ein paar Leute nicht rechnen können", sagt die noch nie linksverdächtige Doyenne der österreichischen Presse, Anneliese Rohrer.

Als Babler dann am Dienstag endgültig – dank abermaliger Stimmauszählung, diesmal unter notarieller Aufsicht – als neuer SPÖ-Chef bestätigt ist, nennt er als allererste Aufgabe, sicherzustellen, dass sich "ein solches Versagen von Teilen des Apparats nicht wiederholt". Er will mehr Transparenz, mehr Mitgliedermitbestimmung, die Partei "mit Demokratie durchfluten" und der Sozialdemokratie "Einigkeit, Stolz und Würde" zurückgeben. Die nach der Megaaufregung zu erwartenden schlechten Umfrageergebnisse hat er schon eingepreist, "aber die Zukunft schreiben wir selber". Wer ihn noch nicht kennt, der kann ihn kennenlernen, denn der Linke startet im Sommer eine Österreich-Tour in der Erwartung, "dass uns unsere Leidenschaft für eine gerechte Politik überall hintragen kann". Zuerst in viele Winkel zwischen dem Boden- und dem Neusiedlersee. Und dann vielleicht ins Kanzleramt in der Wiener Innenstadt.


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1 Kommentar verfügbar

  • Der neue Babler-Fan
    am 08.06.2023
    Antworten
    Ich habe mir gerade die Rede von Andreas Babler auf dem SPÖ-Parteitag angeschaut, als Deutscher, kann so schlecht also nicht sein ... hier ist die Rede:

    https://www.youtube.com/watch?v=mdk_GYjQX-o

    Andreas Babler Rede am ao. Bundesparteitag „03.06.2023"
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