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Razzien bei Linken

Kreative Staatsanwaltschaften

Razzien bei Linken: Kreative Staatsanwaltschaften
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Gesetze lassen in der Auslegung Spielräume offen. Zuletzt gingen Ermittlungsbehörden mit ziemlich freigeistigen Interpretationen von Straftatbeständen gegen linke Zusammenschlüsse in Baden-Württemberg vor. Jüngst führte ein Redebeitrag auf einer Demo zum Tag der Arbeit zu einer Hausdurchsuchung.

Alles, was sie sagen, kann und wird gegen sie verwendet werden: Für den linken Aktivisten Hendrik Müller (Name geändert) hat ein Redebeitrag auf einer Kundgebung zum Tag der Arbeit ein juristisches Nachspiel. Am 1. Mai dieses Jahres war es in der Stuttgarter Innenstadt zu einer Konfrontation zwischen Polizei und Demonstrierenden gekommen. Nachdem im antikapitalistischen Block eines von Gewerkschaften angeführten Demonstrationszuges zwei Rauchtöpfe brannten, ging die Polizei mit Pfefferspray und Schlagstöcken gegen die Aktivist:innen vor (Kontext berichtete). Die "Revolutionäre 1. Mai Demonstration", die anschließend auf dem Stuttgarter Schlossplatz geplant war und ein ähnliches Personenspektrum anspricht, durfte gar nicht erst loslaufen: Das Ordnungsamt hatte die Seitentransparente auf eine maximale Länge von 1,5 Metern beschränkt. Daran haben sich nicht alle gehalten.

Von einem Lautsprecherwagen aus soll sich Aktivist Müller mit "durchgängig kritischen Beiträgen gegenüber der Polizei" geäußert haben. So jedenfalls zitiert die Initiative Solidarität und Klassenkampf aus einem Durchsuchungsbeschluss der Staatsanwaltschaft. Denn neben seiner generellen Polizeikritik will die Behörde weitere Anzeichen dafür erkannt haben, dass Müller durch seine Wortmeldungen zu Straftaten beigetragen haben könnte. Konkret lautet der Verdacht: Anstiftung zur Brandstiftung. Am 30. Mai kam es zur Hausdurchsuchung bei Müller, der berichtet, dass ihn Beamte in schusssicheren Westen gegen 6:10 Uhr mit vorgehaltenen Waffen geweckt hätten.

Am Abend nach dem teilverhinderten Demonstrationsgeschehen am 1. Mai stand in einem Polizeirevier in der Innenstadt ein Streifenwagen in Flammen. Dass es sich um eine Vergeltungsaktion aus der linksradikalen Szene halten könnte, ist als Verdacht naheliegend. Auf dem Portal "indymedia" erschien ein Bekennerschreiben, in dem es heißt: "Weil die Bullen keinen offenen Protest zulassen wollten (…), haben wir in der Nacht vor dem Bullenrevier in Stuttgart West eine Bullenwanne angezündet." Die Tat wurde auf Video festgehalten, die Staatsanwaltschaft sucht nach zwei Unbekannten – weiß aber schon, wer es nicht war: Der Beschuldigte Müller scheide aufgrund seiner Statur als unmittelbarer Täter bei der Brandstiftung aus. Bei seiner Rede auf der Demonstration hat er die polizeilichen Maßnahmen allerdings mit einem "Das werden wir euch heimzahlen" kommentiert, weswegen ihn die Staatsanwaltschaft der Mitwisserschaft und sogar der Anstiftung verdächtigt.

Müller wohnt zwar nicht im linken Zentrum Lilo Hermann, das Vorträge und Kundgebungen organisiert und im Stadtteil Heslach angesiedelt ist. Nach Angaben der Ermittlungsbehörden sei er hier aber sehr aktiv, gewissermaßen einer der führenden Köpfe – und nach Einschätzung der Staatsanwaltschaft sei es als unwahrscheinlich anzusehen, dass eine Tat wie eine solche Brandstiftung ohne Kenntnis dieses Personenkreises erfolgen könne. Eine Richterin am Stuttgarter Amtsgericht hielt das für hinreichend konkrete Anhaltspunkte, die Durchführung der Razzia abzusegnen. Beschlagnahmt wurden ein Handy und weitere Datenträger.

Bitte nicht lauter als eine Waschmaschine

Im Gespräch mit Kontext zeigt sich Müller insofern gelassen, als dass er nicht daran glaubt, verurteilt zu werden. Besorgt ist er aber angesichts der "zunehmenden Repression gegen linke Proteste und die Szene im Allgemeinen": von der Kriminalisierung der "bürgerlich-gemäßigten" Letzten Generation bis zu den Hausdurchsuchungen beim Freiburger Sender "Radio Dreyeckland". Für Müller reihen sich diese Maßnahmen der Staatsgewalt ein in einen gesamtgesellschaftlichen Rechtsruck, immerhin stehe die AfD in Umfragen aktuell gleichauf mit der Kanzlerpartei. "Und auch in Behörden gibt es teils paranoiden Linkenhass."

Seinem Eindruck nach, sagt Müller, würden etwa die Demo-Auflagen des Stuttgarter Ordnungsamts immer abstruser. Neuerdings zum Beispiel durch Lautstärkebeschränkungen. Am 1. Mai verlangte der Versammlungsbescheid, dass die "Gesamtlautstärke maximal 75 dB(A) beträgt" (als Vergleichsgrößen für diese Lautstärke gibt der Hörgeräthersteller Hörax Kantinenlärm, eine Waschmaschine beim Schleudern und ein Großraumbüro an; in der Arbeitswelt ist ein Gehörschutz ab einer Belastung von 85 Dezibel Pflicht). Zudem sei die Größenbegrenzung von Bannern und Transparenten auf maximal 1,5 Meter Länge inzwischen Standard. Im Juli 2022 konnte auch eine Anti-AfD-Demo nicht stattfinden, weil der Polizei die Seitentransparente zu groß waren. In der offiziellen Pressemitteilung war später von "massiven Verstößen gegen die von der Stadt Stuttgart erlassenen Auflagen" die Rede. Die Demo wurde mit Pfefferspray beendet, bevor sie anfangen konnte.

Im Fall der Kundgebung zum Tag der Arbeit wurde der Versammlungsbescheid am 24. April, also eine Woche vor der Demo ausgestellt – wenig Zeit für eine Klage, sagt Müller. Und er verweist auch auf die Schwierigkeit, allen Teilnehmenden einer Demonstration die Auflagen rechtzeitig zu kommunizieren. "In Demokratien mit parlamentarischem Repräsentativsystem und geringen plebiszitären Mitwirkungsrechten hat die Versammlungsfreiheit die Bedeutung eines grundlegenden und unentbehrlichen Funktionselementes", formulierte das Bundesverfassungsgericht 1985 und führte Literatur an, laut der Kritik und Protest "ein Stück ursprünglich-ungebändigter unmittelbarer Demokratie" enthielten. Auf diesen ungebändigten Charakter beruft sich Müller: Es sei unmöglich, im Vorfeld zu wissen, wer auf einer Demonstration auftauchen wird. Und er äußert den Verdacht, dass in Stuttgart durch kaum einzuhaltende Auflagen politisch unliebsame Aktionen gezielt erschwert oder verhindert werden sollen.

Das Ordnungsamt hingegen beruft sich in der Begründung auf Erfahrungen mit der Szene, wonach "Transparente und Banner durch Zusammenhalten und Zusammenknoten zur Identitätsverschleierung genutzt" worden seien, was die Aufklärung von Straftaten erschwere. "In Abwägung der Verhältnismäßigkeit ist die Einhaltung eines Abstandes von 2 m zwischen den seitlich mitgeführten Transparenten und der Beschränkung der Länge der Seitentransparente auf 1,5 m das mildeste Mittel gegenüber einem kompletten Verbot von Transparenten." Die Einschränkung der Versammlungsfreiheit sei dabei "nicht wesentlich".

RDL: Staatsanwaltschaft lässt nicht locker

Mehrfach hat das Bundesverfassungsgericht die hohen Anforderungen an eine Hausdurchsuchung ausformuliert. Etwa dass "jeweilige Eingriffe in angemessenem Verhältnis zu der Schwere der Straftat und der Stärke des Tatverdachts stehen". In Müllers Fall begründet sich der Tatverdacht durch die Interpretation einer reichlich vagen Aussage und durch polizeikritische Beiträge. Ob der Grundrechtseingriff vor diesem Hintergrund verhältnismäßig ist, scheint fraglich. Es wäre nicht die erste Razzia in Baden-Württemberg, die sich im Nachhinein als rechtswidrig erweist.

Dass die Exekutive ihre Kompetenzen überschritten hat, liegt auch im Fall des Freiburger Senders "Radio Dreyeckland" nahe. Die Staatsanwaltschaft hatte nach einer Razzia in seiner Wohnung Anklage gegen den Redakteur Fabian Kienert erhoben, weil dieser einen Link auf die Archivseite des verbotenen Portals "linksunten.indymedia" gesetzt hatte. Er habe sich somit "als Sprachrohr in den Dienst" der verbotenen Vereinigung gestellt und die Berichterstattung sei "nur vorgeschoben" zur "Verdeckung der Absicht, zugunsten der mit dem Verbot belegten Vereinigung Propaganda zu treiben", lautet die kreative Interpretation der Staatsanwaltschaft.

Das Landgericht Karlsruhe kam allerdings zur Einschätzung, dass der angeklagte Sachverhalt "unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt strafbar" sei, und brauchte für diese Feststellung gar keine Verhandlung: Auf 40 Seiten begründete das Gericht, warum es die Eröffnung eines Verfahrens ablehnt. Gegen diesen Beschluss hat die Staatsanwaltschaft Beschwerde vor dem Oberlandesgericht Stuttgart eingelegt. Theoretisch könnte es also doch noch zu einem Prozess kommen.

Indessen ist es unüblich, dass eine staatsanwaltschaftliche Anklage nicht zu einer Verhandlung führt. "2021 wurden von den Landgerichten im Gerichtsbezirk des Oberlandesgerichts Karlsruhe als erster Instanz insgesamt 653 Verfahren erledigt", schreibt die Politikwissenschaftler:in Detlef Georgia Schulze in einem Blogbeitrag für den "Freitag". "Davon wurden nur 20 durch Nichteröffnung des Hauptverfahrens erledigt", also ungefähr drei Prozent. Schulze resümiert: "Nichteröffnungsbeschlüsse können also als deutliche Kritik an der Argumentation und Arbeitsweise der im jeweiligen Fall anklagenden Staatsanwaltschaft verstanden werden."


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