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Gammertingen nach dem Göggel-Brand

Ein Sonnenstrahl über der Alb

Gammertingen nach dem Göggel-Brand: Ein Sonnenstrahl über der Alb
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Gammertingen und Reifen-Göggel – 24 Jahre hielt der Filz. Bis es lichterloh brannte und der Bürgermeister meinte, alles bleibe wie es ist. Er wurde abgewählt. Nachgefolgt ist ihm das Patenkind seines schärfsten Kritikers. Ein Lehrstück in Sachen Demokratie.

Es war, als hätte es den Bürgermeister nie gegeben. Keiner der Festredner erwähnt seinen Namen. Weder die Vertreterin der Landrätin, noch der Schulrektor, noch der Vertreter der Vereine, auch die Pfarrer nicht. Nur der Mann vom Verwaltungsverband Laucherttal sagt, Holger Jerg habe Gammertingen geprägt. Er führt nicht weiter aus, wie er das getan hat, doch an diesem Abend hat man den Eindruck, dass es etwas Bedrückendes sein musste, eine Art Grauschleier über dem Städtchen, den er zurückgelassen hat.

Jerg, Jahrgang 1962, war 24 Jahre lang Bürgermeister und bei der CDU. Bei unserem letzten Besuch im August vergangenen Jahres in seinem Amtszimmer voller düsterer Ölgemälde hat er versichert, er trage die Sorgen seiner Bürger:innen stets mit sich. Ist das der Dank?

Die Festreden werden bei der Amtseinsetzung des Neuen am 13. Juni gehalten. Sie findet in der Mensa der Laucherttal-Schule statt, deren Bühne etwas Aussegnungshaftes hat, passend dazu die Stadtkapelle, die "Always on my mind" intoniert. Mehr geht nicht in Gammertingen, weil alles andere Luxus wäre: eine Stadthalle zum Beispiel, die seit vielen Jahren geplant und immer wieder verschoben worden ist. Der Neue heißt Andreas Schmidt, ist 39 Jahre alt, Geschäftsführer bei der Diakonie ("Die Zieglerschen") gewesen und, gemessen an den Gratulationen, ein Sonnenstrahl über der Schwäbischen Alb.

Merkel, Mercedes, Großbrand – alles Göggel

Vor seiner Zeit ist die 6.431-Seelen-Gemeinde im Landkreis Sigmaringen nicht weiter aufgefallen, außer durch drei Ereignisse, die allesamt mit Reifen-Göggel, dem wichtigsten Unternehmen am Ort, zu tun hatten: Angela Merkel war am 14. Februar 2011 zum Wahlkampf dort. Am 3. Januar 2014 heiratete Bürgermeister Jerg im Oldtimer-Mercedes 300 von Firmenchef Göggel. Und am 23. Juli 2022 brannte das Lager von Deutschlands größtem Reifenhändler lichterloh (Kontext berichtete).

Vor allem Letzteres besorgte die Bürger:innen sehr, weil nicht klar war, ob der Großbrand im Umfeld von 1,5 Millionen Reifen auf die Gemeinde übergreifen würde oder nicht. Es wäre das verheerende Ergebnis eines Feuerwerks gewesen, das Bruno Göggel zu seiner "Protz-Hochzeit" (so die "Bild"-Zeitung) veranstaltete. Es ging gerade noch einmal gut, Göggel meldete einen Schaden von 25 Millionen Euro, Festgast Jerg hatte ein "reines Gewissen" bezüglich der Genehmigung der Knallerei, das CDU-geführte Landratsamt keine Bedenken bezüglich des Brandschutzes. Und schuld war jetzt der Pyrotechniker, der in der heißen Sommernacht nicht sachgemäß hantiert haben soll. Gegen ihn ermittelt die Staatsanwaltschaft Hechingen wegen des Verdachts der fahrlässigen Brandstiftung. Gegen sonst niemanden.

Nun war es kein Geheimnis in Gammertingen, dass der Bruno und der Holger dicke Kumpel waren. Das hat nicht wirklich gestört, weil der größte Steuerzahler auch für die Vereine, die Narrenzunft und die Kirchen gespendet hat (was er jetzt angeblich einstellen will). Aber Göggel und Jerg machten einfach weiter, als wäre nichts geschehen. Im Rathaus wurden seine Erweiterungspläne durchgewinkt: mit zusätzlichen riesigen Hallen, in denen bald Platz sein sollte für zwei Millionen Pneus. Ob Wald in nächster Nähe stand, war unerheblich, auch das Landratsamt bewilligte Baupläne problemlos, auf einem Firmengelände mitten in der Stadt soll ein 40.000-Liter-Benzintank für den Eigenbedarf installiert werden. In seinem Jahresrückblick im Amtsblatt erwähnt der Schultes den Großbrand mit keiner Zeile. Gammertingen ist Göggel und umgekehrt, und das ist gut so.

Einer steht gegen die kollektive Kungelei auf

Wäre da nicht Lothar Wasel gewesen, es hätte womöglich ewig geklappt mit der kollektiven Kungelei. Der 75-jährige Jurist ist der Stachel im Fleisch der Kommunalpolitik, ein Chronist des schwarzen Filzes, in dem Sozialdemokraten und Grüne mitverwoben sind, ein Kämpfer für demokratische Gepflogenheiten, die sich als schwierig erweisen, wenn die Macht keine Kontrolle kennt. Der Weißbart ist natürlich auch ein Rechthaber, der einen Pachtvertrag mit der Wahrheit hat.

Für die "Schwäbische Zeitung", das Organ mit der örtlichen Deutungshoheit, wird daraus schnell ein "Dauernörgler", der "hemmungslos Kritik" übt, vor allem an seinem "Erzfeind" Jerg. Über Jahre streitet sie sich mit ihm, allerdings nicht auf Grundlage abgedruckter Leserbriefe, sondern via Mailbotschaften der Redaktionsleitung in Sigmaringen, in denen ihm mitgeteilt wird, dass sie nicht gedenke, seine Meinung zu drucken beziehungsweise überhaupt noch zu antworten – "egal wie viele E-Mails Sie noch schreiben werden". Ähnlich ergeht es seinen Strafanzeigen und Dienstaufsichtsbeschwerden gegen den Bürgermeister und das Landratsamt.

Dass Wasel Anlaufstelle für viele wird, die der Kungelei überdrüssig sind, bleibt der Zeitung für christliche Kultur und Politik offenbar verborgen. Der Mann saß ja nur 25 Jahre lang im Gemeinderat, meist als einzige Opposition.

Der Wind of Change beginnt mit dem neuen Jahr, aber nicht so, wie Platzhirsch Jerg es sich gedacht hatte. Er hatte beschlossen, bei der Wahl am 5. März 2023 noch einmal anzutreten, zum vierten Mal. Um auch die jungen Menschen zu erreichen, lädt er per Postkarte zu "Pizza und Politik" ein – über die im Einwohnermeldeamt gespeicherten Adressen, und schon hat er wieder Wasel an der Hacke. Dessen Vorwurf: Missbrauch geschützter Daten. Das wiederum mochten Rathaus und Landratsamt ("keinerlei Verstöße") nicht bestätigen, und trotzdem begann die "Schwäbische" langsam vom Glauben an Jerg abzufallen. In den Berichten häuften sich Zweifel an seiner Innovationskraft, der Amtsinhaber gerate zunehmend in die Defensive, hieß es, reagiere gereizt. Wasel erzählt, Jerg habe einer städtischen Angestellten gekündigt, weil sie ihm die Hand gegeben habe. Das deutet auf blankliegende Nerven hin.

Der Wahlabend wird für den Ewig-Bürgermeister zum Desaster. Er kommt noch auf 26 Prozent, sein Kontrahent Andreas Schmidt, der gerade mal zwei Wochen wahlgekämpft hat, erreicht 66. Am Ort wird erzählt, sofort danach habe Jerg alle Vereinsmitgliedschaften gestoppt, sein Haus zum Verkauf ausgeschrieben, der Stadt eine Abschiedsfeier und der "Schwäbischen Zeitung" ein Abschiedsinterview verweigert.

Es muss eine sehr bittere Niederlage gewesen sein. Und das auch noch gegen einen Widersacher, der ihm im Grunde wie ein Wiedergänger des verhassten Wasel erscheinen musste: Andreas Schmidt ist dessen Patenkind. Manche meinten gar, er sei dessen Marionette, his masters voice.

Der Neue erklärt Göggel die Demokratie

In der Tat, sagt der Neu-Bürgermeister, verbinde die Familien Schmidt und Wasel eine "tiefe Freundschaft" seit Jahrzehnten. Lehrer und Juristen, alles aufgeklärte Demokraten. Da habe es nahe gelegen, Freund Lothar zu fragen, ob er die Patenschaft übernehmen wolle. Denken könne er aber selber, genauso wie er über die Kandidatur entschieden habe. Sagt's und freut sich über die vielen Glückwünsche derer, die den "Andi" noch aus der Schule kennen, als er ihr Sprecher war. Heute könnte er eine "Projektionsfläche" für ihre Wünsche sein, vermutet der 39-jährige Gammertinger, für ihre Erwartungen, auf deren Erfüllung sie 24 Jahre warten mussten. Das wird schwer.

Als erstes hat er vergangene Woche Bruno Göggel ins Rathaus eingeladen, damit sie sich richtig verstehen. Wenn man ihm folgt, dann hat das Gespräch mit dem Reifen-Millionär demokratietheoretischen Seminarcharakter gehabt. Er habe klargemacht, sagt Schmidt, dass ihre Rollen und Interessen unterschiedlich seien, also jene von der Kommune und jene von Reifen-Göggel. Dass sie also nicht immer "deckungsgleich" seien, vor allem dann nicht, wenn sie nur einer Seite dienten. Sein erstes Interesse, so will es der Amtseid, müsse sein, Schaden von der Gemeinde abzuwenden, und dafür bedürfe es einer Beteiligung aller. In einer offenen Kommunikation. Bruno Göggel hat das bisher anders gehandhabt. Presseanfragen beantwortet er nicht, selbst die "Schwäbische" bekommt kein Interview.

Ein zweites Interesse, neben der Befriedigung des Gemeinwohls, ist leichter zu bedienen. Der Enddreißiger will Jergs Öl-Schinken im Amtszimmer gegen fröhliche farbige Bilder austauschen. Schmidt sagt, die Leute sollen doch gerne ins Rathaus kommen.


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3 Kommentare verfügbar

  • Philippe Ressing
    am 23.06.2023
    Antworten
    Chapeau! So sieht Lokaljournalismus aus! Hallo SWR, vielleicht mal eine Vorlage für einen bitterbösen Fernsehfilm!
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