Diese rechnerische Mehrheit bleibt nicht nur unter ihren Möglichkeiten, sondern auch weit hinter dem, was angesichts des engen Zeitfensters zur Einhaltung des 1,5-Grad Ziels klimapolitisch zwingend geboten wäre. Weder SPD noch Grüne wollen sämtliche Bauvorhaben und Projekte unter Klimavorbehalt gestellt sehen. Die SPD, an der Seite der CDU, befürwortet die Bebauung wertvoller Grünflächen an den Rändern der Stadt und vertritt – trotz schrumpfender Stadtbevölkerung – die in vielen Großstädten widerlegte Theorie, dass mehr bauen dazu führe, die Mieten zu deckeln.
Sogar der Bund Deutscher Architekten (BDA) fordert von der Politik zum wiederholten Mal, aus Klimaschutzgründen Abbruch und Neubau soweit wie irgend möglich zu unterlassen und stattdessen Bestehendes instand zu halten und zu sanieren. In der Stadtspitze und bei der großen Mehrheit im Rat verhallt all das so ungehört wie die alarmierenden Diagnosen der Klimawissenschaft – denn die "marktgerechte Stadt" muss ständig abbrechen, bauen und betonieren, damit das "Kapital, das scheue Reh" nicht flieht. Und wenn immer mehr Starkregen das Bahnhofsumfeld unter Wasser setzt – dann werden von der Stadtspitze eben angeblich "verstopfte Gullys" in der Schillerstraße zur Ursache des Problems erklärt. Dieses Ausmaß der Unfähigkeit von Politik zu einer Selbstkorrektur nach falschen Weichenstellungen hätte ich früher nicht für möglich gehalten.
Der Filz verhindert das Einräumen furchtbarer Fehler
Es sind sich wechselseitig verstärkende und bestätigende Strukturen, die das hervorbringen, sprich die enge Verflechtung mit Investoren und Konzernen, der Jahrmarkt der Eitelkeiten, der es Bürgermeistern und sogar Stadträten fast unmöglich macht zuzugeben: wir haben furchtbare Fehler gemacht. Und es ist ein in Jahrzehnten neoliberaler Dominanz geformter Verwaltungsapparat, der sogar die wenigen mit sozialökologischer Mehrheit gefassten Beschlüsse auszubremsen in der Lage ist.
So den im Juli 2017 gefassten Vorsatz, "Eine lebenswerte Stadt für alle" zu schaffen. "Stuttgart laufd nai" hieß das Konzept, mit dem die Stadtmitte zwischen den großen Stadtautobahnen des Cityrings weitgehend autofrei gemacht werden sollte. Seit vier Jahren wird jetzt "untersucht", Vieles einfach ignoriert, wegmoderiert oder liegen gelassen. Ein bisschen blaue Farbe auf der Straße, ein paar mit Pflanzkübeln und Fahrradständern bestückte Parkplätze, das war’s. Auch das nur, weil es den Druck von der Straße gab.
Und wie war das nochmal im Frühjahr 2018 in der Wilhelm-Raabestraße 4? Die HausbesetzerInnen bekamen außer von unserer Fraktion keinerlei Unterstützung aus dem Rat. Nur die starke, vorwiegend freundliche Medienberichterstattung zwang die Gemeinderäte, die bis dahin ignorierte und heruntergespielte Not der Betroffenen wenigstens nicht länger zu leugnen. Damit daraus eine Politik wird, die Mieten deckelt und Zweckentfremdung und Leerstand beendet statt Investoren zu fördern, braucht es mehr davon.
Auch wenn ich nach zwölf Jahren im Stadtrat sage, dass es für mich jetzt genug ist mit den vielen fremdbestimmten Gremien- und Terminzwängen in diesem zähen Interessen-Geflecht, das nicht den Interessen der Mehrheit der Stuttgarter entspricht: das ist keine verbitterte Absage an Kommunalpolitik. Ich habe meine Stadt unendlich viel besser kennengelernt, konnte mit außerparlamentarischen Initiativen und sozialen Bewegungen zusammen arbeiten, sie unterstützen und spannende Persönlichkeiten erleben.
3 Kommentare verfügbar
Andrea K.
am 11.07.2021Ich habe Dich dafür bewundert, dass Du immer irgendwie Ruhe bewahren - oder zumindest ausstrahlen konntest. Du hattest Mitgefühl mit jedem, der im S21-Getümmel seine Naivität verlor und sich der harten Realität der politischen Arbeit…