Über den anstehenden Termin am Stuttgarter Amtsgericht wurde im Vorfeld quer durch die Zeitungslandschaft berichtet. Stuttgarts OB-Kandidat Hannes Rockenbauch steht vor Gericht – wuhu! Aber nicht mal "Bild" hat es geschafft, nach der Verhandlung eine ordentlich despektierliche Geschichte über den Öko-Sozialen draus zu machen, und das will was heißen. Stattdessen titelte das Blatt milde: "Gericht spricht OB-Kandidat Rockenbauch schuldig", untermalt mit einem Zitat desselben: "Unsere Aktion war ein politischer Erfolg. Die Hausbesetzung und die mediale Aufmerksamkeit haben den Gemeinderat dazu bewegt, einen Wohnungsbau-Fonds mit 150 Millionen Euro aufzulegen. Zuvor ist jahrelang gar nichts passiert."
Am vergangenen Freitag saßen Rockenbauch, sein SÖS-Kollege Luigi Pantisano und Tom Adler von der Linken auf der Anklagebank, weil die drei 2018 in einem besetzten Haus 42 Minuten lang ein Gespräch mit einer Besetzerin gefilmt hatten. In der Reihe "Rockpolitik.tv", einem Gesprächsformat, in dem Rockenbauch und Pantisano seit Jahren Themen diskutieren, die in der Stadt auf den Nägeln brennen. In diesem Falle vor Ort in der Wilhelm-Raabe-Straße 4, einem der ersten besetzten Häuser in der Landeshauptstadt seit den Neunzigerjahren. Zwei Ex-AfD-Stadträte witterten damals die Chance, den drei politischen Gegnern Probleme ans Bein zu binden und erstatteten Anzeige. So bekamen auch die in London lebenden Hauseigentümer Wind von der Video-Aktion, der Staatschutz ermittelte (Kontext berichtete), am vergangenen Freitag wurde das Ganze also vor Gericht verhandelt.
Tatsächlich ist die Wilhelm-Raabe-Straße 4 seit mehr als zwei Jahren ein Politikum in der Landeshauptstadt. "Das Haus im Stuttgarter Süden befindet sich im Besitz einer englischen Familie. Keine armen Schlucker, die jeden Euro dreimal umgedreht haben, um sich ein Dach überm Kopf zu finanzieren, sondern durchaus wohlhabend: Einer der drei Eigentümer war nach Recherchen von Kontext Präsident einer internationalen Investmentbank", berichteten wir kurz nach der Zwangsräumung im Mai 2018. "Wehret den Anfängen", sagte Baden-Württembergs CDU-Innenminister Thomas Strobl damals, es dürfe keine "rechtsfreien Räume" geben, "da haben wir heute in Stuttgart ein klares Zeichen gesetzt."
Bis heute steht das Haus fast leer
Besetzt wurden zwei leerstehenden Appartements von zwei Familien, die seit längerem keine bezahlbare Wohnung finden konnten. Zum einen aus der Not heraus, zum anderen auch als symbolischer Akt gegen unverschämt hohe und steigende Mietpreise, gegen Immobilienspekulation und Wohnungsnot in der Stadt, die in puncto Mietwucher mittlerweile München überholt hat.
Die Presse berichtete ausgiebig über die Besetzung, das Fernsehen war im Haus, diverse JournalistInnen. Die Stuttgarter Zeitung titelte: "Weckruf für das Rathaus" und erklärte: "Wer juristisch den Stab über den Aktivisten bricht, nach der Polizei ruft und dann zur Tagesordnung übergehen will, sollte kurz das Grundgesetz zur Hand nehmen. Im Artikel 14 ist festgehalten, dass Eigentum verpflichtet und sein Gebrauch dem Wohl der Allgemeinheit dienen soll." Linken-Chef Bernd Riexinger war da, sogar ZDF-Moderator Claus Kleber zeigte Verständnis. Solidaritätsdemos, Kundgebungen diverser Bündnisse und wohnungspolitischer Akteure in der Stadt und nicht zuletzt die drei Stadträte mit ihrem Video hatten es damals geschafft, eine breite Diskussion rund um das Thema Wohnen anzustoßen, die bis heute andauert und noch immer einer Lösung bedarf.
Heute, Jahre später also, sind die meisten Mieter des Hauses gekündigt, gegen die BesetzerInnen gab’s Gerichtsverhandlungen samt Schuldsprüchen. Das Haus indes steht bis auf eine Wohnung leer, ist teils mit Brettern vernagelt, im Flur hängen Kameras, die Briefkästen sind zugeklebt. Seit langem heißt es, es solle saniert und dann wieder vermietet werden, passiert ist bisher nichts. Am 28. September, erklärt die Stadt Stuttgart auf Anfrage, sei nun die Baugenehmigung erteilt worden. Man darf gespannt sein.
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Bruno Neidhart
am 06.11.2020