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Diese Wohnung ist besetzt

Diese Wohnung ist besetzt
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Zwei Familien sind in leerstehende Wohnungen eingezogen. Ohne Mietvertrag. Hausfriedensbruch ist eine Straftat, betont die Stuttgarter Stadtverwaltung. Sympathisanten betrachten die Besetzung als längst überfällige Protestform gegen Gentrifizierung und Mietwucher. Ein Besuch vor Ort.

Rosevita ist entwurzelt worden. "Wie ein Häufchen Asche" hat sie sich gefühlt, nach zwei Jahren vergeblicher Wohnungssuche. Sie zündet sich eine Zigarette an und erzählt. Von dem Gefühl, auf Besichtigungsterminen mit vierzig anderen in einem kleinen Zimmer zusammengedrängt zu stehen, wenn "man so vielen anmerkt, wie verzweifelt sie suchen". Davon, wie sich Mieter entblößen und erniedrigen müssen, um ihre Chancen auf dem Markt zu verbessern. Schufa, Einkommensnachweis, und eine intime Selbstauskunft, die freiwillig genannt wird, und ohne die man es gleich vergessen kann, sofern sie vom Vermieter in spe verlangt wird.

Schlimmer noch sei es aber, berichtet Rosevita und seufzt tief, Tag für Tag Anfragen rauszuschicken und überhaupt keine Antwort zu bekommen. Das sei leider die Regel: "Viele hören 'Mutter mit Kind', und das genügt dann schon: Du bist raus!" Jetzt befindet sie sich in einer Situation, die sie noch vor wenigen Monaten für unmöglich gehalten hätte: Vergangenen Samstag sind sie und ihr neunjähriger Sohn zu Hausbesetzern geworden.

Der Kleine mit den wuscheligen Locken sitzt draußen im Hof in Stuttgart-Heslach und ruft triumphierend: "Uno, Uno!" Dann muss er sich, mit weit heruntergezogenen Mundwinkeln von ein paar Spielverderbern Anfang 20 anhören, dass er keine zwei Karten auf einmal legen dürfe. Rund 20 AktivistInnen aus der linken Szene sitzen auf Bierbänken, im Hintergrund läuft Ska, und auf einem Tisch liegen eine Knabberbox und ein paar Salzstangen in Buchstabenform. Ein A, ein C, noch ein A und ein B.

22 Jahre lang lebte Rosevita mit ihrem Mann und später mit Kind in einer Wohnung im Stuttgarter Westen, dann meldete der Vermieter Eigenbedarf an. In einem Haus, in dem zeitgleich drei andere Wohnungen leerstehen, für einen Mann, der im großen Stil Immobilien besitzt. Jetzt wird der Altbau "modernisiert", wie es meistens heißt, wenn bezahlbare Mietobjekte zu Luxus saniert werden. Eine der Wohnungen, mit dem gleichen Grundriss wie ihre alte, hat Rosevita neulich für fast den doppelten Preis auf einem Immobilienportal entdeckt. Die neue Kaltmiete, fast doppelt so teuer: 1470 Euro. Sie fasst sich an den Kopf: "Wer soll das denn bezahlen?"

Leerstand und Potenziale

Von 11 000 leerstehenden Wohnungen in Stuttgart spricht das Aktionsbündnis „Recht auf Wohnen“. Diese Zahl stamme aus dem Zensus 2011, sagt ein Sprecher der Stadt auf Anfrage, und sei inzwischen veraltet: „Aktuell schätzen Experten den Wert auf unter ein Prozent.“ Das entspricht etwa 3000 Wohneinheiten, allerdings könne es "niemand genau beziffern“ und die Zahl schwanke täglich. Klar ist hingegen: Etwa 10 000 neue Wohnungen könnten kurzfristig in Stuttgart entstehen. „Theoretisch sofort“ oder in einem Zeitraum von drei Jahren. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie des Deutschen Instituts für Urbanistik. Der Befund stammt bereits aus dem Herbst 2016. Von den gut 6500 Wohnungen, die in den vergangenen sieben Jahren in Stuttgart gebaut wurden, sind nur 151 zur Sozialmiete zu haben, sprich: zu einem Quadratmeterpreis von weniger als 8,50 Euro. (min)

Von den 20 teuersten Wohnstädten Deutschlands liegen acht im Großraum Stuttgart. Die baden-württembergische Landeshauptstadt landet im bundesweiten Vergleich hinter München und, ganz knapp, hinter Frankfurt. Allen Städten gemein sind massiv steigende Mieten, bei einer ohnehin schon angespannten Lage. Seitdem die Bundespolitik in den Neunzigerjahren die Förderprogramme für Sozialen Wohnungsbau eingestellt hat, haben viele Städte große Teile ihres Wohnungsbesitzes an private Investoren veräußert. In Stuttgart sind aus 22 000 preisgünstigen Sozialwohnungen für einkommensarme Menschen 14 500 geworden, innerhalb von nicht einmal drei Jahrzehnten.

Zweckentfremdungsverbote und die Mietpreisbremse konnten der voranschreitenden Gentrifizierung nicht Einhalt gebieten. "Ich finde das pervers", sagt Adriana, die ebenfalls zu den Heslacher HausbesetzerInnen gehört, "wie sehr hier am Wohnungsmarkt ein menschliches Grundbedürfnis für Profite verwertet wird." Die junge Mutter sucht schon seit ihrer Schwangerschaft nach einer bezahlbaren Bleibe. Seit vergangenem Samstag wohnt sie mit ihrem Freund und dem anderthalbjährigen Baby in einer kleinen Dreizimmer-Wohnung, ohne gültigen Vertragsabschluss. "Freiwillig gehen wir nicht", betont sie. Sie wären auch bereit, Miete zu zahlen, "eben zu fairen Preisen".

Ob das klappt, ist fraglich: Gegen das BesetzerInnenkollektiv liegt bereits eine Stafanzeige vor. Die Eigentümerin war am frühen Montagnachmittag mit Immobilienverwaltern und Polizisten vor Ort. Einer der Beamten, erzählt Rosevita, habe betont, keine schusssichere Weste zu tragen. Bei seinen KollegInnen draußen sei das jedoch anders. Rosevita ist angefressen, "immer dieses Einschüchtern und Drohen, um uns klein zu halten". Nach dem Motto: Macht einfach, was wir wollen, dann müssen wir euch auch nicht zwingen.

Die Besetzung ist für Rosevita eine Verzweiflungstat, eine Ermächtigung mangels Alternativen. Zwei Jahre lang ist sie mit ihrem Sohn bei der Verwandtschaft untergekommen. Zu zweit, auf 16 Quadratmetern. Natürlich fürchtet sie nun Repression: "Der Gedanke, auch nur eine Stunde meine Freiheit zu verlieren, ist wie ein Würgegriff für mich". Doch als am Samstag das Aktionsbündnis "Recht auf Wohnen" mit 200 Menschen durch die Stuttgarter Straßen zog und auf die leerstehenden Wohnungen in der Wilhelm-Raabe-Straße hinwies, "hab ich mir gedacht: Jetzt oder nie!" Die leeren Räume ließen sich betreten, ohne ein Schloss knacken zu müssen, und dann ging alles ruckzuck. Sogar Stadträte der SÖS-Linke-PluS-Fraktion im Stuttgarter Gemeinderat hätten beim Möbelschleppen mitgeholfen.

Seitens der Stadtverwaltung heißt es hingegen auf Anfrage: "Wenn es sich bei der Aktion tatsächlich um Hausfriedensbruch handelt, ist dies eine Straftat." Das sei, wie ein Sprecher mitteilt, "immer der falsche Weg, ein Thema zu besetzen." Hausbesetzerin Adriana sieht das naturgemäß anders. Sie wolle ein Zeichen setzen gegen einen Staat, der inzwischen weniger menschliche Würde schütze als das Privateigentum von Vermögenden. Ungehorsam sei dabei ein Mittel, das sie befürworten könne: "Ich kann allen Betroffenen nur raten, es uns gleichzutun. Dafür stehen wir mit Gesicht und Namen."

Und Sympathisanten gibt es durchaus. "Wir finden das super!", sagt Nachbarin Fatima, die im zweiten Stock wohnt, und selbst befürchtet, zusammen mit ihrer Familie durch Luxussanierungen verdrängt zu werden: seitens der Hausverwaltung seien bereits Überlegungen laut geworden, aus den fünf vorhandenen Wohnungen drei zu machen, "dann könnten wir uns unmöglich leisten, hier weiter zu wohnen". Draußen auf den Straßen hängen Transparente mit Solidaritätsbekundungen, auf einem steht: "Lieber Häuser besetzen als fremde Länder". Adriana erzählt, sogar ein Makler sei da gewesen, "mit Anzug und richtig seriös, der hat erst ein bisschen rumgedruckst, was er beruflich macht, weil er ja auch zu denen da" - sie rollt die Augen - "gehört". Und selbst der habe dann gesagt: "Endlich traut sich mal jemand."

Ähnlich sieht das auch Bernd Riexinger. Der Bundesvorsitzende der Linkspartei war am Sonntag zu Besuch vor Ort: "Diejenigen Menschen, die mit Wohnraum spekulieren, müssen unter Anklage gestellt werden. Und nicht diejenigen, die auf den Skandal aufmerksam machen", hat er da gesagt. Zur großen Freude des BesetzerInnenkollektivs und der etwa 150 Gästen, die zum Hoffest vorbeigeschaut haben.

Dort geht es munter zu. Und Rosevita hofft, dass es so bleibt. Dass sie hier wohnen können. Abgesehen von symbolischen Aktionen handelt sich um die erste Hausbesetzung in Stuttgart seit den Neunzigern, diesmal geht es tatsächlich ums Wohnen. Nach einem Jahr Leerstand sind die drei Zimmer im Erdgeschoss schon nach zwei Tagen eingerichtet. Spärlich, aber gemütlich. Es gibt ein rotes Regal, eine kleine Couch, viele Fotos an den Wänden und einen etwas zerfledderten Lampion, der von der Decke baumelt. Im Schlafzimmer liegen ein paar Matratzen, die zusammen gerückt sechs Menschen Platz bieten. Sie liegen auf einem schicken Laminatboden, ohne einen einzigen Kratzer. Geht es nach den Vorstellungen der Eigentümer, ist die Mietsache dringend sanierungsbedürftig.

Wie es nun weiter geht? Die neuen BewohnerInnen sind entschlossen zu bleiben.


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2 Kommentare verfügbar

  • Andrea K.
    am 06.05.2018
    Antworten
    Es ist schlimm, wie weit wir gekommen sind. Und wie lang wir der Politik applaudiert haben, weil wir dachten (glauben wollten?), sie wolle Mieter schützen. Dabei wurde nur das Geld der Anleger geschützt.

    Meine Großeltern haben nach Kriegsende noch an der echten Schaffung von Wohnraum mitgewirkt.…
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