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Zocker im Kaffeesatz

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In einem Punkt wären sich Wolfgang Reinhart (CDU), Andreas Stoch (SPD) und Hans-Ulrich Rülke (FDP) sofort einig: dass Stuttgart 21 gebaut werden muss. Auf den meisten anderen Feldern streiten sich die drei Fraktionschefs. Und dennoch reden sie von einer "Deutschland-Koalition" – um Winfried Kretschmann irgendwann zu stürzen.

Wer lesen kann und will, ist im Vorteil. Das gilt auch für Wahlprogramme und die aktuellen Parteitagsbeschlüsse von Schwarzen, Roten und Gelben. Oder für Protokolle der Plenardebatten im Landtag. Wie an einer Perlenschnur reihen sich die Punkte aneinander, bei denen Kompromisse in schwarzrotgelben Koalitionsverhandlungen nahezu ausgeschlossen scheinen. Das Bildungszeitgesetz beispielsweise, das die SPD in der grün-roten Ära initiiert hat und auf das sie so stolz ist, wird von der FDP als "Bürokratiemonster" verächtlich gemacht, das sogleich abgeschafft werden muss.

Die Polizeireform, noch eine zentrale rote Errungenschaft der Jahre 2011 bis 2016, hat der FDP-Fraktionschef vor einem Jahr für offiziell gescheitert erklärt. Beim Frauenanteil an der Professorenschaft fallen die Liberalen sogar hinter die Union zurück: "Wir verfolgen das Ziel, dass bis zum Jahr 2021 ein Frauenanteil von mindestens 30 Prozent bei den Professuren erreicht wird", heißt es bei der CDU. Die FDP lehnt dagegen "starre Quoten und Zielvorgaben" ab. Die Sozialdemokraten wiederum verlangen per Programm nicht nur Quoten, sondern sogar "Sanktionen bei Missachtung".

Wie im Brennglas lässt sich die Unvereinbarkeit der Positionen in der Schulpolitik betrachten. Der Landesregierung hält der rote Bildungsexperte Stefan Fulst-Blei regelmäßig vor, die Reformen der Vorgängerkoalition zurückzudrehen und abzuwürgen. "Die Grünen haben sich bildungspolitisch aufgegeben", so der Mannheimer Abgeordnete kürzlich im Landtag. Weil den "Fortschritts-Killern" im CDU-geführten Kultusministerium kein Einhalt geboten werde, will er künftig nur noch von "schwarz-grün" sprechen. Und mit diesen rückwärtsgewandten Schwarzen soll es trotzdem ein Dreierbündnis geben, das Winfried Kretschmann von der Macht vertreibt? SPD-Fraktionschef Andreas Stoch schließt den fliegenden Wechsel aus der Oppositionsrolle hin zu Schwarzen und Gelben nicht aus. Oder er tut bloß so, um für Unruhe zu sorgen.

Die Liberalen sind sofort dabei, mit ganz viel FDP drin

"FDP und SPD im baden-württembergischen Landtag sind grundsätzlich bereit, einen CDU-Kandidaten zum Ministerpräsidenten zu wählen und eine so genannte 'Deutschland-Koalition' zu bilden", war vor wenigen Tagen auf FAZ online zu lesen. Anlass dazu bot die Niederlage der CDU-Kandidatin Sabine Kurtz für den Posten der Landtagsvizepräsidentin im ersten Wahlgang. Der Satz elektrisierte viele LandespolitikerInnen, vor allem in der größeren Regierungsfraktion. Und in der kleineren hätten sich, so wird erzählt, etliche Volksvertreter auf die Schenkel geklopft. In der unionsinternen Gerüchteküche wurde kolportiert, eigene Abgeordnete hätten Kurtz das Ja verweigert, um diese Nein-Stimmen den Grünen in die Schuhe schieben und so die klimatischen Störungen zwischen den Koalitionären verschärfen zu können. Die waren offen zutage getreten, als die CDU-Fraktion das Versprechen einer Wahlrechtsreform bis 2021 so ungeniert brach, dass andere Regierungen daran unverzüglich kollabiert wären. 

Rülke nahm die Steilvorlage, wenn es eine war, sofort auf: Voraussetzung für ein Dreierbündnis sei "die Umsetzung zentraler inhaltlicher Vorstellungen der FDP". Dazu gehörten keine Diesel-Fahrverbote, Entbürokratisierung für die Wirtschaft und eine Stärkung der beruflichen Bildung. Und dann schickte er gleich noch eine mit Zahlen versehen Prognose hinterher, wonach die Wahrscheinlichkeit, dass Grün-Schwarz die restlichen drei Jahre bis zum Ende der Legislatur hält, unter der 50-Prozent-Marke liege.

Liberale Kaffeesatzleserei und zugleich Politpoker, dem die vielen Neulinge in der stark angewachsenen Grünen-Fraktion mangels Erfahrung nicht so recht gewachsen sind. Gerade deshalb, weil seit Wochen solche Unkenrufe ausgerechnet aus dem Staatsministerium kommen. Kretschmann selbst winkt mit dem Zaunpfahl einer angeblich drohenden Deutschlandkoalition, um aufmüpfige Stimmen im eigenen Laden zum Schweigen zu bringen. Die CDU habe schließlich eine Alternative zu Grün-Schwarz, heißt die einschüchternde Formel. Adressat ist auch die Grüne Jugend mit ihren ständigen Mahnungen, Profil zu zeigen, etwa bei der Flüchtlingsthematik. Gern erinnert der Regierungschef an das Schicksal der österreichischen Schwesterpartei, die unlängst den Wiedereinzug ins nationale Parlament versemmelt hat - mit unter vier Prozent und nach einem amateurhaften Gerangel mehrerer Ego-Shooter beim Spitzenpersonal.

Ein schwarzer Vogel über der Villa Reitzenstein

Dabei würde ein Blick in die Landesverfassung genügen, um das schwarz-rot-goldgelbe Deutschlandgespenst, das ohne Vorbild wäre in der Nachkriegsgeschichte, zurück ins Reich der Fabel zu schicken. Artikel 54 zufolge kann der Landtag einem amtierenden Ministerpräsidenten das Vertrauen nur dadurch entziehen, "dass er mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen Nachfolger wählt". Der Gedanke, der manche schwarze Herzen höher schlagen lässt, nämlich Wolfgang Reinhart im Handstreich zum neuen Hausherrn der Villa Reitzenstein zu machen, um sich des grünen Publikumsmagneten Kretschmann rechtzeitig vor dem nächsten regulären Wahlgang 2021 zu entledigen, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als äußerst waghalsig.

Reinhart müsste auf 72 Stimmen der 143 Abgeordneten zählen können. Die drei genannten Fraktionen kommen aber nur auf 75. Während die zwölf FDP-Abgeordneten vermutlich geschlossen für den Professor aus dem Main-Tauber-Kreis stimmen würden, sieht es bei den beiden anderen anders aus. Sogar von den 44 ParlamentarierInnen der CDU haben etliche Unbehagen geäußert, weil mit einem solchen Manöver auch Landeschef Thomas Strobl massiv beschädigt würde, erst recht, wenn es schiefgehen sollte.

Und die 19 Köpfe der SPD-Fraktion müssten sich offen gegen die eigene Parteispitze stellen. Denn prompt hat Landeschefin Leni Breymaier eine Deutschland-Koalition als "Schnapsidee" bezeichnet. Es könne doch nicht sein, "dass die CDU in Anbetracht ihrer Verweigerungshaltung bei der Wahlrechtsreform im Falle des Falles mit der Regierungsführung betraut werde". Sollte die grün-schwarze Ehe je auseinandergehen, dann gibt es für Breymaier nur eine Lösung: Neuwahlen. Und der Kleine Parteitag am vergangenen Wochenende in Bruchsal hat den Eintritt in eine Koalition an die Bedingung einer Wahlrechtsreform geknüpft – und damit faktisch auf absehbare Zeit erledigt.

Eines ist unstrittig: Kretschmanns Alter

Aber was zählen schon Fakten? Die Grünen-Skeptiker in der CDU-Fraktion wollen sich so schnell nicht geschlagen geben. Herumgereicht wird eine Sammlung von Themen, bei denen beide Parteien uneins sind. Sie reicht von der Landesbauordnung bis zum Dieselfahrverbot. Und natürlich liefert auch Kretschmanns Alter Munition. Mitte Mai wird er 70. Im Landtagswahlkampf 2016 hatten von der CDU gestreute Gerüchte über seinen schlechten Gesundheitszustand ihr armseliges Ziel verfehlt. "Am Alter kann aber keiner herumdeuteln", triumphiert jetzt ein CDU-Abgeordneter aus Nordwürttemberg.

Die Weisheit, die damit nach landläufiger Ansicht einhergeht, müsste allerdings noch um sich greifen. Denn einen ersten Punktesieg konnten die drei Fraktionsvorsitzenden im Spiel mit dem Feuer schon verbuchen. Nicht nur, weil die Mobiltelefone heiß liefen zwischen Regierungsmitgliedern und der Parteispitze. Gerade mit der oft gepriesenen Souveränität des Ministerpräsidenten ist es aktuell nicht zum Besten bestellt. Vielmehr wird der Zauderer-Spruch "Wenn ich nicht mehr weiter weiß, gründ' ich einen Arbeitskreis", gleich vielfach zur Anwendung kommen.

Vereinbart ist, dass der Regierungschef künftig Runden zu strittigen Fragen vorsteht, in denen MinisterInnen und Abgeordnete sitzen, um Differenzen zu besprechen und in der Theorie idealerweise auszuräumen, um gemeinsam mit den aufmüpfigen Grünen-Landesvorsitzenden "Zukunftsprojekte" zu identifizieren. Nicht viel Phantasie gehört allerdings dazu, sich auszumalen, wie die Beratungen in der Praxis auch damit einhergehen werden, Strittiges durchzustechen und die Autorität Kretschmanns weiter zu untergraben.


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