Ohnehin ist völlig unklar, was passiert auf dem rechten Flügel der Partei, falls die sogenannte Neuaufstellung, die monatelangen Diskussionen, die jetzt an der Basis geführt werden sollen, am Ende mit einer Verschiebung nach links einhergehen. Also dorthin, woher Nahles kommt. Konkret: Was bleibt von Hartz IV übrig und vom Dogma Schwarze Null? Welchen Stellenwert bekommen Wohnungsbau, Infrastruktur und Armutsbekämpfung unter der neuen Parteiführung? Als die Jusos in Wiesbaden ganz am Ende des Sonderparteitags entgegen dem Willen der Parteispitze solche und andere Fragen behandelt haben wollen, wird die Spaltung offenbar.
Der Antrag, sich doch inhaltlich festzulegen, scheitert nur knapp. Und Applaus brandet ohnehin immer dann auf, wenn linke Leidenschaft sich Bahn bricht. Vor allem bei Martin Schulz' Auftritt als scheidender Parteichef und seinem flammenden Appell gegen die Rechtspopulisten. Oder bei Nahles selber, die ihre Partei als Hort der "Gerechtigkeit in dieser globalisierten neoliberalen turbodigitalisierten Welt" positionieren will.
Und nicht zuletzt bei Pedro Sánchez, dem Chef der spanischen PSOE, der vor den über 600 Delegierten schwärmte: vom Sozialismus, von der SPD und von Willy Brandt, dem alle SpanierInnen und nicht nur die linken bis heute "zu tiefem Dank verpflichtet sind" für seine Rolle beim Übergang zur Demokratie. Da springt der Funke über. Bis ihn Finanzminister Olaf Scholz eilig wieder austritt mit apparatschikhaften Floskeln wie einem Dank an jene, "die in den vergangenen Jahren sozialdemokratische Politik betrieben haben" oder der onkelhaften Äußerung "Ich glaube, es ist ein Fortschritt, dass wir heute eine Frau wählen".
Melange aus Geschwätz und versuchter WählerInnentäuschung
#SPDerneuern stärkt bisher die Schwächen statt die Stärken. Selbst Generalsekretär Lars Klingbeil findet nichts dabei, die jüngere Vergangenheit noch schlechter zu reden, als sie ohnehin war. Nur um die Zukunftsverheißungen umso heller strahlen zu lassen. Wo früher "zwei, drei Personen beschlossen haben, wer Bundesvorsitzender wird", da soll ab sofort alles ganz anders werden. Als ob es nicht schon früher Mitgliederentscheide gegeben hätte. Und als ob es nicht Aufgabe von Spitzengremien wäre, personalpolitische Weichen zu stellen. Auch die Behauptung, dass "unsere Schubladen leer sind und neu mit Konzepten gefüllt werden müssen", ist dreist. Gegenüber all den GenossInnen, die sich bis hinunter in die Ortsvereine programmatisch ins Zeug legen. Und gegenüber dem interessierten Publikum, das so argwöhnen muss, das Wahlprogramm von 2017 sei ohnehin bloß eine Melange aus Geschwätz und versuchter WählerInnentäuschung gewesen.
133 Seiten inhaltliche Forderungen liegen im neuen Wiesbadener Kongresszentrum auf den Tischen, mit mehr als 40 Anträgen von A wie Arbeitsmarkt- bis V wie Verkehrspolitik. Von wegen leere Schulbladen: Der Ortsverein Stuttgart-Ost setzt sich "bei der Reform der Grundsteuer für eine reine Bodenwertsteuer ein". Die Südwest-SPD hat einen umfassenden siebenseitigen Vorstoß zur Rentenreform vorgelegt. Der Bezirk-Weser Ems ist deutlich weiter als die Erneuerungs-ApologetInnen im Bundesvorstand. Ausformuliert ist nicht nur, dass, sondern wie die Erneuerung geschehen soll – entlang von 15 Punkten. Darunter ebenfalls die Abkehr von der Schwarzen Null für Investitionen etwa in Infrastrukturprojekte, die Erhöhung der Kapitalertragssteuer, die Einführung einer Grundrente "deutlich höher als Hartz-IV" oder Wettbewerbserleichterungen für die Daseinsvorsorge in öffentlicher Hand.
Die Arbeit darf vorerst allerdings nicht fruchten. Denn alle Vorstöße werden erst einmal, wie es offiziell heißt, "zur Aufnahme in den Arbeitsprogrammprozess #SPDerneuern" überwiesen. Genährt wird so der Eindruck, die im 18-Prozent-Umfragetief dümpelnde Partei gehe mehr ängstlich-verzagt als mit munterem Schwung in die Basisarbeit. Hinzu kommt modischer PR-Jargon. Zum Beispiel, als Klingbeil im Berliner "Telefónica Basecamp" den Arbeitsprogrammprozess vorstellt – "bewusst nicht im Willy-Brandt-Haus, sondern in den Eventräumen eines "modernen Telekommunikationsunternehmens". Natürlich live-gestreamt bei facebook, wurden "Barcamps" (zu Deutsch: offene Veranstaltungen) angekündigt und "Speed Boats" (zu Deutsch: Kooperationsplattformen), es wurde "gepitcht" (zu Deutsch: in Konkurrenz präsentiert) und getwittert. "Ich bin 2010 in die SPD eingetreten", postet eine Teilnehmerin, "das ist jetzt mein dritter Erneuerungsprozess, und ich bin gespannt, was noch so passiert."
Fatale Bereitschaft zur Illoyalität
So reiht sich Problem an Problem. Erst recht, weil die SpitzengenossInnen nicht schweigen in Talkshows und im Bundestag, bei Interviews und per Tweet. So ist #SPDerneuern zwangsläufig begleitet von einer Vielstimmigkeit in zentralen Fragen und auf höchster Ebene. Es ist absehbar, dass sich langsam, aber sicher Überdruss aufbaut, weil erst Ende 2019 ein weiterer Bundesparteitag zur "Orientierung für die Zukunft" den Schlusspunkt setzt. Unter eine "Erneuerung", von der die Ulmer Partei-Linke Hilde Mattheis schon jetzt sagt, man könne das Wort bald nicht mehr hören.
7 Kommentare verfügbar
Rolf Steiner
am 26.04.2018