"Genossen, ich bitte: lasst die Tassen im Schrank!", rief 1971 Karl Schiller, Wirtschaftsprofessor und Minister unter den Bundeskanzlern Kiesinger und Brandt, bei einem SPD-Parteitag in Bonn, der drauf und dran war, die Körperschaftsteuer von 51 auf 58 Prozent zu erhöhen, und eine Anhebung des Spitzensteuersatzes auf 60 (!) Prozent vorantrieb. Einige Monate später trat er zurück, weil er – so beschrieb er Brandts Haushaltspolitik – den verschwenderischen Kurs mit der Devise "Nach uns die Sintflut!" nichts zu tun haben wollte.
Fast die Hälfte nimmt ein Fiasko in Kauf
Die Stichworte Schrank, Tassen, Sintflut und Verantwortung führen geradewegs ins Innenleben der deutschen Sozialdemokratie im Jahr 2018. Um dieses ist es nicht gut bestellt. Bei Delegierten zu einem Bundesparteitag handelt es sich in der Mehrzahl nicht um PolitikamateurInnen und -novizInnen, sondern um gestandene (Zeit-)GenossInnen, die als Abgeordnete in Bundestag und Landtagen sitzen oder gesessen haben, in ihren Bundesländern MinisterInnen, StaatssekretärInnen oder Fraktionschefs sind oder waren, einflussreiche KommunalpolitikerInnen oder VertreterInnen des Nachwuchses, der sich ohnehin für besonders schlau und politisch hält. Deshalb muss es selbst Menschen, die mit der SPD eher weniger am Hut haben, mit Sorge erfüllen, dass fast die Hälfte dieser gewählten BasisvertreterInnen sehenden Auges ein politisches Fiasko der Extraklasse in Kauf genommen hat.
Nachdem Angela Merkel die Bildung einer Minderheitsregierung abgelehnt hat und zu einer solchen auch schwerlich gezwungen werden kann, bliebe beim Scheitern in Sachen GroKo nur die Neuwahl. Gegen sie gibt es schon prima vista zwei gravierende Einwände: Wählen lassen, bis es irgendwie passt, ist in einer repräsentativen Demokratie ein höchst problematisches Verfahren, weil es die ohnehin grassierende Politik(er)verdrossenheit zusätzlich befeuern würde; und ähnlich schlecht wäre es, wenn die sich von teilweise hanebüchenen Ressentiments üppig nährende AfD ihr Ergebnis vom September 2017 noch einmal steigern könnte, unter Berufung auf Unfähigkeit und Egomanie der von ihr so genannten Kartellparteien.
Und es gibt ein drittes, noch gewichtigeres Argument gegen einen zweiten Urnengang. Natürlich ist sein Ausgang nicht vorherzusagen, aber die Wahrscheinlichkeit eines strukturell gleichen Resultats beträchtlich. Strukturell gleich – das schließt verschobene Prozentanteile der diversen Parteien selbstverständlich ein. Zugleich hieße es aber, dass das ganze Land sich im Frühsommer 2018 vor dieselbe Situation gestellt sähe wie gegenwärtig mit ihren zwei Varianten: Regierungsfähige Mehrheiten kommen nur mit Jamaika oder einer Großen Koalition zustande.
Politik ist kein Abenteuerspielplatz für Kleinkinder
Wenn die Nein-Sager von Bonn doch noch obsiegen beim Mitgliederentscheid, wären beide Optionen verbrannt. Die eine oder die andere Konstellation müsste nach einer Neuwahl mit aller Gewalt wiederbelebt werden, weil ein Gemeinwesen mit 83 Millionen Einwohnern nun mal eine handlungsfähige Regierung braucht, und zwar nicht erst am Sankt-Nimmerleinstag. Die schon heute trübe Stimmung bei den AkteurInnen und im Publikum würde weiter in den Keller sacken. Der Begriff "Krise", bisher zu Recht noch gemieden, wäre unabweisbar, die Schlagzeilen, weit über die Zeitung mit den großen Buchstaben hinaus, wären entsprechend. Gefallen können an solchen Entwicklungen nur Menschen finden, die völlig politikfern denken und fühlen, Politik mit einem Abenteuerspielplatz für unsere Kleinen verwechseln, die die freiwillig gewählte Verkleidung von No-GroKo-AktivistInnen als Zwerge lustig finden.
Oder es handelt sich um (Zeit-)GenossInnen, die mit den bundesrepublikanischen Zuständen und Machtverhältnissen warum auch immer derart über Kreuz liegen, dass sie "das System" lieber heute als morgen in der Bredouille sehen. Alle Vernünftigen jedenfalls hätten Grund, sich zu fürchten vor solchen Zuständen. Und mitzuhelfen, dass eine derartige Spirale ins Unheil nicht Fahrt aufnimmt. In einer Welt wie dieser, in einem Land wie diesem, ist Stabilität ein hoher Wert; die Symptome von Irrationalismus und polarisierendem Freund-Feind-Denken sind längst zahlreich und unübersehbar.
24 Kommentare verfügbar
Andromeda Müller
am 02.02.2018Altersarmut, Kinderarmut, prekäre Beschäftigungen , Arbeitslosigkeit , Wohnungsnot ,
Steuerhinterziehung , die wievielte ? , sinkendes Realeinkommen , Verdoppelung des "Verteidigungs"haushaltes , uvm.
Wer hat uns verraten ? Sozialdemokraten ! (Nebenbei in noch…