KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Krieg und Frieden

Sprache der Eskalation

Krieg und Frieden: Sprache der Eskalation
|

Datum:

Kann man einen Atomkrieg überleben? Gar gewinnen? Ingar Solty, Referent für Friedens- und Sicherheitspolitik der Rosa-Luxemburg-Stiftung, ist schockiert, wie nah Fragen aus dem Kalten Krieg wieder sind. Ein Gespräch über Deserteure, Moral und darüber, warum er momentan lieber Militärs statt Grünen zuhört.

Herr Solty, der Generalinspekteur der Bundeswehr, Carsten Breuer, hat dem "Spiegel" kürzlich gesagt, jeder sollte sich ein Radio, eine Taschenlampe und eine Batterienvorrat für den Notfall besorgen. Haben Sie das schon gemacht?

Ich bin ein schlechter Prepper. Ich bin sehr schlecht vorbereitet auf die Apokalypse.

Während wir sprechen, fliegen die Flugzeuge für Air Defender über uns, überall wird über Waffen gesprochen und über die Zeitenwende in den Köpfen hin zum Militär. Ich fühle mich nach mehr als einem Jahr mit dem russischen Krieg gegen die Ukraine immer noch wie im falschen Film. Wie geht es Ihnen?

Ich finde es schockierend, wie nah plötzlich Diskurse aus dem Kalten Krieg wieder sind. Schlimmer noch: Dass in Zeitungen mittlerweile diskutiert wird, ob man einen Atomkrieg überleben kann oder sogar, ob man einen Atomkrieg gewinnen könnte. Das ist eigentlich unglaublich.

Ingar Solty, Jahrgang 1979, ist Sozialwissenschaftler und Referent für Friedens- und Sicherheitspolitik am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung, die der Linken nahesteht.

Wenige Tage nach Kriegsbeginn gab es hier in Stuttgart eine große Demo. Gerade waren noch Frieden und Gewaltfreiheit angesagt und plötzlich steht da ein grüner Gemeinderat auf der Bühne und erzählt von Soldaten, die sich stolz dem Feind stellen. Ich war völlig überfahren von dieser Rhetorik.

Das wiederum hat mich nicht überrascht. Wenn der Grüne Bundestagsabgeordnete Anton Hofreiter sagt, "Waffen, Waffen und nochmals Waffen" würden jetzt gebraucht, wundert mich das Verhalten der Stuttgarter Grünen nicht. Der militärisch-interventionistische Turn der Grünen fand ja bereits 1999 mit dem Kosovokrieg statt. Und die Aufrüstungspläne waren ja auch nie ein Geheimnis, stehen schon im Koalitionsvertrag von 2021 und wurden nur am 27. Februar 2022 verkündet. Über dem Koalitionsvertrag der Bundesregierung steht zwar Abrüstung, in den Details ist aber an Abrüstung nur in Bezug auf Waffen gedacht, die Deutschland eh nicht hat, nämlich Atomwaffen.

Außenpolitik sei kein Harry Potter auf der Weltbühne, sagten Sie in einem Interview mit dem Deutschlandfunk. Wie kamen sie drauf?

Es gibt ja diesen Satz "Dem Hammer erscheint jedes Problem als ein Nagel", der häufig genutzt worden ist, um zu sagen, na ja, Leute aus dem Militär haben einen Tunnelblick und sehen für alles nur militärische Lösungen. Mittlerweile denke ich, dass man diesen Satz umdrehen muss. Seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine ist mir aufgefallen, dass die besonnensten Stimmen letztlich aus dem Militär kommen. Von Personen, die sich systematisch mit Fragen von Krieg und Frieden, mit internationalen Sicherheitsfragen befassen. Je weiter Leute davon entfernt sind, umso leichtfertiger reden sie das Wort für militärische Lösungen in Anführungszeichen. Als Teil meiner Arbeit gebe ich Workshops. Da kommen zwei- bis dreimal im Jahr Stabsoffiziere von der Führungsakademie der Bundeswehr in die Rosa-Luxemburg-Stiftung, um linke Perspektiven auf Außen- und Sicherheitspolitik zu hören.

Erstaunlich.

Ja, das ist ein Lehrgang für die höhere Offizierslaufbahn. Die Bandbreite der akzeptierten Meinungen ist da bedeutend größer als momentan in der veröffentlichten Meinung in Deutschland. Das hat, so mein Eindruck, auch damit zu tun, dass diese Offiziere nicht nur sehr gut ausgebildet sind, sondern eben auch die Grenzen des Militärischen kennen – sehr viel mehr als die nicht gedienten Minister und Ministerinnen in der Bundesregierung. Die meisten waren in Afghanistan, in Mali, im Kosovo und wissen aus ihrem Alltag, dass es nicht für alles eine militärische Lösung gibt und dass die Situation sehr viel komplexer ist, als dieses Mantra "Waffen, Waffen und nochmals Waffen" suggeriert.

Vielleicht liegt es auch daran, dass sie wissen, was Waffen und Militärtechnik anrichten können. Nach all den Befreit-die-Leoparden-Rufen habe ich mich gefragt, ob sich die Rufenden bewusst sind, was für eine enorme Zerstörungskraft hinter einem Panzer steckt, dass damit ganz reale Menschen zerfetzt werden können.

Und die Leoparden geben nicht ihren Dienst auf, wenn ein Krieg mal vorbei ist. Denen sie letztlich in die Hände fallen, tun mit diesen Waffen, was sie eben tun wollen. Derzeit herrscht eine erstaunliche Ignoranz, was den Ernst von Krieg, Frieden und Militär anbelangt. Soldaten sind die, die ihren Kopf hinhalten müssen, die im Zweifelsfall getötet oder körperlich versehrt werden, die psychisch zerrüttet nach Hause kommen. Das habe ich mit dem Satz Außenpolitik ist kein Harry Potter gemeint. Außenpolitik ist eben nicht einfach eine moralische Frage, ein Spiel von Gut und Böse, in dem man mal wie beim Risiko-Abend ein paar Figuren über das Spielbrett schiebt.

Natürlich besteht das ukrainische Militär nicht aus Rechtsradikalen. Aber es gibt eben das Asow-Regiment, auch wenn das nur ein winziger Teil ist. Und diese Leute haben vor dem Krieg beispielsweise massiv Sinti:zze und Romn:ja in der Ukraine verfolgt und ermordet. Was passiert, wenn dieser Krieg vorbei ist, mit den Waffen in deren Händen?

Leute, die kämpfen gelernt haben, verschwinden auch nicht von jetzt auf gleich. Die Mudschaheddin, die nach 1979 gegen die Sowjetunion gekämpft haben, sind letztlich zu "Al Qaida im Zweistromland" geworden, aus dem sich dann der IS rekrutierte. Die Tschetschenienkrieger von einst kämpfen jetzt in der Ukraine.

Ich erinnere mich an die Fotos und Filmaufnahmen von dem jungen Russen, dem ersten, der vor dem ukrainischen Kriegsgericht verurteilt wurde. So ein junger Kerl, der eigentlich daheim bei seiner Freundin im Arm liegen und nicht Leute umbringen sollte.

Unglaublich finde ich, dass Deutschland Deserteure aus Russland im Regen stehen lässt. Es gab etwa 2.600 Anträge auf Asyl von Russen in Deutschland. Nur 55 davon wurde bisher stattgegeben. Die Botschaft, die Deutschland und die EU an Kriegsgegner in Russland senden, ist im Grunde: Wer als Russe nicht sterben will für diesen seitens Russlands mit Lügen begonnenen Krieg, der erhält keine Unterstützung. Als hätten wir als Gesellschaft nie Debatten über Desertation, über 'Die Kirschen der Freiheit' von Alfred Andersch, oder den 'Überläufer' von Siegfried Lenz geführt. Was das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung anbelangt, ist da in kürzester Zeit einiges verschüttet worden.

Alle suchen nach der Tür raus aus diesem Krieg, nach einer Friedenslösung. Aber über das Wie gehen die Meinungen auseinander.

Die Argumentation, wie sie von vielen Grünen und Liberalen gepflegt wird, ist ja, das Putin in seinen fürchterlichen Reden der Ukraine das Existenzrecht abgesprochen habe und eine großrussische Nostalgie pflegt. Daraus schließen Grüne und Liberale, dass Russland sich mindestens die Ukraine ganz einverleiben will. Die konkrete Militärstrategie des russischen Staats widerspricht aber dieser These. Man erobert ein Land von mehr als 600.000 Quadratkilometern und 37 Millionen Einwohnern nicht mit 190.000 Soldaten. Ich glaube, das Ziel war, die Bündnisneutralität der Ukraine zu erzwingen. Auch als Ablenkung von inneren Widersprüchen in Russland und zur Stabilisierung von Putins Macht. Die neoliberalen Reformen nach innen, Sozialkürzungen, die Rentenreform von 2019 waren stark umstritten. Die Wahrnehmung, man befinde sich in einem Schicksalskampf gegen eine drohende Einkreisung durch den Westen, wird dagegen von einer Mehrheit der russischen  Bevölkerung geteilt. Die Konfrontation nach außen ist eine Stabilisierung von Herrschaft nach innen.

Wie könnte der Weg zu Verhandlungen denn konkret aussehen?

Es ist ja nicht so, dass nicht verhandelt würde. Stichwort Agrar-Abkommen. Auch der Gefangenenaustausch wird laufend verhandelt. Was ich kritisch sehe und den westlichen Regierungen vorwerfe, ist, dass sie die Verhandlungsbemühungen aus dem globalen Süden aber auch aus Europa, von der Draghi-Regierung in Italien, von der Sanchez-Regierung in Spanien, von der brasilianischen Regierung oder den chinesischen Vorstoß oder jetzt auch die aktuellen Bemühungen der afrikanischen Staaten nicht aufgegriffen haben. Ein Frieden muss von glaubwürdigen Staaten vermittelt werden. Deutschland hat erstaunlicher Weise und trotz seines Vernichtungskriegs mit 27 Millionen toten Sowjetbürgern lange eine hohe Glaubwürdigkeit in Russland genossen. Dass Deutschland sich nicht als Vermittler in diesen Prozess eingeschaltet hat, halte ich für falsch. Es gibt auch überhaupt keine Vorschläge, dass, wenn Russland dieses oder jenes tut oder unterlässt, Sanktionen zurückgenommen werden könnten. Es gibt nur die Sprache der Eskalation und keine Anbahnung einer Deeskalation. Irgendwann aber wird die stattfinden müssen. Weil der Krieg in eine blutige Pattsituation eingetreten ist und militärisch höchstwahrscheinlich weder von Kiew noch von Moskau zu gewinnen ist, wie mittlerweile ja auch das Pentagon, der oberste Militär der USA, Mark A. Milley, und Kommentatoren in "Foreign Affairs" anerkennen.

Glauben Sie, dieser Krieg wird bis dahin weiter eskalieren?

Von Russland wird ja längst auf dem Rücken der ukrainischen Bevölkerung eskaliert. Stichwort Zerstörung der Energie- und Wasserinfrastruktur. Wir wissen noch nicht, wer für die Sprengung des Staudamms verantwortlich ist, aber auch das ist eine massive Eskalation. Und es gibt eben auch das Potenzial einer Eskalation über die Grenzen der Ukraine hinaus. Für Europa gibt es dabei gute Gründe, ein schnelles Kriegsende herbeizuführen. Es verarmen in Folge der durch den Krieg angeheizten Inflation gegenwärtig nicht nur die arbeitenden Klassen in Deutschland und Europa. Weitet man den Blick, sieht man, dass die Inflation den afrikanischen Kontinent völlig ungebremst trifft. Wir wissen längst, unter welchem Druck die Staaten Afrikas stehen, welche Verteilungskonflikte sich da ergeben und kann erahnen, dass diese gewaltförmig ausgetragen werden, zu Staatszerfall und dem Ausbluten von Millionen von Menschen, die zur Flucht gezwungen sind, führen könnten. Was womöglich neue Stellvertreterkriege hervorbringt. Aus all diesen Gründen muss Europa ein Interesse daran haben, diesen Krieg so schnell wie möglich einzufrieren. Einen Krieg, der wie gesagt, nicht militärisch gewinnbar ist. Jetzt ist ein Punkt erreicht, an dem beide Seiten versuchen müssen, irgendwie gesichtswahrend rauszukommen.

Was heißt das konkret?

Beide Seiten müssen es gegenüber ihren eigenen nationalistischen Kräften so darstellen können, als hätten sie einen Sieg errungen.

Gab es Momente, in denen das hätte gelingen können?

Der Rückzug aus Cherson war so ein Moment. Die Ukrainer hätten eine Militärparade abhalten und sagen können, wir haben Cherson befreit. Russland hätte sagen können, wir haben den Landzugang zur Krim und seine Wasserversorgung gesichert. Russland muss anerkennen, dass es seine Kriegsziele nicht verwirklichen kann. Und die ukrainische Regierung ihrerseits, dass das Ziel, die Krim und den Donbass militärisch zurückzuerobert, höchst unwahrscheinlich ist. Weil man sich in der neuen Phase eines Abnutzungskriegs befindet, in dem auf beiden Seiten täglich etwa 1.000 Soldaten sterben für ein paar Quadratkilometer völlig zerstörten Landes. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Landkarte auch nach ein paar Jahren fortlaufenden Krieges mehr oder weniger so aussieht wie jetzt, ist hoch. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte schon im Juni vergangenen Jahres, dass ein Ende des Krieges womöglich mit einem Verzicht Kiews auf die Krim und den Donbass einhergehen müsste. Die Frage ist also, ob für diesen Status quo in den nächsten Jahren noch weitere hunderttausende Soldaten sterben sollen und der Krieg weiter eskaliert, bis irgendwann allseitige Kriegsmüdigkeit ihn beendet. Oder ob es gelingt, das fürchterliche Blutvergießen vorher zu beenden.

Wäre es auch ein moralisch gutes?

Ein solches Ergebnis darf man unappetitlich finden. Man kann darüber diskutieren, ob das gegebenenfalls andere Staaten ermutigt, Grenzverschiebungen herbeizuführen. Ich bin da aber skeptisch. Russland hat sich und seinen Interessen mit diesem Krieg massiv selbst geschadet. Es ist mit seinen Kriegszielen in der Ukraine gescheitert, hat jetzt mit dem finnischen Nato-Beitritt noch mehr als 1.000 Kilometer neue Nato-Grenze hinzubekommen, und die ist mit der massiven Aufrüstung durch die europäischen Nato-Staaten heute noch viel stärker mit Kriegsgerät bestückt. Zugleich wird Russlands Wirtschaft dauerhaft geschwächt. Ob dies zur Nachahmung ermutigt? In jedem Fall muss es darum gehen, den Krieg in der Ukraine so schnell wie möglich zu beenden: im Namen der unteren Klassen aus Russland, aber auch der der Ukraine, die in einem zunehmend sinnlosen Krieg verheizt werden. Im Namen der arbeitenden Klassen in Europa, die gerade dramatisch verarmen, und im Namen der Bevölkerungen in Afrika, die am meisten unter den Folgen dieses Krieges leiden.


Am kommenden Sonntag, 25. Juni, wird Ingar Solty auf einer Tagung der Stuttgarter Dependance der Rosa-Luxemburg-Stiftung referieren. Thema: "Spaltet der Ukraine-Krieg die Linke?" Das gesamte Programm finden Sie hier.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


3 Kommentare verfügbar

  • Konrad Walter
    am 22.06.2023
    Antworten
    Hallo Frau Hunger,
    der besagte grüne „Gemeinderat“ bin ich. Ich bin zwar gar kein Gemeinderat und ich habe in der Rede auch nicht das Wort „stolz“ genutzt. Immerhin ein Grüner bin ich. Aber Schwamm drüber. Inhaltlich haben Sie mich schon richtig verstanden – natürlich habe ich krassen Respekt vor…
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!