Bleiben wir bei den Tatsachen: Die Vorstellung, "die Nato" habe Russland einkreisen wollen, ist eine fixe Idee. Man kann das flächenmäßig größte Land der Erde, mit langen Grenzen zu verbündeten oder neutralen Staaten – darunter China und Kasachstan – nicht "einkreisen". Es ist eine Ironie der Geschichte, dass sich jetzt die unmittelbar an die Nato stoßende Außengrenze Russlands durch den Beitritt Finnlands zur Militärallianz verdoppelt.
Es gab zu keinem Zeitpunkt eine existentielle – sprich: militärische – Bedrohung Russlands. Ein Angriff der Nato auf das Land lag nie auch nur im Denkhorizont der "westlichen Eliten". Die konventionellen Fähigkeiten der Nordatlantischen Allianz an den Grenzen zur Russischen Föderation reichten (trotz mehrfacher numerischer Überlegenheit im Weltmaßstab) für eine großflächige Angriffsoperation zu keinem Zeitpunkt aus. Und welchen Sinn hätte es gehabt, ein Land zu überfallen, dessen Türen für Geschäftsbeziehungen offen standen?
Die zwischen den Nato-Staaten, den USA und Russland nach 1990 getroffenen Vereinbarungen über Rüstungskontrolle und Abrüstung gewährleisteten grosso modo eine Stabilität, mit der beide Seiten leben konnten. Daran änderte auch die schleichende Erosion dieser Abmachungen und eine sich wechselseitig aufbauende Aufrüstungsspirale nichts. Der 1990 zwischen Nato und Warschauer Pakt geschlossene Vertrag über die konventionellen Streitkräfte, 1999 in Istanbul an die veränderten Umstände angepasst, wurde mit Zustimmung Russlands beschlossen. Die dort für die Hauptwaffensysteme festgelegten Obergrenzen wurden in der Folgezeit durch erhebliche Reduzierungen der Potenziale beträchtlich unterschritten. Das gilt bis heute, siehe die jeweiligen Bestände bei den Kampfpanzern. Bei der Flankenregelung, die festlegt, wie viele Waffen Russland an seiner Nordflanke (Leningrader Militärdistrikt) und Südflanke (Nord-Kaukasus) stationieren darf, kam die Nato 1999 Moskau weitreichend entgegen – weil man zu diesem Zeitpunkt Russland als Stabilitätsfaktor bei den eingefrorenen Konflikten in Zentralasien, in der Kaukasus-Region, in Moldawien ansah.
Ex-Ostblock-Staaten wollten nicht grundlos in die Nato
Auch im Rahmen der Nato-Russland Grundakte von 1997 gab es Entgegenkommen. Die Nato erklärte, keine Absichten und Pläne zu haben, nukleare Waffen auf dem Hoheitsgebiet neuer Mitglieder zu stationieren und dort auch keine nuklearen Waffenlager zu installieren. Und sie bekräftigte, in den neuen Mitgliedsstaaten keine dauerhafte Stationierung von Kampftruppen vornehmen zu wollen. Diese Grundlagen der Nato-Russland-Beziehungen auf dem Gebiet der (militärischen) Sicherheit hatten Bestand – bis 2014.
Dass sich das militärische Kräfteverhältnis zwischen Nato und Russland durch das Auseinanderbrechen der Sowjetunion und des Warschauer Pakts gravierend verschoben hatte und durch die Nato-Osterweiterung noch dramatischer zuungunsten Russlands veränderte, liegt auf der Hand. Es gibt kein Naturrecht auf besonderen Weltmachtstatus, den Russland ja nicht ohne Grund eingebüßt hatte.
Selbstverständlich war die Entscheidung der Nato, neue Mitglieder in Osteuropa aufzunehmen, fragwürdig und ihre Durchführung war mangelhaft. Aber: Es waren die Staaten Mittel- und Osteuropas, die in der Mehrzahl die Mitgliedschaft in der Allianz anstrebten und dadurch die eigene Sicherheit erhöhen wollten. Diese Bestrebungen hatten viel mit den historischen Erfahrungen dieser Völker im sowjetischen Imperium zu tun. Das reicht von den traumatischen Folgen des Hitler-Stalin-Pakts gerade für Polen und das Baltikum bis zu den harten und jahrzehntelangen Erfahrungen der Mittel- und Osteuropäer mit sowjetischer Dominanz und Unterdrückung. Dafür stehen die Daten: Ost-Berlin 1953, Budapest 1956, Prag 1968, Warschau 1980.
Der Kreml hatte nichts gegen Nato-Osterweiterung
Tatsache ist auch, dass der Kreml vor allem die erste Runde der Nato-Osterweiterung billigend zur Kenntnis nahm, war dieser Schritt doch mit der Etablierung des Nato-Russland-Rates 1997, der Erweiterung der G-7-Allianz zur G-8 und der Fortführung der Verhandlungen über die konventioneller Waffen und Streitkräfte verbunden. Das wollen Wladimir Putin und sein Außenminister Sergej Lawrow heute nicht mehr wahrhaben. Dabei hat sich Lawrow am 2. Januar 2005 in einem Interview mit dem Handelsblatt eindeutig geäußert. Der Ukraine und Georgien räumte er das Recht auf einen möglichen Nato-Beitritt ein: "Das ist deren Wahl. Wir achten das Recht jedes Staates – unsere Nachbarn eingeschlossen –, sich seine Partner selbst zu wählen, selbst zu entscheiden, welcher Organisation sie beitreten wollen."
Trotzdem bleibt Kritik an der Politik "westlicher Staaten" und der Nato vollauf berechtigt: etwa an der einseitigen Aufkündigung von Rüstungskontrollabkommen durch die USA, der überheblichen Abweisung nicht unberechtigter Forderungen der Russischen Föderation auf diesem Feld, der Stationierung neuer Raketenabwehrsysteme, der Politik der doppelten Standards, die "westlicher Politik" beständig anhaftet. Und nicht zuletzt an den militärischen Interventionen (Balkan, Irak, Afghanistan, Libyen), in denen Völkerrecht gebrochen und viel Unheil angerichtet wurde. Eine Rechtfertigung des russischen Angriffskrieges ist daraus jedoch nicht abzuleiten.
Ebenso wichtig ist, dass die Verantwortlichen in den Nato-Mitgliedsstaaten es versäumt haben, nach 1995 mit der OSZE eine gesamteuropäische Friedensarchitektur zu entwickeln, und stattdessen einseitig auf die Stärkung der Militärallianz setzten. In der Nato-Russland-Grundakte vom Juni 1997 wurde noch formuliert: "Der OSZE als einziger gesamteuropäischer Sicherheitsorganisation kommt eine Schlüsselrolle für Frieden und Stabilität in Europa zu." Daran wird man nach dem Krieg energisch erinnern müssen.
Ursachen der Verdrängung – ein Erklärungsversuch
Aber woher kommt bei Teilen der Linken und Friedensbewegten diese Verdrängung empirisch feststellbarer Realität und die Verweigerung einer differenzierten Sichtweise, die fatalerweise mit den Erzählungen korrespondiert, die von den Kriegsherren im Kreml zur Rechtfertigung ihrer Aggression in Umlauf gebracht werden? Ein Erklärungsversuch.
Nicht wenige der bis heute friedenspolitisch Engagierten wurden in der Bewegung gegen die Raketenstationierung in den 1980er Jahren politisch sozialisiert. "Schwerter zu Pflugscharen", "Frieden schaffen ohne Waffen" prägten das Bewusstsein dieser Generation. Zehn Jahre zuvor waren viele Menschen auf der Straße, um die Politik der Verständigung und Aussöhnung mit den Nachbarn im Osten, vor allem mit der Sowjetunion, zu unterstützen. Die Ablehnung militärischer Abenteuer ist seitdem breit verankert. Heute teilen viele Menschen die akute Sorge vor einer militärischen Eskalation und den Wunsch nach einem sofortigen Waffenstillstand. Sie sehen sich mit einem Aufmarsch der Kalten Krieger in Medien und Politik konfrontiert, die stupide auf "Siegfrieden" setzen und nur noch die aus den Gewehrläufen kommende Macht kennen.
Diese Sorge ist berechtigt, und die daraus resultierende Ablehnung des in der Öffentlichkeit dominierenden Konfrontationskurses ist zu verstehen. In Krisenzeiten hält man an tradierten Sichtweisen und Identitäten gerne fest. Aber ist nicht gerade dann das Nachdenken über mögliche Irrtümer und falsche Selbstgewissheiten geboten, um den Weg zu einer neuen, realitätsbezogenen, ernst zu nehmenden Friedensbewegung zu bahnen?
Solidarität mit Unabhängigkeitskämpfen?
Warum beruft man sich gerne auf Willy Brandts Diktum "Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts", vergisst aber den ersten Halbsatz? Der schlechteste Friede sei besser als der beste Krieg, wird gesagt. Was Millionen Menschen, die sich den Welteroberungsplänen der Nazis entgegenstellten, darüber denken würden? Oder die Völker, die sich vom kolonialen Joch befreien wollten? Frieden um jeden Preis?
Was ist aus der Tradition linker Bewegungen, dem Internationalismus, der Solidarität mit den Unabhängigkeits- und Befreiungskämpfen geworden? Man erinnere sich: Che Guevara war eine linke Ikone. Das ist kritisch zu reflektieren. War aber alles falsch? Oder gilt dies nicht mehr, weil die ukrainische Unabhängigkeitsbewegung nicht ausreichend "links" ist? Müsste man nicht wenigstens Partei für die Opfer des Angriffskrieges und deren Recht auf Selbstverteidigung ergreifen?
Warum fehlt in Appellen eine präzise Charakterisierung des Putin-Regimes, bleiben die Kriegsziele des Kreml im Dunkeln? Dabei ist es bei Putin nachzulesen, und es wird durch Russlands Kriegsführung unterstrichen, dass ein großmachtchauvinistisches Expansionsprojekt verfolgt wird, in dem Staaten des postsowjetischen Raumes ein Vasallen-Status zugedacht wird. Will man der daraus erwachsenden Gefahr für die europäische und globale Sicherheit ausweichen?
Linkes Stereotyp: vom Westen gesteuerte Kriege
Dass der "Ukraine-Krieg" – wie zuvor die Bürgerkriege auf dem Balkan – von westlichen Mächten gesteuert worden sei, verweist auf einen Stereotyp linken Denkens, das längst hätte hinterfragt werden müssen. Unterbelichtet bleiben dabei die Prozesse, die ihren Ausgangspunkt "von unten", aus den Gesellschaften heraus haben. Es geht um Menschen, die einen Weg zu freiheitlicheren Gesellschaftsverhältnissen suchen.
Die "Geopolitik" erfreut sich in Teilen der Linken großer Beliebtheit. Die neorealistische Denkschule von Teilen der außenpolitischen Elite der USA, die auf Macht, Imperien und Militär fixiert ist, ist "in". Die Ukraine gehört in diesem Verständnis historisch-kulturell zum russisch beherrschten "Großraum"; Russland verteidigt diesen gegen die "raumfremden Mächte" des Westens (USA, Nato und EU), wie die USA ihren Hinterhof Lateinamerika verteidigen (Monroe-Doktrin). Vertretern dieser Schule wie dem Politikwissenschaftler John J. Mearsheimer und anderen geht es um eine machtpolitische Ausbalancierung: Russland soll als Bündnispartner gegen den neuen Hauptfeind China gewonnen werden. Mit dem Versuch, in den osteuropäischen Staaten liberale Demokratien zu etablieren, habe man stattdessen Russland in die Arme Chinas getrieben.
24 Kommentare verfügbar
a dabei
am 09.04.2023