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Stuttgarter Verbot von Klimablockaden

Wir können alles. Außer Versammlungsfreiheit

Stuttgarter Verbot von Klimablockaden: Wir können alles. Außer Versammlungsfreiheit
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Am 7. Juli hat die Stadt Stuttgart per Allgemeinverfügung Blockadeaktionen der Klimabewegung verboten. Aus verfassungsrechtlicher Sicht ein mehr als fragwürdiger und zudem unverhältnismäßiger Schritt, urteilen unsere Autoren.

Die Versammlungsfreiheit gerät unter Druck. Immer öfter versuchen staatliche Behörden in verblüffender Verkennung verfassungsrechtlicher Prinzipien dieses Grundrecht zu entkernen und es – vom Bundesverfassungsgericht zusammen mit der Meinungsfreiheit einmal als "eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt" geadelt – herabzustufen. Sie verkommt dabei zu einer vornehmeren Freizeitbeschäftigung, die im Zweifel zu weichen hat: vor Bergbau, Autos oder dem Grundrecht, pünktlich zur Arbeit zu kommen.

Der neueste Akt dieser Entwicklung: Die Stadt Stuttgart verbietet per Allgemeinverfügung vom 7. Juli 2023  bis zum Ende des Jahres Blockadeaktionen der Klimabewegung, bei denen sich Aktivist:innen auf die Straße kleben oder anderweitig mit der Straße oder anderen Personen verbinden.

Doch das schwäbische Versammlungsverbot wird nicht nur absehbar seine Wirkung verfehlen. Es verkennt zudem den Gehalt der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) und reiht sich damit in eine besorgniserregende Tendenz der jüngeren Vergangenheit ein (dazu etwa hierhierhier und hier), Versammlungen weitgehend dem exekutiven Gutdünken zu unterstellen, anstatt sie vor ihm zu schützen.

Anleitung zur Eskalation statt Gefahrenabwehr

Zunächst ist unklar, was die Versammlungsbehörde der Schwabenmetropole mit dem Versammlungsverbot tatsächlich erreichen will. Da die Letzte Generation mit ihren Protestformen gezielt und bewusst Gesetzesverstöße bis hin zur Strafbarkeit in Kauf nimmt, ist nicht zu erwarten, dass sie ein versammlungsrechtliches Verbot von weiteren Straßenblockaden abhalten wird. So hat die Gruppe umgehend angekündigt, trotz Verbot weitere Blockaden durchzuführen. Nach der Pressemitteilung der Stadt Stuttgart soll das Verbot ermöglichen, "schneller einzugreifen und die Straßenblockaden zügiger auch unter Einsatz von unmittelbarem Zwang aufzulösen". Dies soll eine vorherige Auflösung der Versammlung nach § 15 Abs. 3 VersG entbehrlich machen.

Eine Auflösungsverfügung ergeht allerdings regelmäßig als mündlicher Verwaltungsakt und bedarf daher nur einer kurzen Begründung. Dies dürfte selbst im landesväterlichen Sprachduktus Winfried Kretschmanns (Grüne) nur wenige Sekunden benötigen. Die Stuttgarter Polizei spricht davon, dass die Auflösung von Straßenblockaden regelmäßig lange dauere, da eine dreimalige Aufforderung an die Teilnehmenden ergehen müsse. An das dreimalige Aussprechen einer bestimmten Wortfolge sind zwar in Märchen und Sagen häufig besondere Folgen geknüpft – dem Versammlungsrecht sind solche selbstzweckhaften Formeln allerdings fremd. Erforderlich ist, dass die Auflösung einer Versammlung laut und deutlich in einer Weise bekanntgegeben wird, dass sie alle Teilnehmenden vernehmen können. Dies kann bei großen und unübersichtlichen Versammlungen durchaus erfordern, dass die Aufforderung mehr als dreimal wiederholt wird. Bei einer Handvoll Demonstrierender, mit denen unmittelbar verbal kommuniziert werden kann, ist dieser Zweck möglicherweise bereits nach der ersten Ansprache erreicht. Nach der Bekanntgabe ist den Versammlungsteilnehmer:innen ein angemessener Zeitraum zu geben, um sich zu entfernen, was in der Regel einige Minuten in Anspruch nehmen dürfte.

Wenn die Stuttgarter Polizei aber meint, im Anwendungsbereich der Allgemeinverfügung direkt und ohne jegliche Ansprache unmittelbaren Zwang gegen Straßenblockierer:innen anwenden zu können, so ist das jedenfalls in dieser Pauschalität unzutreffend. Zumindest unter Gesichtspunkten der Verhältnismäßigkeit dürfte es regelmäßig geboten sein, die Anwendung unmittelbaren Zwanges anzukündigen. Der "Zeitgewinn" durch ein allgemeines Verbot ist also zu vernachlässigen.

Ist das Versammlung oder kann das weg?

"Und nun?", mögen Leser:innen vielleicht entgegnen: Soll man die Klimaaktivist:innen also gewähren lassen? Weil sie ohnehin weitermachen? Weil Blockaden immer noch nachträglich aufgelöst und geräumt werden können? Im Zweifel: Ja, genau das.

Zwar wollen einige Stimmen der Literatur Sitzblockaden teilweise per se aus dem Schutzbereich der Versammlungsfreiheit ausnehmen, da Art. 8 GG nicht die Instrumentalisierung Dritter durch deren absichtliche Behinderung schütze. Nach dieser Ansicht wäre die Stuttgarter Allgemeinverfügung aber bereits schlicht wirkungslos. Handelte es sich bei den Blockaden nicht um grundgesetzlich geschützte Versammlungen, wären sie ohnehin unzulässig. Ein zusätzliches Verbot ginge daher ins Leere.

Die überwiegende Meinung und auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) nehmen hingegen Sitzblockaden nicht generell aus dem Schutzbereich des Art. 8 GG aus – im Gegenteil. Schon 2001 bejahte das BVerfG in seiner "Sitzblockaden-III"-Entscheidung den Versammlungscharakter von Blockaden. In seiner jüngsten Blockaden-Entscheidung 2011 bestätigte das BVerfG diesen Charakter der Versammlungsfreiheit als Aufmerksamkeitserringungsrecht.

Straßenblockaden sind grundsätzlich also keine Straftaten, sondern eine demokratische Errungenschaft. Sie werden grundsätzlich vom Recht als zulässige Form des Protestes rezipiert und somit – grundsätzlich – als Versammlungen geschützt. Verfassungsrechtlich unstreitig ist nämlich, dass Straßen nicht nur dem Verkehr, sondern auch verschiedenen Protestformen im Rahmen des Gemeingebrauchs offenstehen.

Die Rechtsprechung zu den Aktionen der Letzten Generation fokussiert sich bislang vorrangig auf strafrechtliche Fragen. Liegt ein von Art. 8 Abs. 1 GG geschütztes Verhalten vor und überwiegen im Einzelfall die Rechte der Versammlungsteilnehmer:innen (also der Blockierer:innen) die anderen betroffenen Rechte (etwa die allgemeine Handlungsfreiheit blockierter Autofahrer:innen), dann ist eine Straßenblockade weder strafbar noch liegt eine durch Befürchtung von Straftaten vermittelte Gefahr für die Öffentliche Sicherheit vor.

Natürlich können Straßenblockaden auch strafbar sein, jedoch stets nur unter Beachtung und nach Abwägung der im Einzelfall betroffenen Rechtsgüter. Eine solche Abwägung ist jedoch nur im Einzelfall und eben nicht bei weitreichenden präventiven Versammlungsverboten via Allgemeinverfügung möglich. Denn selbst in Stuttgart gilt: Autofahren ist nicht absolut geschützt.

Letztlich scheint auch die Stuttgarter Versammlungsbehörde der Ansicht zu sein, dass die Straßenblockaden dem Schutzbereich des Art. 8 GG unterfallen, wenn sie verlautbaren lässt: "Protest lief bislang [sic!] unter Schutz des Versammlungsrechts." Dieser Satz ist erstaunlich, da die Stadtverwaltung anscheinend der Ansicht ist, es liege in ihrer Kompetenz, den Straßenblockaden diesen Schutz zu entziehen. Genau das Gegenteil ist jedoch der Fall: Wenn die Aktionen der Letzten Generation in Stuttgart bislang vom Schutzbereich des Art. 8 GG umfasst waren, muss ein Versammlungsverbot durch Allgemeinverfügung den hohen Anforderungen dieses Grundrechts gerecht werden. Dies ist aus verschiedenen Gründen nicht der Fall.

Störend vielleicht – aber gefährlich?

Zunächst setzt das präventive Verbot eine "Gefahr" voraus. Diese wird hier augenscheinlich mit der behaupteten Strafbarkeit von Sitzblockaden als Nötigung begründet. Das ist aus den genannten Gründen in seiner Pauschalität falsch und deshalb für ein Verbot sämtlicher Sitzblockaden per Allgemeinverfügung nicht tragfähig. Insbesondere kann die Stuttgarter Stadtverwaltung nicht, wie die Allgemeinverfügung suggeriert, per Verbot sämtliche Sitzblockaden vom Schutzbereich der Versammlungsfreiheit ausklammern.

Ebenso wenig lassen sich Straßenblockaden pauschal unter Verweis auf eine angebliche Behinderung von Rettungskräften verbieten. Selbst wenn eine belastbare Tatsachengrundlage für die Gefahrenprognose bestünde, könnte diese keinesfalls für das in der Allgemeinverfügung genannte Stadtgebiet gelten – sonst ließen sich potenziell sämtliche Versammlungen in Städten jederzeit verbieten. Allein möglich wäre die Auflösung oder ein Verbot von Blockaden auf einzelnen Straßen, etwa wichtigen Rettungswegen. Außerdem sind die Straßen Stuttgarts auch ohne Aktionen der Letzten Generation chronisch verstopft. Um die Einsatzzeiten von Rettungskräften zu verkürzen, wären also zunächst andere Maßnahmen zur Eindämmung der Blechlawine zu prüfen.

Auch in der Ermessensfolge verkennt das Stuttgarter Versammlungsverbot verfassungsrechtliche Grundsätze. Die Allgemeinverfügung ist äußerst weitreichend. Sie umfasst mit sämtlichen Bundesstraßen sowie 150 aufgezählten weiteren Straßen nicht nur einen erheblichen Teil des Stadtgebiets. Mit fast einem halben Jahr ist ihre Geltungsdauer auch äußerst lang. Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hat jüngst klargestellt, dass bereits ein zweiwöchiges Versammlungsverbot einen besonders schwerwiegenden Grundrechtseingriff darstelle, der nur unter äußerst engen Voraussetzungen dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügen könne. Ein halbjähriges Versammlungsverbot ist soweit ersichtlich ein Novum.

Eine konkrete Gefahrenprognose, die den hohen Anforderungen des Art. 8 GG entspricht, ist für diese Dauer schlicht nicht möglich. Schließlich entwickelt sich Protestgeschehen dynamisch. Selbst wenn derzeit von den Aktionen der Letzten Generation eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausginge, ist völlig ungewiss, ob diese Gefahr im Dezember weiterhin besteht. Möglicherweise hat sich die Gruppe bis dahin aufgelöst oder gänzlich neue Protestformen entwickelt. Solche Spekulationen kommen einem Blick in die Glaskugel gleich und sind daher für die Prognose einer konkreten Gefahr ungeeignet.

Per Allgemeinverfügung gegen eine Protestform?

Abstrakte Versammlungsverbote wurden lange Zeit für unmöglich gehalten - bis zur Corona-Pandemie. Die Rechtmäßigkeit der pandemiebedingten Verbote war stets umstritten (siehe hierhierhier und hier) und wird erst langsam von den Gerichten im Hauptsacheverfahren überprüft. Doch die Stuttgarter Allgemeinverfügung unterscheidet sich von den Corona-Verboten in einem entscheidenden Punkt: Erstere richteten sich gegen sämtliche Versammlungen, die Stuttgarter Allgemeinverfügung ist jedoch in Bezug auf Inhalt und Modalität der Versammlung beschränkt. Dies liegt zunächst in der Handlungsform begründet: Ein Versammlungsverbot in Form einer Allgemeinverfügung, wie es die Stuttgarter Behörde erlassen hat, muss sich stets auf einen konkreten Sachverhalt beziehen. Dieser Sachverhalt muss jedoch geeignet sein, eine Gefahrprognose zu stützen. Keinesfalls darf hiermit die grundgesetzliche Wertung, welche Versammlungen schützenswert sind, umgangen werden.

Die Allgemeinverfügung verbietet sämtliche Blockadeaktionen der Klimabewegung, bei denen sich Demonstrierende fest mit der Fahrbahn verbinden. Das Versammlungsverbot erfolgt also nicht anlassbezogen, sondern modalitätsbezogen. Wenn die Gefahr von Sitzblockaden aber bereits aus ihrem Wesen als Sitzblockade folgt, ist nicht nachvollziehbar, warum sich das Versammlungsverbot ausschließlich auf Aktionen "im Zusammenhang mit Klimaprotesten" beschränkt. Zwar sind ähnliche Aktionen anderer Akteur:innen derzeit nicht zu verzeichnen. Letztlich scheint die Beschränkung auf Blockaden der Klimabewegung aber ein ungelenker Versuch zu sein, einen konkreten Anlass zu konstruieren, um das Verbot in die Form der Allgemeinverfügung pressen zu können. Gewollt ist wohl ein Verbot sämtlicher Straßenblockaden. Dieses damit abstrakt-generelle Vorgehen (eine unbestimmte Vielzahl von Fällen und Personen betreffend) der Stuttgarter Exekutive verletzt den Gewaltenteilungsgrundsatz. Ein allgemeines, von einem konkreten Ereignis losgelöstes Versammlungsverbot kann – wenn überhaupt – nur durch ein materielles Gesetz und nicht durch Verwaltungsakt ergehen.

Daran vermag es auch nichts zu ändern, dass die Stuttgarter Stadtverwaltung Klimaproteste großzügig auf "andere Formen des bürgerlichen Protests" verweist. Die Wahl der Versammlungsform und des Versammlungsortes fällt unter das Selbstbestimmungsrecht der Versammlung.

Signale eines demokratischen Aufbruchs

Eigentlich könnte es ein Anlass zur Freude sein. Nach Jahren des pandemiebedingten Stillstandes, in denen vor allem über die Notwendigkeit von und den Gefahrenmaßstab für polizeiliches Einschreiten gegen die rechtsradikale Querdenker-Szene diskutiert wurde (etwa hier und hier), wird endlich wieder über die Notwendigkeit und Bedeutung von Protest und Versammlungsfreiheit für die demokratische Gesellschaft gesprochen. Die Klebeaktionen der Letzten Generation, die Besetzungen von Kohlegruben, von Lützerath, vom Hambacher Forst – sie könnten als Signale eines demokratischen Aufbruchs verstanden werden, als Signale einer Zivilgesellschaft, die sich nicht länger abfindet mit der lähmenden Untätigkeit und Resignation im Angesicht der Klimakatastrophe. Im öffentlichen Diskurs jedoch scheinen Klimaproteste vor allem Stein des Anstoßes zu sein – und das längst nicht nur am revisionistischen Steuerbord der Verdrängungsgesellschaft. Die Stimmen, die die Versammlungsfreiheit insbesondere der Klimabewegung 2023 konsequent verteidigen, sind leiser geworden. Zu hoffen wäre jedoch, dass der jüngste Akt aus Stuttgart den Bogen überspannt hat und somit Gerichte und Gesellschaft daran erinnert, dass die Versammlungsfreiheit in der Tat ein hohes Gut ist, das zu verteidigen sich lohnt. Dazu ist es höchste Zeit, denn andere Städte scheinen dem Stuttgarter Beispiel bereits zu folgen: etwa die Stadt Nürnberg, die am 13. Juli ebenfalls per Allgemeinverfügung ein vergleichbar weitreichendes Versammlungsverbot für nicht angezeigte Straßenblockaden erließ.

Eine Möglichkeit zur Überprüfung bietet der Widerspruch, den Mitglieder der Stuttgarter Fraktionsgemeinschaft "Die FrAktion" gegen die Allgemeinverfügung eingelegt haben. Es bleibt abzuwarten, ob die Widerspruchsbehörde oder spätestens das Verwaltungsgericht in einem anschließenden Gerichtsverfahren den schwäbischen Sonderweg korrigieren und dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit zur Geltung verhelfen werden.


Der vorliegende Text erschien erstmals am 11. Juli auf dem juristisch-journalistischen Portal Verfassungsblog. Für Kontext wurde er gekürzt und aktualisiert.


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7 Kommentare verfügbar

  • Fleischhauereffekt
    am 22.07.2023
    Antworten
    Die Welt ist im Wandel, keine Frage. Sozial, geopolitisch, kulturell, klimatisch... Wir müssen alles gegen den anthropogenen Teil des Klimawandels tun. Wir müssen etwas gegen den aktuellen Kapitalismus (dessen Kern und Ziel leistungslose Einkommen/Renten (Zins, Miete, Pacht, Dividende...) für die 1%…
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