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Behindertenrechtskonvention

Inklusion wird nicht ernst genommen

Behindertenrechtskonvention: Inklusion wird nicht ernst genommen
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Sie könnten beste Beispiele sein für gelungene Inklusion in Sport, Schule und Gesellschaft. Tatsächlich aber sind die 22 Sportler:innen mit Handicap, die sich am vergangenen Montag im Goldenen Buch der Stadt Stuttgart verewigen durften, seltene Ausnahmen für ein gelungenes Miteinander.

Papier ist geduldig. Besonders das der UN-Behindertenrechtskonvention, die festhält, dass Einschränkungen "als Bereicherung der menschlichen Vielfalt" zu betrachten sind. Seit fast einem Vierteljahrhundert gibt es sie und sie ist verbindlich für alle deutschen Bundesländer. Geduldig ist auch das Papier, von dem Stuttgarts Oberbürgermeister Frank Nopper am 17. Juli im Rathaus beim Empfang der Teilnehmenden an den Special Olympics Ende Juni in Berlin seine Rede schmissig abliest. Besonders gut gefallen hätten ihm Unified-Teams, bekennt der CDU-OB, "in denen Athletinnen und Athleten mit und ohne Behinderung ganz selbstverständlich miteinander Sport gemacht haben". Das sei ein Vorbild für viele Angebote und "Sport der Motor für mehr Inklusion in unserer Stadt".

Special Olympics und Paralympics (letztere finden 2024 in Berlin statt) werden häufig vermengt oder verwechselt. Die einen sind für Sportler:innen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung, die anderen vor allem für jene mit körperlichen Einschränkungen. Die ersten Special Olympics fanden im Sommer 1968 in Chicago statt, in drei Sportarten und mit rund tausend Teilnehmenden. Gegründet wurde die Bewegung von Eunice Shriver, einer Schwester von John F. und Robert Kennedy. Auch um das Schicksal ihrer Schwester Rosemary nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Die galt als zurückgeblieben und ab der Pubertät als triebgesteuert. Heraufbeschworen wurde die Gefahr, sie könnte schwanger werden. Eine Horrorvorstellung im streng katholischen Politadel. Der Vater ließ an der 23-Jährigen 1941 einen – schon damals – höchst umstrittenen neurochirurgischen Eingriff vornehmen. Die Folge waren schwerste Mehrfachbehinderungen. Sie wurde in ein Pflegeheim gesteckt. John F. verleugnete seine Schwester jahrelang, Eunice Shriver-Kennedy wollte auch diesem Verhalten in der Familie entgegenwirken. Rosemary Kennedy wurde 86 Jahre alt.  (jhw)

Einer der geladenen Gäste ist Stefan Wochele, der stolz von der Ehre spricht, weil seine Unterschrift jetzt in dem Buch steht, in dem schon die Queen unterschrieben hat. Es sei in Berlin nicht nur um Spaß gegangen oder um die eigene Leistung, sondern darum, ein Zeichen zu setzen. "Wir könnten sehr viel gemeinsam machen", sagt der Basketballer mit der Silbermedaille um den Hals: "Es muss noch mehr kommen, und mehr Menschen müssen wollen." Die Realität ist eine andere, auch wenn sich inzwischen viele Sportvereine aufgemacht haben und im Netz gut 300 Kurse aufgelistet sind, von B wie Badminton bis Y wie Yoga. Denn selbst oder gerade am Rande dieses Empfangs berichten Eltern vom "steinigen Weg", von "ernüchternden Erlebnissen", wie eine Mutter sagt, und vom "Dschungel, durch den sich alle kämpfen müssen, die auf mehr Selbstbestimmung hoffen".

Inklusion ist kompliziert und zugleich ganz einfach für alle, die bereit sind, sich darauf einzulassen in Schule, im Sport oder in der Arbeitswelt. Doch nicht einmal das Land Baden-Württemberg kommt seinen Verpflichtungen nach, die vorgeschriebe Beschäftigungsquote zu erfüllen, sondern zahlt lieber eine Strafe in Höhe von über als drei Millionen Euro. Tendenz steigend. Und Menschen ohne Einschränkungen sind mit der komplexen Thematik meist nur durch Werbe-Clips etwa der "Aktion Mensch" konfrontiert, aber nicht mit den realen Schwierigkeiten.

Sonderschulen zementieren Ausgrenzung

Dabei sollte das Miteinander längst erkennbar auf den Weg gebracht sein, vor allem dank eines gesellschaftlichen Wandels insgesamt. Denn in Artikel acht der Behindertenrechtskonvention verpflichten sich die Vertragsstaaten zu "sofortigen, wirksamen und geeigneten Maßnahmen der Bewusstseinsbildung" mit dem Ziel, "Klischees, Vorurteile und schädliche Praktiken gegenüber Menschen mit Behinderungen, auch aufgrund des Geschlechts oder des Alters, in allen Lebensbereichen zu bekämpfen". Handlungsanleitend geht es weiter: Dazu gehören die dauerhafte Durchführung wirksamer Öffentlichkeitskampagnen, die Förderung einer respektvollen Einstellung auf allen Ebenen des Bildungssystems oder die Aufforderung an die Medien, Menschen mit Behinderungen in einer dem Zweck des Übereinkommens entsprechenden Weise darzustellen.

Fachleute sind sich einig über den Stellenwert von Ereignissen mit großer Strahlkraft wie den diesjährigen Special Olympics in Berlin. "Die ganze Welt war da", sagt Wochele, und Nopper lobt die Bedeutung dieser größten Sportveranstaltung in Deutschland seit den Olympischen Spielen 1972 in München. Für grundlegende gesellschaftliche Veränderungen allerdings reicht das Engagement noch so vieler Sportvereine nicht aus. Denn die beginnen in der Bildungspolitik.

Schon vor fast einem halben Jahrhundert hat Italien die Förderschulen abgeschafft, Kinder mit Einschränkungen werden in den Regelschulen von sonderpädagogisch ausgebildeten Lehrerkräften betreut. In Baden-Württemberg hat man sie umbenannt in Sonderpädagogische Bildungs- und Beratungszentren (SBBZ), und sie sind ein wesentlicher Bestandteil des Schulwesens. Sie bieten noch immer acht verschiedenen Fachrichtungen an: von Hören, Sehen oder Lernen bis zum Unterricht für Kinder und Jugendliche, die lange Zeit im Krankenhaus verbringen müssen. Die Behindertenkonvention verlangt zwar nicht ihre Abschaffung, aber sie insgesamt zurückzudrängen. Denn: "Mit dem Eintritt in die Sonderschule wird der weitere Lebensweg für viele Kinder mit Behinderungen meist schon besiegelt", heißt es in einem Zwischenbericht zur Situation in Deutschland, während in Italien alle Schüler:innen "das Recht auf einen auf ihre Lernvoraussetzungen abgestimmten individuellen Bildungsplan haben", einschließlich individueller Bewertung und spezieller Lernmaterialien. In der Landeshauptstadt werden gegenwärtig Pädagog:innen aus Regelschulen abgezogen, weil die Personalnot in den Förderschulen besonders groß ist.

Schöne Worte, wenig Taten

Aktionspläne, Beiräte, Beauftragte und Versprechungen gibt es genug. Schon 2016 hat sich Stuttgart ein Leitbild gegeben. Ziel sei eine Stadtgesellschaft, "in der das Vorhandensein von Unterschieden Normalität ist, in der Barrieren abgeschafft sind und in die sich jeder mit seinen Besonderheiten einbringen kann", heißt es unter vielem anderen. Und weiter: "Die Stadtgesellschaft wird unter Beteiligung der Menschen mit Behinderung zu einem pluralistischen, inklusiven Gemeinwesen weiterentwickelt, in welchem alle Menschen ihren Platz haben, und in dem die Verschiedenheit und die Unterschiedlichkeit der Individuen, aus denen es sich zusammensetzt, respektiert und als Bereicherung empfunden wird." Konkreter wird es nicht und entsprechend wenig passiert.

Noch größer ist der Nachholbedarf auf Landesebene. 2011 stellte sich die erste grüngeführte Koalition, damals mit der SPD, endlich den Vorgaben der UN-Konvention. "Wir werden im Rahmen die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Breiten- und Spitzensport verbessern", heißt es schlank und rank im damaligen Koalitionsvertrag. An anderer Stelle wird daran erinnert, dass die verbindlichen Vorgaben der Vereinten Nationen in vollem Umfang mit für den Bereich der frühkindlichen Bildung gelten sollen. Eines der besonders vollmundigen Versprechen wurde nie wahrgemacht – es sah vor, dass Schulen die für die Inklusion notwendige personelle, räumliche und sächliche Ausstattung bekommen. Nach den Special Olympics hofft Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) auf einen Impuls durch diese Spiele, weil gerade der Sport zeige, wie Inklusion in der Gesellschaft gelingt, "wenn Menschen mit und ohne Behinderung sich auf Augenhöhe begegnen: unbekümmert, gemeinsam, mit Freude und Ehrgeiz".

Exklusion nimmt sogar zu im Südwesten

Zahlen, Daten und Fakten zusammenzutragen zum tatsächlichen Stand ist keine einfache Angelegenheit. "Für die rund 45.000 schwerbehinderten Menschen, die in unserer Stadt leben, wird (…) die Infrastruktur verbessert und weitere finanzielle Unterstützung erfolgen", heißt es auf stuttgart.de. Der Erfolg ist überschaubar. Dabei handelt sich nicht um gut gemeinte Maßnahmen. Vielmehr geht es darum, das Verständnis zu schärfen, dass Menschen mit und ohne Behinderung alltägliche Angebote bestmöglich nutzen können.

Ein Gradmesser ist die Exklusionsquote, die besagt, wie viele Schüler:innen nicht in eine Regelschule gehen: Die steigt statt zu sinken. Seit der Änderung des Schulgesetzes vor acht Jahren haben Eltern eines Kindes mit Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot zwar die Möglichkeit zu wählen, ob ihr Kind seinen Bildungsanspruch an einem sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentrum oder an einer allgemeinen Schule einlöst. Viele wählen weiterhin die SBBZ. "Das ist alles eine Frage der Beratung", weiß die Stuttgarter SPD-Landtagsabgeordnete Katrin Steinhülb-Joos, die selbst neun Jahre Rektorin der Altenburg-Schule war und um "die Mangelverwaltung" weiß. Eine Schande sei das Vorgehen von Stadt und Land. "Wir sind hinter unseren Möglichkeiten", bestätigt auch Simone Fischer, die Beauftragte der Landesregierung von Menschen mit Behinderung.

Daran wird sich bis auf Weiteres wenig ändern. Zum Beispiel, weil der Anspruch auf Teilhabe weiterhin keine angemessene Rolle spielt bei wichtigen Reformen. So auch bei der neuen sozialindexbasierten zusätzlichen Lehrkräfteverteilung an Brennpunktschulen.

Etwa vier Kilometer Luftlinie vom Stuttgarter Rathaus entfernt, in Bad Cannstatt, ist zeitgleich mit dem Empfang der Sportler:innen eine Tagung über die mögliche Rückkehr zum neunjährigen Abitur mit gut 50 Bildungsexpert:innen, Eltern und Abgeordneten. Hier fällt das Wort Inklusion erstmals nach fast vier Stunden. Niemand im Saal findet es der Mühe wert, näher darauf einzugehen. Schade, dass Stefan Wochele nicht eingeladen war.


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