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Auf dem Platz geben sie alles

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 Fotos: Benjamin Ulmer 

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Auch im Behinderten-Fußball muss das Runde ins Eckige. Seit anderthalb Jahren gibt es die baden-württembergische Landesauswahl für Fußballer mit Handicap. In Stuttgart bereitet sich das Team auf die Deutsche Meisterschaft im Juni vor. Der Gegner: die Betriebsmannschaft des VfB. Ermöglicht hat das Martin Sowa, der seit vierzig Jahren den Inklusionssport im Land vorantreibt.

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Giuliano Stüber schnappt sich den Ball im eigenen Sechzehner, drängt nach außen und prescht an der Seitenlinie vor. Der Ball klebt förmlich an seinem Fuß. Eine Körpertäuschung, ein Übersteiger und schon ist er am Gegner vorbei. Die VfB-Betriebsmannschaft staunt nicht schlecht über den jungen Mann, der da rasant vorbeifegt. Die baden-württembergische Landesauswahl von Fußballern mit geistiger Behinderung ist gar nicht so schlecht. Und Martin Sowa grinst zufrieden.

Martin Sowa, ein schmaler Mann mit grauem Haar und herzlichem Lächeln, steht am Spielfeldrand und beobachtet seine Schützlinge. Und das mit einigem Stolz: "Inzwischen haben wir einen richtig starken Kader. Mal schauen, wie lange sie das Tempo durchhalten ..." Seit mehr als 40 Jahren strickt er in Baden-Württemberg an einem Netzwerk für inklusiven Sport. Ende der 70er ehrenamtlich als Student, später als Sonderschullehrer, seit 2013 sogar – auf Anfrage des Sozialministeriums Baden-Württemberg – hauptberuflich. Damals hat er "Bison" ins Leben gerufen, eine Organisation, die sich für Inklusion im Sport einsetzt. Bison steht für "Baden-Württemberg inkludiert Sportler ohne Norm". Finanziert wird Bison vor allem vom Land, außerdem beteiligt sich die Glücksspirale mit 24 000 Euro jährlich.

Martin Sowa verschafft Menschen mit Behinderung Zugang zu Hockeyvereinen, zu Tennisplätzen, einen seiner Sportler hat er sogar zum Profi-Armdrücker gemacht. Fußballer gibt es ebenfalls in seinem Programm, sogar besondere. Und die kicken an einem Mittwochnachmittag gegen die VfB-Betriebsmannschaft.

Im Juni tritt die Landesauswahl bei den Deutschen Meisterschaften an

Denn was den drei Regionalverbänden Württembergischer, Badischer und Südbadischer Fußballverband bisher nicht mal im nicht behinderten Bereich gelang, nämlich eine gemeinsame Landesauswahl zu schaffen, machte Martin Sowa 2013 im Inklusionssport möglich: In Zusammenarbeit mit den drei Fußballverbänden und den Behindertensportverbänden des Landes (Württembergischer Behinderten- und Rehabilitationssportverband, Badischer Behindertensportverband und Special Olympics Baden-Württemberg) gründete er eine gemeinsame Landesauswahl. Im Folgejahr trat die Auswahl erstmals bei den deutschen Meisterschaften der Länder an und erreichte auf Anhieb den fünften Platz.

Auch in diesem Jahr wollen die Jungs bei den Deutschen Meisterschaften antreten. Die finden von 8. bis 11. Juni in Salzwedel (Sachsen-Anhalt) statt, mit insgesamt zehn Auswahlmannschaften aus unterschiedlichen Bundesländern. Und natürlich wollen die Baden-Württemberger in diesem Jahr noch besser abschneiden. Deshalb legen sich die 14 Fußballer gegen den VfB auch mächtig ins Zeug. Aus allen drei Verbänden sind Spieler dabei. Giuliano, der später über den Platz fegen wird, ist extra mit dem Zug aus Freiburg angereist: "Wir sind schon morgens losgefahren", sagt er fröhlich. Seine Mutter hat er mitgebracht, und die hat die Gelegenheit gleich genutzt, um in der Landeshauptstadt ein bisschen zu shoppen.

Die meisten Spieler trainieren in Mannschaften von Behindertenschulen oder -werkstätten. Einige sind auch in "normalen" Verein aktiv, trainieren regelmäßig mit nicht behinderten Spielern und spielen auf dem Großfeld. Über das Jahr verteilt gibt es zusätzlich einige Trainingslager der Landesauswahl. Peter Reichert, früher VfB-Mittelstürmer, heute Fanbeauftragter, ist ganz angetan: "Drei, vier von den Jungs können richtig was", sagt er begeistert.

Der VfB ist Partner der Landesauswahl, hat sie mit Trikots ausgestattet oder auch mal sein Trainingsgelände für ein Testspiel gegen die Auswahl-Mannschaft des Landtags zur Verfügung gestellt. Ein Wunsch allerdings blieb bisher offen: "Unsere Spieler wollen unbedingt mal mit den Profis einlaufen", erzählt Martin Sowa. Das ist aber leider auf die nächsten vier Jahre im Voraus ausgebucht. "Peter sagte dann zu mir: 'Wir finden eine Lösung.' Und dann durften die Jungs beim Einlaufen der Profis am Kabinentunnel Spalier stehen. Die waren natürlich super happy."

Ganz konkret die Lebensqualität erhöhen

Martin Sowa ist viel unterwegs im Namen des Inklusionssports. "Morgens hier, mittags dort und abends wieder woanders", sagt er. Er vernetzt, berät, erklärt, macht Mut und kämpft gegen Schranken im Kopf, gegen die kleinen und großen Hindernisse, die Menschen mit und ohne Behinderung so oft trennen.

Manchmal sind sie leicht zu überwinden, manchmal gar nicht. "In Tübingen wollte ein Junge im Schützenverein Luftgewehrschießen. Er sitzt im Rollstuhl, und vor dem Schützenhaus dort gibt es eine kleine Treppe. Wir haben im Baumarkt eine Rampe besorgt, für vierzig Euro. Seitdem ist der Junge begeisterter Sportschütze." In einem ähnlichen Fall musste Sowa sich anhören, dass ein Umbau 10 000 Euro kosten würde und das leider zu teuer sei.

Manchmal schafft er es, einen seiner Jungs in einem Fußballverein unterzubringen. Manchmal klappt es aber auch nicht. "Die Spieler werden von ihrer Mannschaft ausgegrenzt, gemobbt. Trainer und Verantwortliche setzen sich nicht für sie ein. 'Wenn ich dich aufstelle, hab ich schon verloren', sagen manche Trainer zu meinen Spielern", ärgert sich Sowa

Als Jugendlicher war Martin Sowa begeisterter Handballer. In Reutlingen hat er Sonderpädagogik studiert. Schon während seiner Zeit an der Hochschule organisierte er Sportgruppen für Behinderte. Und erkannte, was für eine Lebensqualität Sport für Menschen mit körperlichen oder geistigen Einschränkungen bedeutet. "Die Menschen strahlen von innen heraus", sagt er, "das ist die pure Lebensfreude."

Mit seiner interaktiven Ansprache erreicht der Trainer die Mannschaft

Kurz vor sechs in der Kabine. Sowas Jungs blödeln, schimpfen über Schweißfüße, machen Witze. Aber als Trainer Fritz Quien seine Taktikansprache hält, ist es mucksmäuschenstill. "Wisst ihr noch, warum wir letztes Mal so gut gespielt haben?", fragt er in die Runde. "Wir haben gut verschoben!" "Wir müssen Pressing spielen!" "Wir haben kompakt gestanden!" "Genau, wir haben gut zusammengespielt! Wir haben als Team zusammengearbeitet, und so müssen wir auch heute spielen", fasst Quien zusammen und gibt die taktische Marschroute vor: "Kompakt stehen in der Verteidigung, Spiel breitmachen bei Ballbesitz. Und die Abwehr muss immer geschlossen aufrücken."

Auch in der zweiten Hälfte startet Giuliano einige Male zu seinen Dribblings. Aber die Stuttgarter haben sich auf ihn eingestellt, attackieren zu zweit, nehmen ihn in die Zange oder drängen ihn ab. Giuliano humpelt dann davon, seit der 25. Minute zwickt der Fuß.

Am Ende verliert die Mannschaft 3 zu 9. In der zweiten Halbzeit konnten die Jungs aus der Landesauswahl nicht mehr mithalten. Zu wenig Kondition. Noch! Bis zur Deutschen Meisterschaft bleiben aber ja noch zwei Wochen. Außerdem wird da nur zweimal 20 statt zweimal 35 Minuten gespielt, da reicht der Atem länger. Die Abseitsfalle jedenfalls hat funktioniert. Meistens zumindest.


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Ausgabe 459 / Grüne Anfänge mit braunen Splittern / Udo Baumann / vor 1 Tag 14 Stunden
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