KONTEXT:Wochenzeitung
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In runden Köpfen können sich Gedanken drehen

In runden Köpfen können sich Gedanken drehen
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 Fotos: Jens Volle 

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Datum:

Auf der Hangweide im Remstal wurden 70 Jahre lang Menschen mit Behinderung betreut. Hier soll ein modernes Wohnquartier wachsen. Seit zwei Jahren steht das Gelände leer. Und die Natur hat sich ihren Teil zurückerobert.

Zwischen Stetten und Rommelshausen, den beiden Stadtteilen der Gemeinde Kernen, zwischen der Kreisstraße 1857 und dem Beibach, eingebettet in Felder und Wiesen, liegt die Hangweide. Acht Hektar Land mit einer Kirche, mehreren Häusern und einer alten Gärtnerei. Wind streicht durch die Blätter der Bäume, ein Eichhörnchen huscht vorbei und verschwindet in einem der Büsche, die sich überall breitgemacht haben, seitdem dort keiner mehr lebt. Gräser wachsen aus Beton, Efeu an Gemäuern hinauf. Leise ist es dort. Ruhig. Als würde dieser Lost Place im Remstal schlafen.

Ute Heinle vom Heimatverein Kernen ist Architektin und eine resolute Frau. Sie hat die Bürgerbeteiligung mitinitiiert, die über die Zukunft der Hangweide mitentscheiden soll und ohne die heute kaum mehr ein Großprojekt auskommt. Sie ist begeistert von der Idee, gemeinsam etwas zu erschaffen: "Wir leben in einer Gesellschaft, die Power hat", sagt sie. "Die mitgestalten kann und will." Moritz Seifert ist ebenfalls Architekt. Leise, zurückhaltend, mit einem Kopf voller Ideen. "Wo arbeiten wir in 20 Jahren und vor allem: wie? Wo leben junge Menschen und Migranten und Alte gemeinsam?" Er zieht die Schultern hoch. Wer weiß es? Seifert wünscht sich, dass die Hangweide als Teil der IBA, der Internationalen Bauausstellung 2027, entwickelt wird. Progressiv, sagt er, mit dem Blick in die Zukunft. Ute Heinle wünscht sich für die Hangweide eine Zukunft, die die Vergangenheit nicht vergisst. Eine Moderne, die den "Genius Loci", den Geist dieses Ortes weiterträgt.

Die Hangweide ist ein kleiner Teil der Diakonie Stetten, heute eine der größten Einrichtungen zur Behindertenbetreuung im süddeutschen Raum. Ein Ort, an dem sich Höhen und Tiefen der Geschichte und der Gesellschaft im Umgang mit behinderten Menschen eingegraben haben. In 70 Jahren ist die Hangweide gewachsen. Und mit ihr die Größe und Würde im Umgang mit Menschen mit Behinderung.

Den Grundstein legte 1849 der Tübinger Arzt und Christ Georg Friedrich Müller mit der "Heil- und Pflegeanstalt für schwachsinnige Kinder" in Riet, einem Teilort von Vaihingen an der Enz. Zwei Kinder besuchten anfangs die Einrichtung. Weil sie schnell wuchs, zog sie erst nach Winterbach ins Remstal, dann ins Schloss Stetten. 1937 war die Hangweide, außerhalb des Ortes gelegen, eine "landwirtschaftliche Kolonie mit 15 männlichen Pfleglingen", so steht es in der Historie der Diakonie, es gab dort einen landwirtschaftlichen Betrieb mit Schweinezucht und Hühnerfarm.

"Schwachsinnige" sollten "lieber in eine Kaserne"

1940, in der NS-Zeit, wird die Anstalt aufgelöst. 330 Bewohnerinnen und Bewohner werden in den "Grauen Bussen" ins Konzentrationslager Grafeneck deportiert und ermordet. Die Gebäude der Anstalt Stetten werden beschlagnahmt, die Volksdeutsche Mittelstelle, ein Hauptamt der SS, zieht ein, ab 1941 die Luftwaffe, ab Ende 1943 richtet die Stadt Stuttgart dort Krankenhäuser ein. Die Gebäude auf der Hangweide werden zum Lager für die Frauen des Arbeitsdienstes und zur Katastrophenküche für Stuttgart. 

Nach dem Kriegsende baute der damalige Anstaltsleiter Ludwig Schlaich die Betreuungseinrichtung geschickt mittels Wiedergutmachungszahlungen wieder auf. Schlaich war frommer Christ, aber während des Krieges durchaus einer mit Sympathien zur NS-Ideologie. Ende der Vierzigerjahre gibt es auf der Hangweide drei Schlafsäle, ein paar Vierbett-Zimmer, einen Speisesaal. Das Geld ist knapp und die BürgerInnen von Stetten wenig begeistert: Die "Schwachsinnigen" sollten lieber in einer "ortsabgelegene Kaserne" unterkommen, auch wegen des Remstäler Fremdenverkehrs.

Aber die Hangweide blieb und wurde Mitte der Fünfzigerjahre zu klein. Ludwig Schlaich schrieb einen Architekturwettbewerb aus – die Hangweide sollte Modellprojekt werden für eine vorbildliche Unterbringung von Menschen mit Behinderung. Acht "zweckmäßige und heimelige" Wohnhäuser "für 320 Pfleglinge" waren geplant, mit "einem Gemeinschaftshaus mit großem Saal, Küche, Heizung und Hauselternwohnung und 3 Mitarbeiterwohnhäusern in einer dorfartigen Siedlung mit großen Freiflächen zum Spiel und Spaziergang".

Die Architektur sollte einfach und klar sein. Denn, so dachte man, dann sei auch für die Insassen das Leben einfacher. "Die einfache Maßstäblichkeit der Bauten und der ganzen Anlage, der ländliche Charakter all ihrer Details sollen auch dem schwerfälligsten Gemüt leicht Heimatgefühle vermitteln können. Je klarer erfaßbar die nächste Umgebung, je leichter das Zurechtfinden auch in der größeren Gemeinschaft. Der Einzelne ist hineingestellt in eine kleinere Gruppe, die er gerade noch überschauen kann", schrieb der Architekt damals.

Das Areal war umgeben von einem Zaun mit gut bewachter Pforte. Ebenfalls mittels Zaum getrennt lebten Männer und Frauen in eigenen Arealen. Unter einem Dach waren sie nur in der Kirche, dort saßen sie allerdings auch getrennt. Noch heute sieht man die beiden gesonderten Eingänge für Männer und Buben, Mädchen und Frauen. Leiter Schlaich begründet das so: "Das Familiensystem lehnten wir nach einem fehlgeschlagenen Versuch vor wenigen Jahren insofern ab, als jugendliche und erwachsene Schwachsinnige beiderlei Geschlechts dem Zusammenleben in einer Wohneinheit nicht gewachsen sind."

Alle Neubauten hatten zwei Stockwerke. Zehn Personen lebten gemeinsam in einer Wohnung auf hundert Quadratmetern, es gab keine Schlafsäle mehr, gewohnt wurde in Gruppen. Damals galt die Hangweide als vorbildlich. Vom Wohnzimmer aus ging es in ein Sechsbettzimmer, ein Vierbettzimmer, ein Einzelzimmer und die kleine Küche. Bettlägerige sollten sich nicht von der Gemeinschaft ausgeschlossen fühlen und im zentralen Wohnzimmer mit dabei sein können, so war die Idee. Im Alltag zeigte sich schnell, dass dieses Konzept auf so beengtem Raum nicht aufgehen konnte.

Im Gegensatz zur Betreuungseinrichtung im Ort lebten auf der Hangweide Menschen, die damals als "nicht ausbildungsfähig" und "nur beschränkt arbeitsfähig" galten. Der Tagesablauf war streng geregelt, wer konnte, arbeitete mit, um die Einrichtung am Laufen zu halten – kochen, Gemüse schneiden, Wäsche machen, putzen. Es herrschte ein oft harsches Regiment, denn wichtig war nicht das Wohlergehen des Einzelnen, sondern dass die Gruppen in den überfüllten Räumlichkeiten möglichst reibungslos funktionierten. Bedingt durch Enge, den immer gleichen Tagesablauf, Überforderung und oft herausforderndes Verhalten der Bewohner war das kaum machbar.

Ein Dorf mit einem Zaun drumherum

Die dörfliche Struktur, umgeben von einem Zaun, schuf einen ganz eigenen Kosmos, in den nur wenig hinein und noch weniger durch die große Pforte am Eingang hinauskam. Die Hangweide war eine in sich geschlossene Welt. Sie galt teils sogar als Abschreckung unter denen, die im Ort lebten: Wer nicht brav war, so wurde gedroht, käme auf die Hangweide.

War Behinderung in den Fünfzigerjahren vor allem individuelles Schicksal und betroffene Menschen abseits der Gesellschaft untergebracht, wurde das Thema mit dem Contergan-Skandal 1960/61  zu einem medial und gesellschaftlich breit diskutierten. Die Wahrnehmung von und die Situation für Menschen mit Behinderung veränderte sich grundlegend.

1964 rief das ZDF die "Aktion Sorgenkind", heute "Aktion Mensch", ins Leben. Bereits Ende 1958 hatte sich die "Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind" gegründet, die sich auf die Fahnen geschrieben hatte, sich für ein gemeinsames Leben behinderter und nichtbehinderter Menschen einzusetzen. Behinderung war nicht länger ein Thema, das hinter verschlossenen Türen stattfand.

Auf der Hangweide pflanzten sie zu dieser Zeit die Bäume, die heute wuchtig und grün zwischen den verfallenden Häusern stehen.

Auch das Leben auf der Hangweide änderte sich. Ludwig Schlaich übergab die Leitung an seinen Sohn Peter, der 1973 ein Therapiezentrum bauen ließ. Das neue Credo hieß: fördern und therapieren. Das, was der einzelne Mensch konnte, stand im Vordergrund, nicht das, was er nicht konnte.

Die Hangweide schottete sich weniger ab: Das Schwimmbad war öffentlich, auch Schulklassen kamen hierher. Für Kindergeburtstage konnte man sich Luftkissen mieten.

Es gab eine Turnhalle, Räume für Krankengymnastik, für Bäder und Kneippanwendungen. Gestalt- und Spieltherapie wurde angeboten, der Esslinger Lions-Club spendete rund 5000 D-Mark für eine Musiktherapie. Sogar eine Kegelbahn gab es. Werkstätten entstanden, in denen die Menschen, die auf der Hangweide lebten, Fliegenklatschen und Ölfilter herstellten. Aus dem Verwahren so vieler Leben über Jahrzehnte wurde aktive Beschäftigung mit wertschätzendem Konzept.

Spätestens seit 2008, als die UN-Behindertenrechtskonvention die "Inklusion" zum Menschenrecht erklärte, war die als "Dorf" konzipierte Hangweide als geschlossener Bereich aus der Zeit gefallen.

Mittlerweile gehört das Gelände, das leise und verschlafen daliegt, der Gemeinde Kernen, der Kreisbaugesellschaft Waiblingen und der LBBW Immobilien Kommunalentwicklung, und soll mit den Kerner BürgerInnen entwickelt werden. Rund 50 von ihnen haben in drei Workshops einige Leitgedanken für das Hangweide-Areal erarbeitet:

Die Hangweide soll "als sozialgemischtes, urbanes, dichtes Wohngebiet mit guter Infrastruktur", bebaut werden. "Ein lebenswertes Quartier zum Wohnen und Arbeiten unter Berücksichtigung neuer Wohnformen. Es soll dort Platz sein für Menschen, die so autofrei als möglich leben wollen und die sich freiwillig um Inklusion und Toleranz bemühen. Das Gebiet soll in Respekt vor der Geschichte der Hangweide entwickelt werden, die an ausgewählten Orten erfahrbar bleiben wird."

Im "Genius Loci", dem Geist dieses Ortes, sollen die vielen Bäume, die die Bewohner an diesem Ort einst gepflanzt haben, möglichst stehen bleiben.

Das war 2018. Mittlerweile ist bekannt, dass etwa 60 000 Quadratmeter Wohnfläche entstehen müssen, damit sich das Vorhaben für die Projektpartner lohnt.

"Wir dürfen Grund und Boden nicht als Handelsprodukt ansehen", sagt Ute Heinle vom Heimatverein. Und: "Wir wollen die Köpfe rund machen, dass Gedanken sich drehen können." Architekt Moritz Seifert nickt. "Denn viele Köpfe sind noch zu eckig."

 

 


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