Hunderte verschiedene Formen von Kleinwuchs sind bekannt, bundesweit rund 100.000 Menschen betroffen. Im alten Ägypten wurden Wachstumsstörungen als "göttliche Gabe" angesehen, Diskriminierungen waren weitgehend unbekannt. Im modernen Deutschland dagegen wartet eine normierte Welt darauf, erobert zu werden, weil so vieles nicht passt. "Der Stuhl, auf dem wir sitzen, die Tür, durch die wir gehen, die Höhe der Waschbecken, der Stufen, die Küchengeräte, die Portionen im Restaurant" – Simone Fischer hat viele Beispiele parat, um das Bewusstsein all jener zu schärfen, auf die diese Standards zugeschnitten sind.
Fischer, 45 Jahre alt und Spitzenbeamtin mit Studium an der Verwaltungshochschule in Kehl, hat ein feines Gespür dafür entwickelt, wann ihr Auditorium die Bedeutung der alltäglichen Einschränkungen verstanden hat und wann Informationen als Klagen wahrgenommen werden könnten. Und klagen will sie in keiner ihrer Rollen, nicht als Beauftragte der Landesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, wie ihr Amt offiziell heißt, nicht als grüne Stuttgarter Stadträtin, nicht als Wahlkämpferin und schon gar nicht beim Blick auf ihre persönlichen Erfahrungen.
Kleinwüchsige Menschen gehen oft unter
"Ich hatte Glück und habe schließlich selbstverständlich dazugehört", erzählt Fischer aus ihrem Leben. Aufgewachsen ist sie in einem 300 Einwohner zählenden Teilort von Osterburken im nördlichen Baden. Inklusion im Kindergarten war schon deshalb geboten, weil es keinen Alternativkindergarten gab. Später in der Schule wurde die Familie in ihrem Engagement gegen Ausgrenzung unterstützt, von Lehrkräften und einer Rektorin, sogar bei der Verteilung der einzelnen Klassenzimmer. Das des fünf Jahr älteren Bruders war auf derselben Etage, so dass er schnell zur Stelle sein konnte, sollte jemand seiner kleinen Schwester blöd kommen.
Natürlich ziehen sich einschlägige Ereignisse wie ein roter Faden durch ihr Leben. Allein ihr Auftreten und ihre Anwesenheit sorgen für Irritationen, für Unverständnis, für Unverschämtheiten. Daraus speist sich aber auch Fischers Motivation und Kraft, die unterschiedlichen Lebenswelten sichtbar zu machen. Kleinwüchsige Menschen laufen immer Gefahr, im Gedränge unterzugehen, auf Empfängen, auf Demos oder an der Kasse im Supermarkt. "Der Wahlkampf wird aufregend", weiß sie schon aus den Wochen vor der Kommunalwahl im Frühsommer.
Das Ergebnis war mit gut 87.000 Stimmen und damit dem siebten Platz in der ganzen Stadt nicht nur aus Sicht der Grünen überaus zufriedenstellend. Viele positive Reaktionen hätten sie erreicht, berichtet Fischer, ebenso wie vor wenigen Tagen, als sie ihre Bewerbung für die Kandidatur im Bundestagswahlkreis Stuttgart I öffentlich machte. "Ich trete an, weil wir aus Stuttgart weiterhin eine kraftvolle, klare Stimme im Bundestag brauchen", schreibt sie, "eine Stimme, die für alle spricht, auch für jene, die oft nicht gehört werden."
Allen ihren Rollen ist gemeinsam, dass sie in Theorie und Praxis auf einen noch immer riesigen Nachholbedarf stößt, weil Teilhabe nicht einmal in Ansätzen selbstverständlich ist. Baden-Württemberg hat in vielen einschlägigen Bereichen die rote Laterne gepachtet. Über Jahrzehnte mussten Eltern um einen Platz im Regelkindergarten für den Sohn oder die Tochter mit Einschränkungen kämpfen. Immer neue Gruppen von Landtagsabgeordneten reisten nach Skandinavien oder Südtirol, um zu erleben, wie Inklusion dort wirklich funktionieren kann. Umgesetzt werden die mitgebrachten Erkenntnisse, zum Beispiel zur Integration schwerkranker oder geistig behinderter Kinder und Jugendlicher sogar in Gymnasien, aber nicht.
Hängepartie um das Gleichbehandlungsgesetz
Im Gegenteil: In Pforzheim beispielsweise werden mit dem Neubau einer Schule für geistig, körperlich und motorisch stark eingeschränkte Kinder sogar die überkommenen Strukturen zementiert. Immer wieder muss Fischer darauf hinweisen, dass das baden-württembergische Förderschulkonzept der UN-Behindertenrechtskonvention widerspricht. Immer wieder hört sie das Argument, viele Eltern wollten den Regelunterricht für ihr Kind eben nicht. "Das bremst die guten Ansätze aus", sagt sie, um sich gleich zu verbessern: "Wir werden weiterkommen, aber es dauert alles viel zu lange." Dabei könnten gerade in der frühkindlichen Bildung und in der Grundschule die Weichen gestellt werden für mehr gegenseitiges Verständnis. Aus Südtirol wissen alle Bildungs-, Sozial- oder Wirtschaftspolitiker:innen, die jemals dort waren, dass es etwa eineinhalb Generationen dauert, bis dieses neue Verständnis tatsächlich am Arbeitsplatz, an der Supermarktkasse, im Amt ankommt. Nicht einmal die Integration aller Kinder mit Lernschwäche in die allgemeinen Grundschulen kommt entscheidend voran.
0 Kommentare verfügbar
Schreiben Sie den ersten Kommentar!