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Einfach Heidelberg

Journalismus für alle

Einfach Heidelberg: Journalismus für alle
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Auch Menschen mit Behinderung haben das Recht auf Information. Doch verständliche Nachrichten sind rar. Dass es anders geht, zeigt die inklusive Redaktion von "Einfach Heidelberg". Dort recherchieren Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam.

Armin Unruh gerät ins Stocken. Bisher konnte er den Text recht flüssig vorlesen. Doch bei "geometrische Bauart" fliegt er raus. "Das ist aber sehr schwere Sprache", kritisiert Willi Jakob, der Unruh in einem Vereinsheim in Heidelberg gegenübersitzt. Die inklusive Redaktion von "Einfach Heidelberg" arbeitet gerade an einem Text. Es geht um die Weihnachtsbeleuchtung in der Innenstadt. Dort haben die Stadtwerke unter anderem "Herrnhuter Sterne" aufgehängt – ein Begriff, den niemand kennt. Redaktionsleiter Moritz Damm öffnet den Eintrag bei Wikipedia. Doch der hilft der Gruppe nicht weiter. "Wenn ich das Kleingedruckte nur lesen könnte", seufzt Rainer Saegert – halb im Scherz, halb im Ernst. Mal eben im Internet eine Information recherchieren: Für viele Redaktionsmitglieder von "Einfach Heidelberg" ist das ohne Hilfe nicht möglich.

Jeder Mensch hat das Recht auf Information – laut Artikel 21 der UN-Behindertenrechtskonvention ausdrücklich auch Menschen mit Behinderung. Doch Nachrichten, die Personen mit Lese- und Lernschwierigkeiten verstehen können, sind in Deutschland rar. "Als wir vor sieben Jahren angefangen haben, gab es im Wesentlichen zwei Angebote", erinnert sich Moritz Damm: eins vom "Deutschlandfunk", eins von der taz. Lokaljournalismus in Leichter Sprache? Fehlanzeige. Damm schätzt, dass in Heidelberg etwa 20.000 Menschen mit Behinderung leben. Nicht alle haben Probleme, Nachrichten zu verstehen: Wer eine Gehbehinderung hat, kann selbstverständlich Zeitung lesen. Doch es gibt auch Menschen wie Armin Unruh, Willi Jakob, Rainer Saegert und Karin Wilkowski, die heute zur Redaktionssitzung gekommen sind. Sie brauchen keine Aufzüge oder Rampen – aber kurze Sätze, große Schrift und einfache Wörter.

In Wohngruppen ist Internet nicht selbstverständlich

"Wie eine Demokratie den Zugang zu Informationen gestaltet, entscheidet darüber, wie barrierefrei sie ist", findet Damm. 2016 hat der gelernte Journalist die inklusive Redaktion von "Einfach Heidelberg" gegründet. Einmal pro Woche treffen sich fünf bis acht Personen im Vereinsheim der Sportgemeinschaft Heidelberg-Kirchheim, das die Gruppe kostenlos nutzen kann. Manche haben eine Behinderung, andere nicht. Ihr Ziel: Mindestens einmal pro Woche auf www.einfach-heidelberg.de verständliche Nachrichten über die Universitätsstadt veröffentlichen. Anders als Wikipedia ist die Seite barrierearm: Man kann sie vergrößern und vorlesen lassen. Es gibt viele Absätze und Bilder. Außerdem sind alle Texte in Leichter Sprache, die ganz bestimmten Regeln folgt: Jeder Satz darf nur eine Aussage enthalten. Nebensätze sind tabu. Lange Wörter werden mit einem Medio·punkt getrennt, schwierige Begriffe vermieden oder zumindest erklärt. Allerdings: Ein Internetzugang ist für viele Menschen mit Behinderung nicht selbstverständlich – vor allem, wenn sie in einer Wohngruppe leben. "Das ist ein riesiges Problem", gesteht Damm. "Aber das können wir alleine nicht lösen." Ein Online-Magazin habe auch Vorteile: Leichte Sprache braucht zum Beispiel viel Platz. Ein Heft zu drucken, wäre daher teuer. Und eine Mouseover-Funktion gibt es in der Zeitung nicht: Fährt man auf der Seite von "Einfach Heidelberg" mit der Maus über ein schweres Wort, erscheint direkt daneben die Erklärung.

Dass möglichst viele Menschen die Artikel auf der Seite verstehen, ist nur ein Ziel des Projekts. Mindestens genauso wichtig: Hier entscheiden Menschen mit Behinderung selbst, welche Themen sie interessieren – und übersetzen nicht bloß die Artikel von anderen. Sie verschicken Anfragen, führen Interviews, fotografieren und feilen an Texten. Unterstützt werden sie dabei von Menschen ohne Lese- und Lernschwierigkeiten. Anfangs waren das vor allem Studierende der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, mit der Damm das Konzept für die Redaktion und die Internetseite entwickelt hat. Mittlerweile ist neben Damm, der beim Karlsruher Onlinemagazin "ka-news" volontiert hat und für die Grünen-Fraktion im Heidelberger Gemeinderat arbeitet, zum Beispiel eine Wissenschaftsjournalistin im Team. Gemeinsam haben sie bereits Artikel über Bürgerentscheide, Stolpersteine, die Fastnacht, Klimaschutz, diverse Wahlen und Corona geschrieben. Gerade war eine Aktivistin der Letzten Generation zu Besuch. Einige Wochen zuvor ging ein Beitrag über E-Roller online. Willi Jakob ist besonders ein Beitrag über den Landtag in Erinnerung geblieben, für den die Redaktion nach Stuttgart fuhr.

Richtige Fotos statt kindlicher Cartoons

Das Thema Inklusion kommt dagegen auffallend selten vor. "Menschen mit Behinderung interessieren sich auch für Politik, Gesellschaft oder Sport", betont Damm. Dass es das Konzept Leichte Sprache überhaupt gibt, erfuhr er von seiner Frau, die mit Menschen mit Behinderung arbeitet. Damm fand das spannend. Die wenigen journalistischen Angebote, die es damals gab, überzeugten ihn jedoch nicht: "Wenn es überhaupt Artikel gab, hatten sie fast immer mit Inklusion zu tun."

Bei "Einfach Heidelberg" sollte das anders sein: "Wir wollen Informationen für erwachsene Menschen machen. Das hat auch etwas damit zu tun, wie ernst man diese Menschen nimmt", erklärt der 40-Jährige. Auf der Internetseite gibt es deshalb keine bunten, kindlichen Cartoons, wie sie bei Angeboten in Leichter Sprache oft üblich sind. "Wir benutzen richtige Fotos. Die bilden die Situation besser ab und sind ansprechender", sagt Damm. Die Anschubfinanzierung für das Projekt kam aus Spenden und von Stiftungen. Träger von "Einfach Heidelberg" ist ein gleichnamiger, gemeinnütziger Verein mit etwa 30 Mitgliedern, der auch Kurse zu Leichter Sprache anbietet.

Weil die Redaktion komplett ehrenamtlich arbeitet, vergehen von der Idee bis zum fertigen Artikel meist Wochen. Immer wieder stößt das Team bei den Recherchen auf Hürden. Bei Anfragen bitten sie ihr Gegenüber etwa grundsätzlich darum, in Leichter Sprache zu antworten. Das klappt selten – sehr zum Ärger von Willi Jakob. "Das ist unmöglich, dass die überhaupt so schwere Sprache benutzen", findet er. Bis die Redaktion Schachtelsätze entwirrt, Fachbegriffe verstanden und PR-Sprech entlarvt hat, dauert es. Immerhin: Die Stadt Heidelberg schickt mittlerweile immer eine "normale" und eine einfache Version.

Anders als ihre Gesprächspartner:innen können die Redaktionsmitglieder sich beim Schreiben nicht hinter Worthülsen verstecken. "Leichte Sprache ist ganz schön schwer", sagt Damm. "Man muss sich festlegen, was man meint." Immer wieder diskutiert die Redaktion an diesem Donnerstag, welches Wort am besten passt, welchen Begriff mehr Menschen verstehen. Hat der "Herrnhuter Stern" eher Spitzen, Strahlen oder Ecken? Ist das Wort Weihnachtsbeleuchtung zu lang?

All das braucht Zeit und Ressourcen – die viele Medienhäuser lieber anders investieren. Sieben Jahre nach der Gründung ist "Einfach Heidelberg" in Deutschland immer noch ziemlich einmalig. "Nachrichten in Leichter Sprache gibt es nach wie vor wenige", sagt Damm – inklusive Redaktionen so gut wie gar nicht. Neben "Einfach Heidelberg" fällt ihm das Bonner Magazin "Ohrenkuss" ein, für das Menschen mit Down Syndrom schreiben. In Österreich startete vergangenes Jahr das Online-Magazin "andererseits", bei dem Journalist:innen mit und ohne Behinderung arbeiten. Wie so oft sind es auch in Sachen Inklusion die kleinen, unabhängigen Projekte, die die Medienbranche voranbringen. Damm hofft, dass die Großen irgendwann mitziehen – allen voran der öffentlich-rechtliche Rundfunk. Dass ein anderer, verständlicher Journalismus möglich ist, hat "Einfach Heidelberg" längst bewiesen.

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