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Gedenken an rechte Gewalt

"Auch Trauer muss man überleben"

Gedenken an rechte Gewalt: "Auch Trauer muss man überleben"
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Das Stück "Als wäre es gestern gewesen" am Mannheimer Nationaltheater gedenkt der Opfer und Überlebenden rechter Gewalt in Deutschland. Mit Liedern aus deren Leben rückt Regisseurin Ayşe Güvendiren die Gesichter Betroffener ins Rampenlicht, die neben den Täter:innen oft anonym bleiben.

Ayşe Güvendiren, 1988 in Wien geboren und in München aufgewachsen, studierte von 2017 bis 2021 an der Otto-Falckenberg-Schule München Regie. Mit ihrer Diplomarbeit "R-Faktor. Das Unfassbare" gewann sie den Preis Studio Junge Regie 2021 der Körber-Stiftung und war zu Fast Forward 2021 eingeladen, dem europäischen Festival für junge Regie. In der Kritiker:innenumfrage 2020/21 in "Theater heute" erhielt Güvendiren eine Nennung als beste Nachwuchskünstlerin in der Kategorie Regie. 2023 entstand unter ihrer künstlerischen Leitung das theatrale Projekt "Jahr der Erinnerungskultur" am Stadttheater Gießen.  (red)

Ayşe, in deinem Stück geht es um rassistische Morde und Anschläge. Das ist ein schweres Thema. Wie kamst du dabei auf einen Liederabend?

Ich habe mir viele Gedanken darüber gemacht, über das Erinnern und Gedenken. Dabei habe ich mir die Frage gestellt, wie man mehr die Menschen in den Vordergrund rücken kann, die aus ihrem Leben gerissen wurden, und weniger die Gewalt. Diese Produktion ist eine Art Versuchsreihe für mich. Der Versuch, einen Gedenkabend zu gestalten, der die Gewalt – soweit es geht – ausklammert und die Leben, die Geschichten, die Träume, die Sehnsüchte der Betroffenen in den Fokus nimmt. Darauf habe ich dann ganz schnell positive Rückmeldungen bekommen. Dass die Familien den Gedanken total schön finden, ihre Liebsten nicht auf die Gewalt zu reduzieren, die ihnen widerfahren ist, sondern ihre Lebensgeschichten zu erzählen.

Ist dieser Versuch ein Erfolg?

Es ist kompliziert. Jeder Spieltermin ist anders, die Reaktionen variieren von Vorstellung zu Vorstellung. Es liegt themenbedingt eine Schwere in der Luft. Wie darf ich als Zuschauer:in reagieren? Darf ich lachen? Kann ich wirklich mitklatschen? Geschweige denn mitsingen? Bin ich tatsächlich dazu eingeladen und dazu legitimiert die Lebensfreude und Lebensgeschichten dieser Menschen an diesem Abend mitzufeiern? Ein Potpourri aus Gefühlen.
Auch für die Familien. Die Trauer ist da. Der Verlust ist wieder sehr präsent, wenn er denn jemals nicht präsent gewesen ist. Aber auch ein Stück Zuversicht, ein Stück Empowerment, ein Stück Freude irgendwie.

Für einen 2006 vom NSU Ermordeten: Barış Manços Yaz Dostum, "Schreib nieder, mein Freund".

Und spätestens dann, wenn die Überlebenden und Angehörigen beginnen, an diesem Abend zu feiern, beginnt etwas Magisches. Für einen Moment ist die Schwere durchbrochen. Eine Anna und eine Ayşe sitzen Schulter an Schulter im Publikum und beklatschen gemeinsam beispielsweise Barış Manços "Yaz Dostum", eines der Lieblingslieder von Mehmet Kubaşık, der 2006 vom NSU ermordet wurde. Ich glaube, es ist uns geglückt, mit diesem Abend zu sagen: "Ja, sie wurden Opfer von rechter und rassistischer Gewalt – aber hey, das waren Menschen." Ich möchte, dass dieses Wissen Teil der kollektiven Erzählung wird, dass man über diese Menschen mehr weiß, als dass sie Opfer von XYZ wurden in irgendeiner Mordserie.

Wie stehen denn die Lieder mit den Betroffenen in Verbindung? Wie kamen sie in das Stück?

Über die Familien. Ganz überwiegend von Töchtern tatsächlich, oder von Brüdern. Bei Sammy Baker, der 2020 in den Niederlanden von der Polizei erschossen wurde, waren es die Tante, Cousine und die Mama. Bei Zweien sind es Initiativen, die wir kontaktiert haben. Sie haben uns zum Beispiel gesagt: "Wir wissen, dass diese Lieder gerne von diesen Menschen gehört wurden. Wir würden sie gerne an diesem Abend mit diesem Lied ehren und sie so in Erinnerung rufen mit der Lebensfreude, die sie hatten." Diese Menschen sind ja selbst Betroffene. Betroffen ist man ja nicht nur, wenn man ermordet wird, sondern auch, wenn man einen liebsten Menschen verliert. Betroffen ist man auch, wenn man den Anschlag überlebt. Egal ob man an dem Tag wirklich mit dabei war. Auch Trauer muss man überleben.

Şımarık von Tarkan, "Frechdachs".

Eines der Lieder ist der Pop-Song "Şımarık" von Tarkan. Das ist ein ganz schöner Ohrwurm.

Ich glaube, genau das ist die Stärke dieses Abends. Es gibt Lieder, mit denen man nicht rechnet. Auch die Schauspieler:innen und das Team waren irritiert. Bevor wir uns den Liedern gewidmet haben, haben wir uns erstmal mit der Thematik beschäftigt. Was ist diesen Menschen widerfahren? Was gab es in den Medien? Was haben sie gesagt, bei welcher Gedenkveranstaltung wurde welche Rede gehalten?

Und dann kam auf einmal Semiya Şimşek, die Tochter von Enver Şimşek, dem ersten Opfer des NSU, und wünscht sich "Şımarık" – wie geht das zusammen?
Semiya Şimşek verbindet eben etwas ganz Besonderes mit dem Song. Und zwar, dass das ihre erste CD war und ihr Papa ihr das Geld dafür gegeben hat. Das hat ja was zu bedeuten, wenn diese Frau sagt: "Eigentlich fällt mir da direkt ein Song ein – ich weiß nur nicht so recht, ob der passt …" Wieso sollte er nicht passen? Ich selbst werde diesen Song jedenfalls nie mehr ohne Bezug zu Semiya und Enver Şimşek hören können.

"Şımarık" ist, wie viele andere Songs des Abends, auf Türkisch. Außerdem gibt es Lieder auf Griechisch, Vietnamesisch, Wolof und Jiddisch. Sprechen die vier Akteur:innen diese Sprachen?

Nein. Wir haben ein englisches Lied dabei – "Nothing" –, alle anderen Sprachen werden von niemandem auf der Bühne gesprochen. Sie waren den Schauspieler:innen komplett fremd und sie haben sie sich mit viel Mühe, Arbeit und sehr viel Konzentration neu aneignen müssen. Wir hatten Sprach-Coaches da – Türkisch habe ich übernommen, weil ich recht gutes Türkisch spreche –, aber für Griechisch, Vietnamesisch, Wolof und Jiddisch haben wir Leute dazugeholt. Viele Stunden haben wir mit ihnen nur an der Aussprache der jeweiligen Liedtexte gearbeitet. Ich finde das total wichtig. Ich möchte, dass das Publikum die Mühe sieht, die wir uns gemacht haben. Das braucht dieser Liederabend. Es geht eben nicht nur um schöne Klänge, sondern auch darum, dass wir uns die Mühe in der Sprache und in der Vermittlung der Inhalte geben.

Lejb Rosenthal: Mir lebn eybik, "Wir leben ewig".

Wie sind die Schauspieler:innen mit dieser Herausforderung umgegangen?

Mit einer großen Ehrfurcht. Aber auch mit viel Lust. Ich hatte zu Anfang die Möglichkeit offengelassen, Notenständer mit auf die Bühne zu nehmen. Vor allem bei der Premiere, als Absicherung. Aber für die Schauspieler:innen war von vornherein klar: "Nein, das möchten wir nicht. Wir möchten diese Lieder lernen und wir möchten diese Lieder gut performen. Dazu, diese Menschen zu ehren, gehört für uns auch, dass wir ihre Songs auswendig können."

Du hast in der Vorbereitung viel mit Angehörigen und Überlebenden gearbeitet. Ein paar von ihnen kamen auch zur Premiere. Wie lief diese Zusammenarbeit?

Das ist ein ganz großes Thema. Natürlich wollen und sollen die Familien teilhaben. Das sind oft Familien, die schwer traumatisiert sind, die Verluste erlebt haben, die sie ein Leben lang begleiten werden und die sie aufarbeiten müssen. Manche können nicht mehr arbeiten oder nur wenig, und dementsprechend haben sie vielleicht die Ressourcen nicht, um sich beispielsweise die Fahrtkosten leisten zu können oder ein Hotel. Was ist mit einer gewissen Aufwandsentschädigung für diese Familien? Das sind alles Themen, die komplett neu sind fürs Theater. Es bedeutet so viel mehr, einen solchen Abend zu machen, als nur eine Theaterpremiere über die Bühne zu bringen.

Unter den Opfern sind Menschen, die vom NSU ermordet wurden. Es sind aber auch Leute dabei, die wurden von der deutschen Polizei erschossen. Wie geht diese Spannbreite thematisch zusammen?

Das ist die Spannbreite, die es braucht. Wenn man über rechte und rassistische Gewalt spricht, habe ich da nicht nur einen Skinhead im Kopf, mit Boots und Glatze und Knüppel in der Hand. Polizeigewalt ist ein riesiges Thema in Deutschland. Hier in Mannheim wurde Ante P. im Mai 2022 bei einem Polizeieinsatz getötet, da läuft gerade ein Verfahren wegen fahrlässiger Tötung. Dieser Mensch wurde aus dem Leben gerissen. Er war psychisch labil, da hätte es eine gewisse Vorsicht, eine gewisse Sorgfalt gebraucht. Die hat dieser Mensch nicht bekommen. Genauso wie bei Mouhamed Dramé, der 2022 von der Polizei in Dortmund erschossen wurde, oder Sammy Baker: Die Polizei wurde jeweils dazugeholt, um ihnen zu helfen. Um sie mitzunehmen und sicherzustellen, dass ihnen nichts passiert. Und letztlich wurden die Beamten zu den Henkern dieser Menschen. Die Polizei ist eben nicht jedermanns Freund und Helfer. Ich finde, das fällt viel zu leicht unter den Tisch. Auch in Institutionen ist struktureller Rassismus verbreitet.


Ayşe Güvendirens Stück "Als wäre es gestern gewesen – Lieder zum Gedenken an Betroffene rechter und rassistischer Gewalt" wird am Freitag, 29. Dezember 2023 und Samstag, 6. Januar 2024 am Nationaltheater Mannheim aufgeführt. Weitere Termine und Infos hier.

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