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Schule und Inklusion

Die vergessene Verpflichtung

Schule und Inklusion: Die vergessene Verpflichtung
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Im Wahlprogramm der baden-württembergischen Grünen hieß es 2021: "Wir stehen für den Vorrang inklusiver Beschulung." Die Realität sieht anders aus: Der Plan, Kinder mit und ohne Beeinträchtigungen gemeinsam zu unterrichten, kommt in den aktuellen Bildungskompromissen überhaupt nicht mehr vor.

Winfried Kretschmann nutzte kürzlich in seiner Regierungserklärung im Landtag viele schöne Worte zum Bildungs-Reformpaket, das Baden-Württemberg in den einschlägigen Ländervergleichsstudien wieder nach oben katapultieren soll. Partizipation, Verantwortung oder Gerechtigkeit sind Leitbegriffe. Schüler:innen werden nicht nur vom künftigen allgemeinbildenden G9 profitieren, sondern dazu von einer attraktiveren zweiten Säule neben dem Gymnasium, wie auch immer Haupt-, Werkreal-, Real- und Gemeinschaftsschulen sich künftig in neuen Verbünden und Kooperationen zusammenwürfeln. An Konkretisierungen im Detail fehlt es erheblich. Was mit daran liegt, dass der Druck von vielen Seiten so groß ist.

Nicht einmal erwähnt aber wird eine Gruppe, die besondere Beachtung sehr verdient. In seinen immerhin fast 40 Minuten währenden Überlegungen spart der Ministerpräsident sie stattdessen aus, und die veröffentlichte Meinung über das "politische Wunder" (so die "Stuttgarter Zeitung" über die Einigung der beiden Koalitionsparteien auf einen Kompromiss in der Schulpolitik) macht einen großen Bogen um das Thema Regelunterricht für die, die ihm nicht ohne Unterstützung folgen können. Dass Baden-Württemberg seit Jahren zentrale Versprechen zum inklusiven Lernen bricht, läuft unterm Radar. Bei Terminen mit einschlägigen Verbänden, in Diskussionen, sogar in Antworten auf Protestbriefe versuchen Verantwortliche, den fatalen Rückstand mit Lippenbekenntnissen an den Rand der Wahrnehmung zu drücken. "Ist bei uns in guten Händen" wird getönt oder "Wir wissen um die Herausforderung".

Die Vorteile lassen CDU und FDP links liegen

Wie für alle Versäumnisse im zerklüfteten Schulsystem des Landes gilt für die Umsetzung der 2009 von Deutschland ausdrücklich mit für die Bundesländer unterzeichneten UN-Behindertenrechtskonvention: Hauptverantwortlich für den Reformstau sind CDU und FDP. Überhaupt erst 2015 schafften Grüne und SPD die Sonderschulpflicht ab, öffneten alle Schulen damit für Kinder und Jugendliche mit Behinderung. Monika Stolz, CDU-Sozialministerin bis 2011, war sogar kühn genug, der neuen grün-roten Landesregierung bei der Verabschiedung des Gesetzes vorzuwerfen, sich zu viel Zeit gelassen zu haben. Um die eigenen, in Wahrheit peinlich mageren Modelle und Versuche umso lauter zu loben.

Vor allem aber wollten Stolz und viele andere Bildungs- und Sozialpolitiker:innen von CDU und FDP von dem Grundirrtum nicht lassen, nur der parallele Erhalt von Förderschulen werde Betroffenen gerecht und das hohe Niveau der Unterstützung garantieren. Liberale pochten sogar immer weiter und verbunden mit scharfer Kritik an Grün-Rot auf eine Bestandsgarantie für die Zweigleisigkeit. "Inklusion ist kein Selbstzweck", sagte Stolz in vielen Reden, in denen sie die Vorzüge des gemeinsamen Unterrichts für Kinder und Jugendliche mit und ohne Einschränkungen konsequent links liegen ließ. Ganz zu schweigen von jenen für die Gesellschaft. Grün-Rot ließ die Legislaturperiode von 2011 bis 2016 aber eben auch verstreichen, um die Weichen ein für alle Mal richtig zu stellen, um das Regelangebot hoch- und das Förderangebot zurückzufahren. "Inklusion ist ein Grundrecht", sagt die schulpolitische Sprecherin der SPD-Landtagsfraktion Katrin Steinhülb-Joos heute, "und überhaupt nicht verhandelbar."

Hinlänglich belegt ist, wie wichtig der gemeinsame Unterricht gerade dort wäre, wo er viel zu selten stattfindet: am Gymnasium – zum Beispiel am "Elly", dem Elly-Heuss-Knapp-Gymnasium in Bad Cannstatt. Schulleiter Norbert Edel erläutert, wie Inklusion als Grundhaltung zu verstehen ist. Wie in Zusammenarbeit mit der Helene-Schöttle-Schule und dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung voneinander gelernt wird. "Wir leben Gemeinschaft, inklusiv und kreativ", heißt einer der Leitsprüche. Und das schon seit 2015. Wäre dies selbstverständlich an Gymnasien im Land, würden künftige Eliten mit den Potenzialen konfrontiert, die sich im kooperativen Umgang entfalten können, und vor allem mit den Fähigkeiten von Menschen mit Einschränkungen. So würden sie später als Arbeitgeber:innen oft ganz anders reagieren: mit mehr Wissen und mehr Empathie.

Nachholbedarf weit über Schulen hinaus

Simone Fischer, die Behindertenbeauftragte der Landesregierung, kennt die Zahlen genau, die den Nachholbedarf weit über das Schulleben hinaus unterstreichen. In 40 der 44 Stadt- und Landkreis erfüllen die dort ansässigen Unternehmen durchschnittlich die Schwerbehindertenquote nicht. Fast 380.000 schwerbehinderte Menschen sind im erwerbsfähigen Alter, nur 140.000 davon sozialversicherungspflichtig beschäftigt, aber 16.000 arbeitslos. Insgesamt wäre das Reservoir an Fachkräften aber noch bedeutend größer. Die "Aktion Mensch" hat zum 15. Jahrestag der UN-Konvention eine Übersicht vorgelegt, wonach in Baden-Württemberg weiterhin über 70 Prozent der Jugendlichen die in Baden-Württemberg umständlich "Bildungs- und Beratungszentren" (SBBZ) genannten Förderschulen ohne anerkannten Bildungsabschluss verlassen.

Rund um den Jahrestag ist auch das für einschlägige Überprüfungen zuständige Deutsche Institut für Menschenrechte aktiv geworden. "Wir sind zutiefst besorgt", heißt es im jüngsten Monitoringbericht, "denn rückschrittliche Politiken und Maßnahmen nehmen in den Bundesländern zu." Zwar habe sich seit Inkrafttreten der UN-Konvention der Anteil beeinträchtigter Kinder und Jugendlichen an Regelschulen von 20 auf 44 Prozent mehr als verdoppelt. Trotzdem hielten noch immer zu viele Bundesländer an Exklusion statt Inklusion und den Sonder- oder Förderschulen fest. Ohne ein inklusives Bildungssystem, "in dem Menschen mit und ohne Behinderungen gemeinsam lernen, kann der Aufbau einer inklusiven Gesellschaft aber nicht gelingen und das Recht auf inklusive Bildung nicht eingelöst werden". Das Statistische Landesamt (Stala) erwartet sogar, dass bis zum Ende des Jahrzehnts die Zahl der Kinder und Jugendlichen an den SBBZen bei 58.000 liegen wird, während nur 12.200 Regelschulen besuchen werden.

Ausgrenzung en passant

Die Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren (SBBZ) sind eingeteilt nach den Förderschwerpunkten Lernen, geistige Entwicklung, Hören, körperliche und motorische Entwicklung, Sehen, Sprache, emotionale und soziale Entwicklung. Zudem gibt es ein Angebot für Schüler:innen in längerer Krankenhausbehandlung. "Meines Erachtens müssen sonderpädagogische Ressourcen in das allgemeine Schulsystem integriert und Bedarfe durch multiprofessionelle Teams abgedeckt werden", schreibt die Behindertenbeauftragte Simone Fischer in ihrer Antwort auf den Offenen Brief der Sonderschul-Befürworter:Innen. Durch wirksame, individuell angepasste Unterstützung müsse außerdem dafür gesorgt werden, "dass das Ziel der vollständigen Einbeziehung behinderter Menschen umgesetzt werden kann". Und sie nennt es "befremdlich, wenn Kinder und Jugendliche im Jahr 2024 immer noch alleine aufgrund des Merkmals ‚Behinderung‘ eine separate Kita, Schule oder Arbeitsstätte besuchen und damit Ausgrenzung en passant vonstattengeht". Heftig kritisiert seit der Schulgesetzänderung 2015 sind die Hürden vor dem Zugang zum Regelunterricht: Wenn sich Eltern gegen ein SBBZ entscheiden, wird vom Staatlichen Schulamt erst einmal ein sogenanntes   Bildungswegekonferenzverfahren durchgeführt. "Zahlreiche Kinder mit Behinderungen und ihre Eltern machen immer noch die Erfahrung, dass allgemeine Schulen keine Kinder mit Behinderungen aufnehmen möchten", weiß Fischer. Und weiter: "Aufgrund der getrennten Lebenswelten wird das gemeinsame Aufwachsen der Kinder sowie gleichberechtigte Chancen im Beruf und Alltag bis ins Erwachsenenleben erschwert."  (jhw)

Die Weichenstellung individuell in den Familien, in der Politik und unter Lehrkräften ist auch eine Frage der Geisteshaltung. In einem Offenen Brief hat die Landesarbeitsgemeinschaft der Leitungen von Schulen mit dem Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung gerade noch einmal ausdrücklich "die Sonderwelt" verteidigt. Will heißen: Die von der UN verlangte Teilhabe sei auch über spezielle Institutionen möglich. Stimmt nicht, kontert dieser Tage das Deutsche Institut für Menschenrechte. Vielmehr stelle sich das bestehende Sonderschulwesen im Lichte völkerrechtlicher Verpflichtungen der UN-Behindertenrechtskonvention und zentraler Forderungen der Behindertenbewegung als "nicht mehr zeitgemäß" dar. Die freie Wahl der Eltern eines allgemeinen oder eines sonderpädagogischen Bildungsangebots sei im Lichte der empirischen Berichte vieler Familien "ein bloßes ‚Scheinwahlrecht‘, wenn es keine hochwertige, wohnortnahe inklusive allgemeine Schule gibt, die den Familien "glaubhaft versichern kann, dass das Kind dort eine gute schulische und sonderpädagogische Förderung erhalten wird".

Pädagogische Parallelwelten

Hätte sich Grün-Rot seinerzeit gegen den erbitterten Widerstand von CDU und FDP, gegen die Kritik von Elternvertreter:innen, Schulträgern und Kollegien mit seiner Absicht durchgesetzt, in Zeiten sprudelnder Steuereinnahmen genügend Geld in die Hand zu nehmen und die Kompetenz und Kollegien der SBBZen schrittweise in Regelschulangebote zu überführen, wäre das Land einer grundlegenden Veränderung sehr viel näher gekommen, als es das jetzt vereinbarte Reformpaket leisten kann. Stephanie Aeffner, Simone Fischers Vorgängerin und heute MdB der Grünen, scheute sich schon bei ihrem Amtsantritt 2016 nicht, an die damals wieder mitregierende CDU zu appellieren, ihre Haltung zur pädagogischen Parallelwelt zu überdenken: Wer das Doppelangebot aufrechterhalte, wälze die Entscheidung auf die Eltern ab. Den Sonderweg zu wählen sei verständlich, "wenn und weil damit die Hoffnung auf eine bessere Förderung verbunden ist". Politischer Anspruch der Landesregierung müsse aber sein, "dass Eltern ihr Kind guten Gewissens in eine Regelschule schicken können, weil es auch dort die Unterstützung bekommt, die es braucht".

Das aber hat noch nie gegolten im Südwesten. Und es dürfte noch viele Jahre und Unmengen von Überzeugungskraft kosten, bis Baden-Württemberg auch nur im Ansatz dem Geist jener internationalen Vorgaben nahekommt, die eigentlich längst erfüllt sein müssen. Die fünf Seiten des grün-schwarzen Papiers zu den Bildungsreformen enthalten jedenfalls viele freundliche Formeln dazu, wie die beiden Parteien Kindern künftig "unter die Arme greifen und die Unterstützung geben wollen, die sie brauchen, um selbstständig und fest auf ihren eigenen Beinen stehen zu können". Der Anspruch, dass dies – inklusiv gedacht – für alle gelten muss, fehlt.

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1 Kommentar verfügbar

  • Dietrich Krauss
    am 26.05.2024
    Antworten
    Sehr erhellende Analyse. Es ist in Baden Württemberg quasi common sense, auch in sogenannten progressiven Kreisen, dass schulische Inklusion nicht etwa Menschenrecht ist, sondern eine weltfremder Träumerei. Die UN-Konvention wird nur auf dem Papier umgesetzt. Auch wenn in Bremen die Förderschulen…
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