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Schulpolitik in Baden-Württemberg

Helfen kann nur ein Wunder

Schulpolitik in Baden-Württemberg: Helfen kann nur ein Wunder
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Gegen den Bildungsabstieg des einstigen Vorzeigelands Baden-Württemberg helfen nur radikale Einschnitte ins zerklüftete Schulsystem. Die jedoch wollen CDU und FDP trickreich verhindern. Und die Grünen überlassen den Reformverweigern die neu entflammte öffentliche Debatte.

Diesen Ausflug können sich, Stand heute, alle sparen. Auf Einladung von Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) wollen die Spitzen der Landtagsfraktionen – mit Ausnahme der AfD –am 2. Mai in Bebenhausen ein zweites Mal zusammenkommen, um bildungspolitische Schnittmengen auszuloten, die zu Vereinbarungen über Parteigrenzen und die Dauer der aktuellen Legislaturperiode hinaus führen. Denn angestoßen durch die erfolgreiche Unterschriftensammlung für eine Rückkehr zum neunjährigen allgemeinbildenden Gymnasium, soll das Schulsystem ab Klasse fünf insgesamt auf den Prüfstand gestellt, die Auswirkungen bedacht und Stellschrauben gesucht werden. Zum Beispiel um die ineffiziente und wenig gerechte Aufteilung der Zehnjährigen auf Förder-, Haupt-, Werkreal-, Real- und Gemeinschaftsschulen sowie Gymnasien zu überwinden.

Tatsächlich aber haben Manuel Hagel und Hans-Ulrich Rülke, die Fraktionschefs von CDU und FDP, im Spiel über Bande die österliche Politikpause genutzt, um mit Maximalforderungen die bisherige Gesprächsbasis zu torpedieren. Dazu gehört sogar eine "Bestandsgarantie" für die Realschule. Hagel beteuert zwar, bereit zu sein, "alles ergebnisoffen anzusehen". Er gibt dem Begriff "alles" aber eine neue Bedeutung, denn Realschulen sind für seine Fraktion nicht nur gesetzt im angestrebten veränderten System, sie sollen sogar gestärkt werden. Und die Hauptschule bringt er gleich mit ins Spiel: Man dürfe die Schularten nicht schlechtreden, sagt der gelernte Bankkaufmann: "Das sind super Bildungswege, woraus auch tolle Bildungskarrieren hervorgehen."

Rülke legt prompt nach und nennt den Fortbestand der Realschule "in den kommenden Gesprächen beim Bildungsgipfel nicht verhandelbar". Für ihn ist sie "wichtiger Bestandteil eines mehrgliedrigen und damit vielfältigen weiterführenden Schulsystems, das unterschiedliche Talente optimal fördert". Und "für die Bekämpfung des Fachkräftemangels, gerade in den Ausbildungsberufen, unverzichtbar für die Zukunft des Wirtschaftsstandorts Baden-Württemberg".

Belegt oder plausibel ist das nicht. Denn Realschulen sind wie Haupt- und die erst vor 15 Jahren von CDU und FDP eingeführten Werkrealschulen – mit dafür verantwortlich, dass im vergleichsweise reichen Baden-Württemberg Aufstiege durch Bildung Seltenheitswert haben. Seit dem Pisa-Schock in den Nullerjahren hat sich die Abhängigkeit der Schulabschlüsse vom sozialen Hintergrund der Familie nicht verändert. Hagel und Rülke sind aber an wissenschaftsbasierten Debatten desinteressiert, gehen davon aus, dass die eigene Klientel davon überzeugt ist, in homogenen Klassen könnten (ihre) Kinder bestmögliche Noten erreichen.

CDU und FDP verweigern das Lernen

Dabei haben viele nationale und internationale Studien genau das widerlegt. Schon 2007 (!) mühten sich hierzulande "praktizierende Schulexperten" aus Grund- und Hauptschulen in einem offenen Brief der Einsicht zum Durchbruch zu verhelfen, dass speziell längeres gemeinsames Lernen und Lehren deutlich erfolgreicher ist, als nach vier Jahren zu selektieren in "Begabte und Unbegabte, in Schnelle und Lahme, in künftige Handwerker und künftige Wissenschaftler". Seit inzwischen einem Vierteljahrhundert gehen Bildungspolitiker:innen aller Fraktionen auf Reisen, um sich in Finnland oder London, in Kanada, Kiel oder Marseille anzusehen, wie integrative Schulsysteme besser funktionieren. Sie kommen alle beeindruckt zurück, aber CDU und FDP sperren sich dagegen, solche Erfahrungen und Erkenntnisse für Baden-Württemberg umzusetzen. Dabei verstößt das gegen die Landesverfassung, die Kinder und Jugendliche nicht nur unter besonderen Schutz stellt, sondern sogar feststellt: "Jeder junge Mensch hat ohne Rücksicht auf Herkunft oder wirtschaftliche Lage das Recht auf eine seiner Begabung entsprechende Erziehung und Ausbildung."

Die Möglichkeit wäre da, etwas zu ändern. Die Bildungspolitik ist neben der Inneren Sicherheiten die große Kompetenz der Länder im föderalen Deutschland. Obwohl jede Familie mit dem Thema Schule jahrelang zu tun hat, bleibt die Diskussion nur allzu oft interessierten Kreisen vorbehalten, den Bildungsverbänden, Elternvertretungen und den Fachpolitiker:innen. Breiter, lauter und heftiger wird sie erst, wenn etwa Klassen zu groß werden oder immer mehr Unterricht ausfällt wegen des Lehrkräftemangels.

Einigermaßen leicht fasslich dagegen war die Abschaffung der verbindlichen Grundschulempfehlung, ebenfalls durch die grün-rote Landesregierung 2012. Seither entscheiden, wie in zwölf anderen Bundesländern, die Eltern, mit oder ohne Beratungsgespräch am aufnehmenden Gymnasium. Auch in diesem Punkt wollen CDU und FDP im Schulterschluss zurück in die Zukunft. Ausgerechnet mit der Entspannung an allgemeinbildenden Gymnasien durch die Wiedereinführung des neunten Jahres wird die Notwendigkeit einer verbindlicheren Grundschulempfehlung erklärt, die Kinder in einen Test zwingt, wenn Lehrkräfte dem Elternwillen widersprechen.

Das ist entlarvend, weil damit ein wichtiger internationaler Erfolgsfaktor noch weiter zurückgedrängt werden soll: Es lernen eben nicht nur schwächere Kinder und Jugendliche von stärkeren, was schon allein ein guter Grund wäre für heterogene Klassen und Gruppen. Es lernen ebenso Stärkere von Schwächeren. Eine Erkenntnis, die die bildungsbürgerlichen Fans der Schulschubladen, in die Zehnjährige bisher gesteckt werden, einfach nicht wahrhaben wollen.

Die CDU war schon mal progressiver

Winfried Kretschmann bemüht bekanntlich gerne Hannah Arendt und unter vielem anderen den Satz: "Wenn der Sinn von Politik Freiheit ist, so heißt dies, dass wir (...) das Recht haben, Wunder zu erwarten." Genau dieses Wunder braucht es. Nach den Ansagen von Hagel und Rülke sind Reformunwillige und Reformwillige verkeilt wie selten zuvor. Die Hürden scheinen unüberwindbar, und die Lage ist pikant, weil die Regierungsfraktionen jeweils mit einer Oppositionsfraktion am selben Strang ziehen: Grüne und SPD sowie CDU und FDP stehen sich scharf abgegrenzt gegenüber.

Dabei waren Letztere schon mal viel weiter: Selbst Rülke hatte sich im Wahlkampf 2011 und in der Hoffnung auf ein Ministeramt in einer nächsten CDU/FDP-Regierung unter Stefan Mappus für eine Reform ausgesprochen und dafür, die Grundschulempfehlung "pädagogisch zu öffnen". Die Fachpolitiker:innen in seiner Fraktion berichteten damals von intensiven Überlegungen, weil das Verfahren insgesamt ein Problem und der Druck auf die Kinder in der vierten Klasse zu groß sei. Hagel wiederum könnte, anstatt über Anstand und Empathie sowie die Bedeutung von "Bitte" und "Danke" zu schwadronieren, sich mit den Positionen der Vergessenen unter den CDU-Kultusminister:innen der vergangenen Jahre anfreunden: Ausgerechnet Mappus hatte Marion Schick von Bayern nach Baden-Württemberg geholt, eine alleinerziehende Fachhochschulprofessorin mit vielen neuen Ideen im Gepäck, von der Sprachförderung bis zum Einsatz multiprofessioneller Teams, von der frühkindlichen Bildung bis zum Ausbau von Ganztagsschulen. Die Umsetzung blieb ihr nach der Abwahl verwehrt respektive erspart – jedenfalls waren zahlreiche ihrer Positionen deutlich moderner als das, was die Schwarzen 13 Jahren später zu bieten haben.

Im Kultusministerium: Stille

Aber sie bestimmen die Debatte, denn Winfried Kretschmanns Staatsministerium und auch die grüne Kultusministerin Theresa Schopper überlassen ihnen allzu bereitwillig das Feld. Schopper wollte, dass in den Schulfriedensgesprächen "über alles" geredet wird – "ohne Denkverbote, ohne rote Linien". Jetzt, da genau die auf dem Tisch liegen, regiert einmal mehr Zurückhaltung gegenüber dem Koalitionspartner. Schweigen dringt aus der Regierungszentrale, die sich schon mit der Terminfindung für die zweite Runde schwertat und überhaupt erst noch mitteilen will, worüber überhaupt verhandelt werden soll. "Wir sind mit den politischen Akteuren im direkten Austausch, natürlich gibt es einiges zu bereden, und wir tun das direkt und vertrauensvoll", heißt es im Kultusministerium ohne jede Ambition, die Debatte nach Ostern wenigstens mitbestimmen zu wollen.

Die Reformfahne hält allein Thomas Poreski hoch, der bildungspolitische Sprecher der Grünen-Landtagsfraktion. Maximalforderungen seien ihm gleichgültig, sagt der Reutlinger Abgeordnete, der die mannigfaltigen Widerstände seit seinem Einzug ins Parlament 2011 mitverfolgt, zu Kontext. CDU und FDP müssten hinnehmen, dass "am Ende ein Kompromiss stehen wird, wenn es wirklich zu einem Schulfrieden kommen soll". Dafür brauche es die Bereitschaft, sich auf Fakten einzulassen und auf wissenschaftliche Vergleiche der Systeme. Poreski ist überzeugt davon, dass längeres gemeinsames Lernen und Lehren bessere Ergebnisse "in vielerlei Hinsicht" bringt, und kann als Pädagoge Argument an Argument dafür reihen. Allerdings sitzt er nicht mit am Tisch, weil, wie schon beim ersten Treffen, nach Bebenhausen nur die Fraktionsvorsitzenden geladen sind. Wenn Hagel und Rülke Anfang Mai aber durchsetzen, was sie Ende März verlangt haben, wird das zweite Treffen das letzte sein. Und weiter werden viele Jahrgänge von Kindern und Jugendlichen nicht in den Genuss einer gerechteren Bildung in Baden-Württemberg kommen.

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11 Kommentare verfügbar

  • Roger Peltzer
    am 09.04.2024
    Antworten
    In dem Artikel wird die Behauptung aufgestellt, dass Schulleistungsstudien aller Art immer wieder festgestellt hätten, dass längeres gemeinsames Lernen in heterogenen Lerngruppen dem gegliederten System überlegen seien und die Chancengleichheit sei auch größer. Genau das verhält sich aber in keiner…
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