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Bildung

Ideologie pur

Bildung: Ideologie pur
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Bildungspolitik ist im föderalen Deutschland die wichtigste Kompetenz der Bundesländer. In Baden-Württemberg war der Nachholbedarf schon beträchtlich, als Grüne und Rote vor bald 13 Jahren an die Macht kamen.

Kurz vor der Weihnachtspause leistet sich der Landtag noch einen harten Schlagabtausch. Von Frieden kann keine Rede sein, ganz im Gegenteil: Die AfD-Fraktion fordert – rechter Theaterdonner – sogar den Rücktritt von Ministerpräsident Winfried Kretschmann und Kultusministerin Theresa Schopper (beide Grüne). Und sie reibt sich mit lustvoller Empörung am "Schreiben nach Gehör", einem pädagogischen Experiment, an dem Pi mal Daumen 0,003 Prozent der bundesdeutschen Schülerschaft teilnahmen. Auch der neue bildungspolitische Sprecher der CDU-Fraktion Andreas Sturm, selbst Studienrat, will mit diesem Thema billige Punkte machen. Der Shakespeare-Kenner aus Schwetzingen zielt direkt auf den grünen Koalitionspartner, wenn er verlangt, dass bildungspolitische Maßnahmen evidenzbasiert sein müssen "statt parteiideologisch motiviert". Und er ist froh, dass "bildungspolitische Kindeswohlgefährdungen" wie das Schreiben nach Gehör sogleich wieder beseitigt worden sind.

Vielleicht ist die Arbeit mit sogenannten Anlauttabellen wirklich nicht der Weisheit letzter Schluss, auf jeden Fall aber ist es das mit Abstand kleinste bildungspolitische Problem in einem Land, das sich nach den ersten vier Klassen in der Grundschule nicht weniger als sieben weiterführende Varianten leistet: Haupt-, Werkreal-, Real und Gemeinschaftsschule sowie G8, G9 und das Berufliche Gymnasium. Nur zum Vergleich: Hamburg, Aufsteiger in den berühmt-berüchtigten Bildungsvergleichstudien, unterhält neben dem acht- und dem neunjährigen Gymnasium nur eine einzige weitere Schulform ab der fünften Klasse. Auf besonderen Wunsch von Kretschmann war die Kultusministerin gleich zu Jahresbeginn nach Hamburg aufgebrochen, um von den Hanseaten zu lernen. Jetzt gibt es auch hierzulande mehr Leseförderung, zum Beispiel.

Ausgabe 646, 16.09.2023

Keine Ferien

Von Johanna Henkel-Waidhofer

Zu wenig Mut, zu wenig Geld, zu wenig Ideen: Dass Baden-Württemberg in eine Bildungsmisere schlittert, hat viele Gründe. Beteiligt am Niedergang sind alle Landesregierungen der jüngeren Vergangenheit. Auch die grün-geführten.

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Alle Erkenntnisse zum großen Ganzen hatte Schopper schon vor ihrer Studienreise, würde sie aber mit Rücksicht auf den Koalitionspartner CDU öffentlich nie so drastisch formulieren: Trotzdem hat Baden-Württemberg entscheidende Bildungsreformen schlicht verschlafen. Das Herz der Südwest-CDU hängt nun mal an simplen Parolen wie "Ohne Fleiß kein Preis", sie will nichts Effizientes dagegen unternehmen, dass immer neue Generationen von Schüler:innen nach der vierten Klasse in Schubladen gesteckt werden. Nirgends in der Republik sind Schulabschlüsse so abhängig von der sozialen Herkunft wie zwischen Main und Bodensee. Die Gründe sind vielschichtig, liegen ganz bestimmt aber mit darin, dass die jahrzehntealte Lebenslüge der Union, Deutschland sei kein Einwanderungsland, immer weiter nachwirkt.

Die frühere Kultusministerin Annette Schavan (CDU), auf die die Einführung von G8, aber auch das längst verdrängte Bekenntnis zum zweigliedrigen Schulsystem zurückgeht, hat dieser Tage via "Bild"-Zeitung allen Interessierten einen Ratschlag zukommen lassen: "Es ist notwendig zu verstehen, dass unsere Schulen – von der Zusammensetzung der Schülerschaft her ­– internationale Schulen sind, und keine noch so strenge Migrationspolitik wird daran etwas ändern. Die Internationalität ist ein Merkmal moderner Gesellschaften." Es brauche "eine Offensive, um akademisch gebildete Menschen aus Zuwandererfamilien für den Lehrerberuf zu gewinnen". Und es brauche ein Verständnis für die Muttersprache als "zusätzliche Kompetenz".

Manche in der Südwest-CDU haben da ganz andere Ideen. Denn noch immer und immer wieder wird an vermeintlich patriotischen Stammtischen über eine Deutsch-Pflicht auf Schulhöfen räsoniert – nach dem Vorbild von Erwin Teufel. Und das im Jahr 2023.

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1 Kommentar verfügbar

  • Paul Sander
    am 27.12.2023
    Antworten
    Berufliche Bildungsgänge setzen nicht nach Klasse 4 an,. sondern erst nach Klasse 9
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