Seit Ende Juli erfreuen sich die Schüler:innen im Land an der entspanntesten Zeit des Jahres: ohne Wecker, Stress und Ärger. Keine Ferien gibt es dagegen für Baden-Württembergs Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne), aber immerhin hat sie ihren Hochsommer-Aufreger schon hinter sich. Ein Großplakat auf dem Stuttgarter Flughafen, Teil einer Kampagne zur Anwerbung von Lehrkräften, sorgte für viel Wirbel, der mutwillig und hämisch immer neu entfacht wurde. Die angeblich missglückte Frage "Gelandet und gar keinen Bock auf Arbeit morgen?" schaffte es sogar in die bundesweite Berichterstattung, der Begriff "Arbeit" musste schlussendlich um "deine jetzige" ergänzt werden, weil Schopper und den Kampagnenmacher:innen unterstellt wurde, das Engagement von Lehrkräften nicht zu honorieren. Dabei passt der Slogan durchaus zu den insgesamt sieben anderen der Kampagne. Die Empörungswelle rollte trotzdem durch das Sommerloch.
Kinder, Jugendliche, Eltern und Lehrkräfte hätten viel mehr davon, würden ernsthafte Bildungsbaustellen mit ähnlich überbordendem Eifer beackert, speziell der ab 2026 geltende Rechtsanspruch auf einen Platz in der Ganztagsgrundschule. Dessen Verwirklichung ist in einem langen Ringen zwischen Bund und Ländern seit zwei Jahren ausverhandelt, samt einem Milliardenprogramm. Im ersten Jahr besteht der Anspruch für die ersten, im zweiten auch für die zweiten Klassen, und so weiter. Wie groß der Nachholbedarf gerade im Land ist, war seit Langem bekannt. Tatkräftig zupacken wollten allzu viele Städte und Gemeinden als Schulträger bislang trotzdem nicht. Stattdessen wird der einerseits für den Aufstieg durch Bildung und andererseits für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf so wichtige Schritt zunehmend problematisiert.
Steffen Jäger (CDU), Präsident des Gemeindetags Baden-Württemberg, unterstellt sogar, dass "die Politik" vor der Entscheidung für den Rechtsanspruch "mit Praktikern" nicht geredet habe, was natürlich völliger Unfug ist. Der eigentlich dafür angesagte Shitstorm bleibt bisher weitestgehend aus. Dabei ist gerade Jägers Partei wesentlich verantwortlich für den Bildungsabschwung im Land oder die systemische Benachteiligung von Kindern aus sozial schwachen und insbesondere migrantischen Familien. Ferner für die anschwellende Zahl derer, die die Schule ohne Abschluss verlassen. Und das Thema Ganztag steht ohnehin für eine jahrzehntelange Realitätsverweigerung.
Schon in den 1980ern: Bei "Reform" graust's der CDU
CDU und Bildung: MVs Trümmer
Ganze 22 Standorte mit Ganztagsangeboten gab es im Baden-Württemberg der 1980er-Jahre. Und der erzkonservative Kultusminister Gerhard Mayer-Vorfelder (CDU), kurz MV, schaffte es sogar in die bundesweiten Schlagzeilen mit seinem forschen Bekenntnis, er sehe gar nicht ein, weitere einzuführen, "damit die Arztgattin trotz gutgehender Praxis ihres Mannes sich selbst verwirklichen kann". Die Realität war schon damals eine ganz andere und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf im reichlich rückständigen Südwesten ein Thema. "Da ka i nemme schaffe", zitierte die Hamburger "Zeit" damals eine Schwäbin auf der Suche nach einem Betreuungsplatz. Ende der 1980er-Jahre zahlte Baden-Württemberg als einziges der seinerzeit noch elf Bundesländer zusätzlich zum Erziehungsgeld vom Bund je nach Einkommen noch ein Landeserziehungsgeld für ein weiteres Jahr. Im Wissen übrigens, dass für Mütter, die die verlängerte berufliche Auszeit nahmen, die gesetzlich geregelte Arbeitsplatzgarantie futsch war.
Vom bildungs- und zugleich frauenpolitischen Tiefschlag der Ära unter MV hat sich die Südwest-CDU jahrzehntelang nicht erholt. Beispiele der Rückständigkeit könnten ein Buch füllen: Krippen und Kitas wurden gebrandmarkt, Gymnasial-Eltern im Elitenbewusstsein gestärkt oder der gemeinsame Unterricht von Kindern mit und ohne Einschränkungen zu lange nicht zugelassen. In der CDU-Landtagsfraktion gaben sich die Bremser:innen den Staffelstab regelrecht weiter. Und brachten vor der Landtagswahl 2021 sogar Kultusministerin und CDU-Spitzenkandidatin Susanne Eisenmann dazu, frühere fortschrittlichere Überzeugungen über Bord zu werfen. (jhw)
Denn zuerst mochte die CDU im Land – später mit dem temporären Koalitionspartner FDP im Schlepptau – einfach nicht wahrhaben, dass eine Ausweitung der täglichen Unterrichtszeit mit genug Zeit für Spiel und Spaß der Schlüssel zur Lösung vieler langsam aufkeimender Probleme war. "Schule mit Zukunft" lautete 1986 (!) der Titel einer Tagung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), auf der darüber diskutiert wurde, wie Kinder und Jugendliche angesichts "gewaltiger Veränderungsprozesse wirklich auf das 21. Jahrhundert vorbereitet werden können". Zeter und Mordio schrien schwarze Landtagsabgeordnete und konnten in den dort ausgebreiteten Reformüberlegungen nichts anderes erkennen als eine "kulturelle Revolution".
Für das früher gern mal so genannte Musterländle ähnlich fatal aber war und ist, dass nach dem Machtwechsel von 2011 kein klarer Schnitt erfolgte. Als die CDU nach 58 Jahren erstmals in die Opposition musste, hätten Grüne und SPD ihre Mehrheit mutig dafür nutzen müssen, die Versprechen aus ihren Programmen und dem Koalitionsvertrag einzulösen. Trotz oder gerade wegen des erbitterten Widerstands von CDU und FDP, vom Philologenverband, den Realschullehrkräften und -eltern. Im Koalitionsvertrag von Grünen und SPD mit dem kraftvollen Titel "Der Wechsel beginnt" hieß es noch: "Unsere bildungspolitischen Ziele lassen sich in der Gemeinschaftsschule für alle Kinder bis Klasse zehn am besten erreichen." Denn diese erschließe gerade dank Ganztag ein großes Potenzial: "Sie schafft mehr Chancengleichheit, gewährleistet mit einer guten Ressourcenausstattung die bestmögliche individuelle Förderung und sichert insbesondere in ländlichen Räumen wohnortnahe Schulstandorte mit einem breiten Angebot an Schulabschlüssen."
Grün-Rot: Themen angefasst, aber nicht durchgezogen
Alles richtig. Zentrale, international längst als Gelingensfaktoren beschriebene Themen wurden zwar angefasst, aber unter größtem, besonders medialem öffentlichen Druck nicht durchgezogen. Nach den ursprünglichen Plänen von Grünen und SPD wären nach und nach Haupt-, Werkreal- und Realschulen unter das Dach der grundsätzlich im Ganztag geführten Gemeinschaftsschulen geschlüpft – aus guten pädagogischen, finanziellen und Effizienzgründen. Jedoch reichte die grün-rote Gestaltungskraft nicht aus – nicht einmal, als sogar der Bundesvorstand der CDU vor einem Parteitag im Herbst 2011 für eine Reduzierung der Schulformen sowie ein "Zwei-Wege-Modell in allen Ländern" plädierte, bestehend aus Gymnasium und Oberschule.
Grüne und Sozialdemokrat:innen hätten die Steilvorlagen kraftvoll aufnehmen und im permanenten Kleinkrieg von CDU und FDP gegen die abwegige Polemik von der "Einheitsschule" tapferer und aufklärerischer hinstehen müssen. Vor allem die Roten waren aber viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, auch weil die vom SPD-Landesvorsitzenden Nils Schmid ausgeguckte Kultusministerin Gabriele Warminski-Leitheußer bald als Missgriff empfunden und vom Hof gejagt wurde. Ihr Nachfolger, der heutige SPD-Landes- und -Fraktionschef Andreas Stoch, musste sich, bildungspolitisch ganz und gar unbeleckt, erst einmal in die komplexe Materie einarbeiten.
Lust auf Veränderung? Eher nicht
Satirische Züge hat es, wenn Günter Klein, der Chef des Instituts für Bildungsanalysen Baden-Württemberg (IBBW), den gerade von seinem Haus gemeinsam mit dem Statistischen Landesamt vorgelegten Bildungsbericht eine Schatztruhe nennt. Denn die ist prallvoll nicht nur mit Daten, Fakten und Empfehlungen zum Zustand der Schullandschaft, sondern auch mit ebenso alten wie bitteren Wahrheiten. Aber, schickt Klein als Beipackzettel hinterher, die 250 Seiten leisteten ohnehin nur Hilfestellung bei der Entscheidungsfindung.
Schön wär's. Seit 2007 gab es nicht nur jene Berichte über die Lage, sondern zugleich waren viele der (Hiobs-)Botschaften immer dieselben. Wozu also berichterstatten, wenn konservative Ideolog:innen sich ja doch immerzu verbarrikadieren und diejenigen, die ernsthaft an Veränderung interessiert sind, das notwendige Geld im Haushalt nicht locker machen wollen oder können. "Lust auf Veränderung? Hurraaa!" heißt übrigens einer der nicht kritisierten Slogans auf den Plakaten der Anwerbe-Kampagne. Interessent:innen wird ein Quick-Check angeboten, um beruflich durchzustarten. Alle Verantwortlichen für Schule im Land könnten respektive müssten sich genau daran ein Beispiel nehmen.
Die Einzigen übrigens, die keinen Anstoß nahmen am Großflächenplakat – im Gegenteil –, sind Mitbetroffene: die Mitglieder im Landesschülerbeirat (LSBR). "Bei genauerem Hinsehen wird der wahre Zweck der Kampagne erkennbar: Lehrkräfte sollen keinesfalls lächerlich gemacht werden, sondern vielmehr sollen andere dazu motiviert werden, sich für den Lehrberuf zu interessieren", erklärt Berat Gürbüz, der Vorsitzende des LSBR, in einer Stellungnahme. Die Kampagne solle provozieren, "das funktioniert, nach den ersten Reaktionen zu urteilen, sehr gut". Und ein zweiter Seitenhieb ist besonders angebracht: Ausgerechnet der Philologenverband hat sich im Theaterdonner vergaloppiert und den Spruch verglichen "mit Sprüchen auf Schülerniveau". Das sei, so Gürbüz treffend, "unnötig und unangemessen".
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Sven Schindler
am 23.08.2023