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Eine andere Corona-Bilanz

"Das Chaos ist unbegreiflich"

Eine andere Corona-Bilanz: "Das Chaos ist unbegreiflich"
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Ist Corona vorbei? Ja, sagt die Politik und blockt eine Fehleranalyse kategorisch ab. Nein, sie ist höchst dringlich – als Vorbereitung auf die nächste Seuche, sagen kritische Wissenschaftler:innen wie der Freiburger Medizinstatistiker Gerd Antes.

Es möcht' schon im Café Einstein im Stühlinger sein, dem Freiburger Szeneviertel hinterm Bahnhof. Hier ist Gerd Antes zuhause, hier kommt er mit dem Fahrrad zu zwei Gesprächen, hier sagt er, wer heute geradeaus denke, sei schon ein Querdenker. Albert Einstein liefe heute Gefahr, ein Schwurbler genannt zu werden. Dagegen hat der 74-Jährige in der Corona-Zeit angeschrieben und angeredet wie kaum ein anderer.

Herr Antes, wir zitieren die "Süddeutsche Zeitung" vom 8.10.2021: "Der Medizinstatistiker Gerd Antes ist einer der Vorreiter der evidenzbasierten Medizin. Nun hat er bei #allesaufdentisch mitgemacht, einer Videoaktion, die Querdenkerthesen verbreitet. Wie konnte es so weit kommen?"

Das war infam. So sollte ich in die Ecke der Querdenker gedrängt werden, nur weil ich die Corona-Politik der Bundesregierung von Anfang an kritisiert habe. Sollte ich das unterlassen, wenn mich die völlige Kritiklosigkeit angesichts eines fortwährenden inkompetenten Verhaltens von Staat und Politik stört? Wenn ich zusehen muss, wie meine Rechte als Bürger massiv eingeschränkt werden, ohne verlässliche Daten als Begründung dafür zu haben? Für die SZ wäre Einstein heute wahrscheinlich ein Schwurbler.

#Allesaufdentisch ist massiv angegangen worden. Die SZ notierte eine "hoch gefährliche Querdenker-Folklore", die FAZ einen "Kessel Schwurbel", die "Frankfurter Rundschau" eine "wirre Corona-Kritik".

Antes in seinem Freiburger Biotop: dem Stühlinger hinterm Bahnhof. Foto: Kontext

Gerd Antes, Jahrgang 1949, gilt als Wegbereiter evidenzbasierter Medizin in Deutschland. Heißt: In Gesundheitsfragen zählen beweisgestützte Fakten und nicht interessengeleitete Experten. Auf dieser Basis arbeitet das unabhängige internationale Netzwerk "Cochrane", dessen Anspruch ist, allen vertrauenswürdige Informationen zur Verfügung zu stellen.

Antes hat die deutsche Sektion von 1997 bis 2018 geleitet. Er sieht "Cochrane" als Gegenpart zum "Establishment" im Gesundheitssystem, auf die jüngste Auszeichnung als "Emeritus lifetime" ist er stolz. Mehr als 20 Jahre hat er die Grünen beraten, womit jetzt Schluss ist. Nach ihrem "Feldzug" gegen Ungeimpfte, sagt das frühere Mitglied der Ständigen Impfkommission am Robert-Koch-Institut, gebe es für ihn keine Basis zur Zusammenarbeit mehr. (jof)

Die Videoaktion des Schauspielers Volker Bruch habe ich unterstützt, weil sie etwas ganz Normales gefordert hat: mehr Transparenz und einen Runden Tisch von unabhängigen Wissenschaftlern, die dem Grundprinzip ihrer Profession folgen – der Diversität. Der Motor von Wissenschaft ist der Widerspruch. Die sogenannten Leitmedien haben sich angemaßt, dieses Grundprinzip zu missachten.

Bei den Corona-Kritikern und Querdenkern treffen Sie auch auf Antisemiten, Holocaustverharmloser, Esoteriker, Alu-Hüte, Reichsbürger …

Ich weiß natürlich, dass es sie gibt. Muss ich mich jedoch erst von ihnen distanzieren, um etwas öffentlich sagen zu dürfen? Soll ich mir jetzt vorschreiben lassen, wo ich mich äußere? Diskreditiert es diese Videoaktion, wenn ein paar Leute dabei sind, deren Ansichten ich nicht teile? Soll ich mich von ihr distanzieren, nur um nicht ins Fadenkreuz der Moralisten zu geraten, die ihre eigenen Bewertungen zum Maßstab aller Dinge machen? Ich werde das sicherlich auch künftig nicht tun. Ein unbeschädigtes Rückgrat ist mir wichtiger.

Der Publizist Jakob Augstein hat bereits zu Beginn der Pandemie vor einer Hysterie gewarnt, in der Politik und Medien als "Brandbeschleuniger" wirkten. Die Basis dafür sei die kollektive Angst, die angebliche Alternativlosigkeit, das zwingende Zusammenrücken, auch "Groupthink" genannt.

Ich möchte es vornehmer formulieren und von einer Mainstream-Meinung sprechen, die staatstragend daherkommt und Allgemeingültigkeit beansprucht. Das finden Sie bei den oben genannten Zeitungen, beim "Spiegel" und der "Zeit", beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk, und insbesondere bei dessen Talkshows.

Bei allen sind Sie zu Wort gekommen. Beim "Heute Journal" im ZDF durften Sie das ganze Chaos mehr als sechs Minuten lang kritisieren: den Sinn und Unsinn von geschlossenen Schulen, von Ausgangssperren, von wahllosen Tests, die weder Berufsgruppen noch prekäre Wohnverhältnisse identifizierten.

Außenseiter sind immer willkommen, solange sie den Konsens der Mehrheit nicht gefährden. Aber richtig ist auch, dass die Corona-Linie der deutschen Medien nicht einheitlich war. Springer mit seiner "Welt"-Gruppe hat sich mit seiner Kritik deutlich abgehoben, der "Focus" und "Cicero" ebenfalls, und am stärksten die "Berliner Zeitung". Alle haben immer wieder um Gespräche nachgesucht. Beim Rundfunk vor allem der "Deutschlandfunk".

Auf die Erklärung sind wir gespannt. Sie bezeichnen sich selbst als Spät-68er.

Zumindest die fachliche Kompetenz dürfte mir nicht abzusprechen sein. Wenn Sie eingangs richtig zitiert haben, nennt mich selbst die "Süddeutsche" einen "Vorreiter der evidenzbasierten Medizin". Das bedeutet, dass empirische Belege und Logik als unverzichtbare Grundlage zu fordern sind. In politischen Kategorien, rechts und links, ist das nicht zu fassen. Gemeinsam ist den Verlagen allen, dass sie auf dem ökonomischen Bein humpeln. Das mindert den Mut zum Risiko, zum Ausscheren aus der Herde, und verstärkt den Anpassungsdruck. Die Ausnahmen sind oben genannt.

Die Presse nimmt für sich in Anspruch, die Vierte Gewalt zu sein, also staatliches Handeln zu kontrollieren.

Davon habe ich fast nichts gespürt. Eher ein alarmistisches Begleitorchester. Wenn es Unterschiede gab, dann scheinen sie mir personeller Natur zu sein. Einzelne Journalistinnen und Journalisten widerstehen dem Herdentrieb. Einer wie Michael Maier von der "Berliner Zeitung" hat viele Jahre für skandinavische Unternehmen gearbeitet und von dort einen offeneren Blick mitgebracht. Wieder andere, wie der ZDF-Journalist Dirk Jacobs, stellen der eigenen Zunft ein miserables Zeugnis aus. Sein Fazit: Fehler über Fehler und null Selbstkritik. Mein Fazit: ein großer Kollateralschaden der Pandemie – das Medienversagen.

Jüngst hat das Robert-Koch-Institut in seiner "Stoppt Covid"-Studie bilanziert, die Pandemie wirksam bekämpft zu haben. Maskenpflicht, Schulschließungen und Kontaktbeschränkungen seien erfolgreich gewesen, manche Maßnahmen hätten sogar gewirkt, bevor sie in Kraft getreten seien.

Wie man dieses Resümee nach drei Jahren Blindflug ziehen kann, ist mir schleierhaft. Ohne einen Generalplan, ohne systematisch erhobene Daten, dafür mit dramatisch falschen Zahlen, mit denen die Bevölkerung nur verrückt gemacht wurde. Bei den geschätzten Infektionszahlen sind uns Dunkelziffern präsentiert worden, die, je nach Experte, bis zum zehnfachen variiert haben. Und dabei haben wir die "Nationale Kohorte" (NAKO), die 200.000 Menschen in einer Gesundheitsstudie seit 2014 versammelt, regelmäßig befragt und medizinisch untersucht, finanziert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Sie wäre ein ideales Instrument gewesen, um relevante Kriterien wie Alter, Beruf und Sozialstatus zusammenzutragen und das Problem der Dunkelziffer zu lösen. Es heißt, die NAKO-Träger wollten ihre Daten nicht zur Verfügung stellen.

Wir erinnern uns an die Bilder aus den Intensivstationen, auf denen Corona-Patienten künstlich beatmet wurden. Die Anzahl der Betten und der Todesfälle wurde zum wichtigen Indikator zur Bewertung der Pandemielage. Hier geht es um Leben und Tod.

Kein Widerspruch. Aber auch hier gibt es die Kehrseite. Unter Lungenfachärzten wird bezweifelt, dass die Überlebensrate auf einer Intensivstation steigt, wenn invasiv beatmet wird. Im Gegenteil. Die Mortalität bei Covid-19 liege hier bei 60 Prozent, und unter zehn Prozent, wenn nicht intubiert werde. Der Vorsitzende des Verbands Pneumologischer Kliniken, Thomas Voshaar, spricht laut "Welt" von 20.000 vermeidbaren Todesfällen in Deutschland, die eine zu frühe invasive Beatmung verursacht haben soll. Und von 38.500 Euro, die, je nach Behandlung, dafür abgerechnet werden können. Teilweise liegen sie deutlich darüber. Die schonende Behandlung mit Sauerstoff über die Maske liegt bei 5.000 Euro. Eines von vielen Beispielen für falsche finanzielle Anreize.

Folgen wir der Spur des Geldes.

Da liegen Sie immer richtig. Beim nächsten Mal könnten wir uns darüber unterhalten, wie viel Geld die öffentliche Hand in private Produktionsstätten von Impfstoffen gesteckt hat, wie es sein konnte, dass Ursula von der Leyen milliardenschwere Deals mit Pfizer per SMS auf dem Handy verhandelt haben soll, wie viel Profit die Pharmakonzerne gemacht haben, und warum der Steuerzahler allfällige Schadensersatzzahlungen bei Impfschäden übernehmen muss. Man nennt so etwas die Privatisierung von Gewinnen und Sozialisierung von Verlusten.

Besondere Umstände erfordern besondere Maßnahmen. Kanzlerin Merkel hat gesagt, die Corona-Pandemie sei die größte Krise nach dem Zweiten Weltkrieg.

Umso unbegreiflicher ist das Chaos, das drei Jahre toleriert wurde. Sie hat ihren Teil durch die Auswahl ihrer Berater beigetragen. Es waren eindeutig zu viel Physiker:innen und Virolog:innen, die teils noch keinen Fuß in der Medizin oder in Public Health hatten. Bisweilen hatte ich den Eindruck, wir seien um Jahrzehnte zurückgefallen – von der evidenzbasierten in die eminenzbasierte Medizin.

Schönes Wortspiel.

Einer der persönlichen Merkel-Berater war Verkehrsplaner, der im März 2021 für den Mai vorhergesagt hat, die Inzidenz steige auf über 2000, tatsächlich fiel sie auf unter 100. Von der Sorte könnte ich noch viele Exemplare vorführen. Wo sind hier die Verhaltensforscher, Soziologen, Kommunikationsexperten, Geriater geblieben, die sich um die gesellschaftlichen Verwerfungen gekümmert hätten? Um die Kinder, die zuhause eingesperrt waren, um die Alten, die in den Heimen nicht mehr besucht werden durften. Ich habe es selbst hautnah bei meiner Mutter im Pflegeheim erlebt. Die Vereinsamung war unerträglich. Pro Tag war eine Person erlaubt, eine Stunde.

Auch Ihr Vertrauen in die Politik scheint ein begrenztes zu sein.

Die Politik will eine Fehleranalyse vorsätzlich verhindern. Vor der Bundestagswahl 2021 haben honorige Ärzte, Anwälte, Richter und Wissenschaftler den Parteien einen offenen Brief geschickt, in dem gefragt wurde, was sie in der Corona-Pandemie zu tun gedenken, wenn sie an die Macht kämen? Der einzige, der geantwortet hat, war Christian Lindner von der FDP. Die Grünen, die ich lange beraten habe, behaupteten, sie hätten die Post nicht erhalten. Das war nachweislich gelogen. Jetzt ist ihr Argument, dass ein Kampf um die Deutungshoheit und nachträgliche Schuldzuweisungen vermieden werden solle. Es ist wohl die Furcht vor einem weiteren Vertrauensverlust bei der Bevölkerung.

Die Grünen haben die Forderung der FDP abgelehnt, eine Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der Covid-19-Pandemie einzurichten.

Die Grünen haben nicht begriffen, dass eine Aufarbeitung die Vorbereitung auf die nächste Seuche ist, die kommen wird. Darauf verweisen zwei offene Briefe der "Initiative Pandemieaufarbeitung", in der sich ausgewiesene Wissenschaftler verschiedenster Fachrichtungen versammelt haben. Der Dialog mit der Politik sei von "höchster Dringlichkeit" schreiben wir am 30. Juni 2023. Eine Antwort ist bis heute nicht eingetroffen.


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16 Kommentare verfügbar

  • Sabine Sabranski
    am 29.08.2023
    Antworten
    Was muss aufgearbeitet werden? Das Präventionsparadoxon?
    Gerd Antes gibt ein verquastes Statement ab, dass nichts anderes als Querdenken auf hohem Niveau ist. Sie hätten auch Ulrike Guérot befragen können, es wäre das Gleiche heraus gekommen.

    MfG, Sabine Sabranski
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