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Corona und Protest

Der Irrsinn der Ungleichheit

Corona und Protest: Der Irrsinn der Ungleichheit
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Corona hat viele Krisenherde offengelegt, die schon länger brodeln, sagt Armin Biermann von der Stuttgarter Caritas. Er glaubt nicht, dass sich die Probleme in der Kinder- und Seniorenbetreuung einfach durch mehr Geld lösen lassen – und ruft auf zu einem Protest, der sich nicht mit Rechtsextremisten gemein macht.

Bemerkenswert bleibt, wie manche Einschätzungen altern: "Mit den modernen Produktionsmethoden ist die Möglichkeit gegeben, dass alle Menschen sicher und behaglich leben können; wir haben es stattdessen vorgezogen, dass sich manche überanstrengen und andere verhungern. Bisher sind wir noch immer so energiegeladen arbeitsam wie zu der Zeit, als es noch keine Maschinen gab; das war sehr töricht, aber sollten wir nicht irgendwann einmal gescheit werden?" Diese drängende Frage warf der Philosoph Bertrand Russell in seinem "Lob des Müßiggangs" auf – und zwar 1932, ohne dass die ungeheuren Produktivitätssteigerungen der vergangenen Dekaden sich als der Torheit Ende erwiesen hätten.

"Volkswirtschaftlich wird ja das Ideal verfolgt, dass möglichst alle Menschen im erwerbsfähigen Alter auch erwerbstätig sind", sagt Armin Biermann, der bei der Stuttgarter Caritas die Kinder-, Jugend- und Familienhilfe leitet. Daher würden Pflege und Fürsorge für Jung und Alt immer stärker institutionalisiert: Von der Kita bis zum Schulabschluss stehen Kindern für die typischen Arbeitszeiten der Eltern Betreuungsangebote bereit, im Seniorenalter warten Pflegeheime oder so genannte 24-Stunden-Dienste ohne medizinisch geschultes Personal, das mangels rechtlicher Befugnisse nicht einmal eine Salbe auftragen dürfte, aber sich im Arbeitsalltag des Knochenjobs schnell mal in juristische Grauzonen begibt.

Biermann kennt den enormen Druck für das Personal in den Sozialberufen, insbesondere in den Einrichtungen für Kinder. "Es klingt inzwischen stark nach einer Binse", sagt er. "Aber die Pandemie wirkt da als Brandbeschleuniger: Schon vorhandene Probleme treten jetzt noch deutlicher zu Tage." Am schlimmsten sei die immense Arbeitslast für die Beschäftigten, eng verbunden mit einem eklatanten Personalmangel. Allein in den Kitas fehlen bundesweit 100.000 Fachkräfte, laut dem Prognos Institut soll sich die Lücke bis 2030 auf 200.000 unbesetzte Stellen ausweiten. "Entlastung geht kurzfristig nur durch Leistungseinschränkungen", sagt Biermann und ist sich bewusst, was für ein substanzieller Konflikt sich da anbahnt: "Aber viele Eltern sind durch ihre Berufstätigkeit natürlich auf Betreuung angewiesen. Und es gibt einen gesetzlich festgeschriebenen Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz."

Klar ist für ihn, dass die Einrichtungen mehr Geld bräuchten. Weniger von den Kommunen selbst, als von Bund und Land, die hier mehr beisteuern müssten. Doch bei der monetären Ausstattung, sagt Biermann, hören die Probleme nicht auf. Er sieht allgemein große Baustellen bei der Einkommens- und Vermögensverteilung. Auch hier haben sich in der Corona-Krise vorhandene Tendenzen, die ohnehin extrem waren, weiter verschärft.

Manche bauen Brücken, andere bauen sie ab

Während weltweit 163 Millionen weitere Menschen unter die Armutsgrenze gerutscht sind, haben die 10 reichsten Menschen der Welt ihr Vermögen laut Oxfam im Zeitfenster "der Pandemie stärker vermehrt als in den gesamten vierzehn Jahren zuvor – vierzehn Jahre, die selbst schon einem Goldrausch für Superreiche glichen". Und Geld bedeutet Macht. Für Amazon-Gründer Jeff Bezos, der in der größten Gegenwartskrise 79,4 Milliarden US-Dollar zu 192,4 Milliarden machen konnte, will die Stadt Rotterdam nun eine historische Brücke abbauen, damit seine etwas zu groß geratene Luxus-Yacht den Hafen passieren kann.

Während der Irrsinn der Ungleichheit ein globaler ist, sind die Unterschiede bei der Vermögensverteilung nirgendwo in Europa so groß wie in der Bundesrepublik. "Es wurde viel über Leistungsträger geredet, und die Bereiche Pflege, Betreuung und Bildung sind, zumindest in politischen Reden, als systemrelevant anerkannt", sagt Biermann. "Aber trotzdem haben es Erzieherinnen schwer, in Stuttgart eine bezahlbare Mietwohnung zu finden." Dabei falle der Job gar nicht unter die Definition einer prekären Beschäftigung. Da ist eigentlich müßig, zu erwähnen, dass sich die deutschlandweit vier Millionen Menschen im Niedriglohnsektor – fast 20 Prozent aller Vollzeit-Erwerbstätigen – einen Platz für die Mutter im Altenheim, der mit durchschnittlich 3.500 Euro zu Buche schlägt, eher nicht aus eigenen Mitteln leisten können.

"Offen gestanden", sagt Biermann, "fehlt mir die Fantasie, wie das langfristig funktionieren soll. Immerhin wird das Problem durch den demographischen Wandel noch massiv verschärft." Er glaube nicht, dass die Frage nach einer angemessenen Betreuung und Daseinsfürsorge einfach nur mit mehr Geld und mehr Personal gestemmt werden könnte, "das halte ich für eine Illusion". Also will er anregen, sich Grundsatzfragen zu stellen und einen positiven Diskurs zu starten. "Nicht nur mit Problembeschreibungen, sondern auch positiv gedacht – mit der Frage: Wie wollen wir eigentlich als Gesellschaft zusammen leben? Finden wir das gut, in welchem Ausmaß die Betreuung von Kindern und Senioren professionalisiert und institutionalisiert worden ist?" Nicht nur gebe es sicherlich viele Menschen, die neben der Arbeit gerne mehr Zeit mit der Verwandtschaft verbringen würden. Es sei außerdem eine Diskussion überfällig, ob das Ideal der Vollzeit-Vollbeschäftigung für alle Erwerbsfähigen angesichts technologischer Durchbrüche, die sehr viel menschliche Arbeit überflüssig gemacht haben, noch zeitgemäß ist. Oder ob nicht das Ziel einer gesellschaftlichen Arbeitszeitverkürzung wünschenswert erscheint.

Allerdings, sagt Biermann, habe er "leider den Eindruck, dass rechte und verschwörungsgläubige Gruppen in letzter Zeit fast den Diskurs bestimmen". Für die Zivilgesellschaft stelle sich nun die Frage: "Wie kommen wir in der Corona-Krise davon weg, wie das Kaninchen auf die Schlange zu starren?" Er hält es für wichtig, solidarische Bewegungen zu vernetzen und aus der eigenen Blase herauszukommen. Eine Gelegenheit dafür bietet der 15. Februar: Da wird Biermann auf einer Kundgebung auf dem Stuttgarter Schlossplatz auftreten, als einer von vielen RednerInnen, die eine gerechtere Corona-Politik einfordern. Zwei Botschaften sind ihm dabei besonders wichtig: Dass die Pandemie Krisenherde offengelegt hat, an denen eine Kritik dringend nötig ist. Und dass es beim Protest gegen die gegenwärtige Politik keine Ausrede gibt, Seite an Seite mit Rechtsextremisten und gewaltbereiten Wahnwichteln zu marschieren.


Die Kundgebung unter der Überschrift "Für eine gerechte Coronapolitik und gegen Demokratiefeinde" am Dienstag, 15. Februar, beginnt um 18 Uhr auf dem Stuttgarter Schlossplatz. Auch in Esslingen ruft ein Bündnis für "Solidarität statt Spaltung" auf und zwar für Freitag, 11. Februar, um 18 Uhr auf dem Rathausplatz.


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