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Arbeitszeit

Mehr Urlaub für alle

Arbeitszeit: Mehr Urlaub für alle
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Endlich ausschlafen, lesen, wandern, am Strand rumfläzen – was auch immer. Hauptsache nicht zur Arbeit müssen – und trotzdem Geld bekommen. Wer hat den bezahlten Urlaub erfunden? Offenbar die Bierbrauer. Also die Bierbrauer-Arbeiter. Und zwar in Stuttgart.

In einer Brauerei zu arbeiten, war um 1900 ein ziemlich mühsames Geschäft. Zwar gab es Aufzüge und Maschinen, doch ein Brauerei-Arbeiter galt mit über 30 Jahren als verbraucht. Rheuma und Schwindsucht waren typische Erkrankungen, dazu kamen die langen Arbeitszeiten und ständige Verfügbarkeit – die übliche "freie Kost und Logis" wird zunehmend als Zwang verstanden. Bezahlten Urlaub gibt es nicht.

In Stuttgart reichte es den Brauerei-Arbeitern. 1903 erkämpften sie als erste einen tariflich geregelten bezahlten Urlaub: drei Tage pro Jahr, ab einer Betriebszugehörigkeit von zwölf Monaten. So wurde aus dem Urlaub, den der Unternehmer aus Gnade gewährt, ein Recht. Der Allgemeine Deutsche Brauerverband, eine Vorläuferorganisation der heutigen Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG), machte also den Anfang, andere Gewerkschaften folgten.

Doch der Kampf war mühsam. In den 1920er Jahren gab es zwar zunehmend tarifliche Urlaubsregelungen, aus heutiger Sicht allerdings waren sie mager. Es blieb meist bei drei, vier Urlaubstagen im Jahr für die ArbeiterInnen. Damit diese knappe Freizeit gut genutzt werden konnte, bauten Gewerkschaften Ferienheime, boten Kurzreisen an. Im Bürgertum wurde derweil das Reisen Mode, Hotels empfingen immer mehr Gäste, Seebäder wurden beliebt, die Tourismusindustrie entstand.

Im Nationalsozialismus gab es keine Tarifverträge mehr, Gewerkschaften waren verboten, Urlaub gab es per Richtlinie, in der Regel sechs bis zwölf Tage im Jahr, manchmal auch 16.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde 1949 in der DDR-Verfassung der Urlaubsanspruch festgeschrieben, anfangs zwölf Tage, später 18. Die BRD zog 1963 nach. Seitdem stehen laut Bundesurlaubsgesetz jeder und jedem Arbeitenden 24 Werktage Urlaub zu. Tatsächlich gilt das bis heute. In fast 60 Jahren hat sich also am gesetzlichen Urlaubsanspruch nichts geändert. Alles, was über die 24 Tage hinausgeht, ist von GewerkschafterInnen erstritten worden. Und so sind für viele heute 30 Tage Jahresurlaub normal.

Zeit ist Macht

Warum eigentlich fordert niemand mehr Urlaub? Uwe Hildebrandt, Landesvorsitzender der NGG Baden-Württemberg, zuckt mit den Schultern. "Die Frage nach mehr Urlaub stellt sich nicht. Wir kündigen jetzt keine Manteltarifverträge." In denen ist der Urlaub vereinbart, und wenn der gekündigt würde, rechnet Hildebrandt mit massivem Ärger: "Wir haben in vielen Branchen zusätzliche Urlaubstage ab einem bestimmten Alter im Manteltarifvertrag. An diese Zusatztage wollen die Arbeitgeber seit Jahren ran." Übersetzt heißt das: der NGGler fürchtet, eine Auseinandersetzung über mehr arbeitsfreie Zeit wäre derzeit nicht zu gewinnen.

Der Streit um Arbeitszeit – egal ob wöchentliche oder jährliche – ist immer eine Machtfrage. Die Verfügung über Raum und Zeit ist ein wesentliches Herrschaftsmittel, und damit stellt sich letztlich die Grundfrage: Wer bestimmt über mich? Deshalb sind die Kämpfe um Arbeitszeit die härtesten. Der Weg hin zu 30 Tagen Urlaub begann Ende der 1970er mit einem sechswöchigen Streik der IG Metall, der mit einem Stufenplan endete. Seit 1981 stehen die 30 Tage. Seit den 1970er Jahren wurde eine wöchentliche Arbeitszeitverkürzung in den Gewerkschaften diskutiert, 1984 streikten sowohl die Drucker als auch die Metaller wochenlang für die 35-Stunden-Woche, Arbeitgeber sperrten aus, am Ende mussten Schlichter ran.

Wie ideologisch aufgeladen die Debatten waren, zeigt sich in Äußerungen wie "Lieber vier Wochen Streik als eine Minute Arbeitszeitverkürzung" vom damaligen Gesamtmetall-Chef Dieter Kirchner. Helmut Kohl (CDU), damals Bundeskanzler, nannte die Forderung der IG Metall "absurd, dumm und töricht". Die angeblich bedrohte Wettbewerbsfähigkeit wurde von Arbeitgeberverbänden, CDU und FDP hoch und runter beschworen. Am Ende stand die Einführung der 35-Stunden-Woche, die Arbeitgeber bekamen dafür Instrumente zur Arbeitszeitflexibilisierung.

Die ist auch heute ein großes Thema. In der Regel würden Arbeitgeber am liebsten vorschreiben, wann und wieviel die Belegschaft arbeitet. Arbeitnehmer möchten darüber aber lieber selbst entscheiden. Es geht also wieder darum, wer über Zeit und Raum bestimmt.

Wer weniger arbeitet, ist zufriedener

Arbeitszeitflexibilisierung beschäftigt auch die Parteien. In ihren Programmen zur Bundestagswahl im September kündigen CDU und FDP an, eine wöchentliche statt einer täglichen Arbeitszeit festlegen zu wollen. Ähnlich die Grünen, die von "Umgestaltung der starren Vollzeit" sprechen, immerhin "zum Vorteil der Arbeitnehmenden". Die SPD schließt eine Verlängerung der täglichen Arbeitszeit aus, nur die Linke geht im Sinne von Arbeitenden voran. Sie will die Vier-Tage-Woche und den Mindesturlaub im Bundesurlaubsgesetz von derzeit 24 auf 30 Tage anheben.

Damit ist die Linke auf europäischer Debattenhöhe: Island hat in den vergangenen Jahren zwei Versuche mit der Vier-Tage-Woche im öffentlichen Dienst durchgeführt. Ergebnis: Die Leute, die 32 Stunden gearbeitet haben, waren zufriedener, die Produktivität blieb konstant oder stieg. In Spanien beginnt auf Antrag der linken Partei Más Pais nach dem Sommer ein Versuch mit der Vier-Tage-Woche – in der Hoffnung, dass auf diese Weise Arbeitsplätze vor allem für junge Leute entstehen.

Weniger Arbeiten und trotzdem von seiner Arbeit leben können – das dürften sich viele Menschen wünschen. Die Debatte muss auch in Deutschland Fahrt aufnehmen. Geld ist schließlich genug da, nur zu viel am falschen Ort. So stiegen im Coronajahr 2020 alleine in Deutschland 69.000 Menschen zum Dollar-Millionär auf. Nicht durch ihrer Hände Arbeit, sondern vor allem durch Geldgeschäfte. Und dass Digitalisierung sowie Transformation mittel- und langfristig automatisch für mehr anständige Arbeitsplätze sorgen, erscheint unter derzeitigen politischen Machtverhältnissen eher illusorisch. Dafür muss heute wie damals bei den kämpferischen Bierbrauern selbst etwas getan werden. Arbeit muss auf mehr Schultern verteilt werden. Mehr Urlaub für alle!


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3 Kommentare verfügbar

  • D. Hartmann
    am 05.08.2021
    Antworten
    Einige Gewerkschaften haben in den letzten Jahren schon ein paar zusätzliche arbeitsfreie Tage in Tarifverträge hineinverhandelt. Diese laufen nur nicht unter dem Titel "Urlaub". Die IG-BCE hat z. B. vor zwei Jahren für Tarifbeschäftigte fünf zusätzliche frei Tage durchgesetzt. Hier das wörtliche…
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