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Nach der Pandemie

Raum für Zweifel

Nach der Pandemie: Raum für Zweifel
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Maike Aselmeier führt Menschen wieder zusammen, die sich während der Corona-Pandemie in verschiedene Lager gespalten haben. Wie geht das?

Als die Corona-Pandemie Anfang 2020 begann, lebte Maike Aselmeier in einem großen linken Wohnprojekt. Und sogar das habe sich teilweise gespalten während dieser Zeit, obwohl doch alle fast denselben politischen Hintergrund hatten, erzählt sie. Wie ihr ging es sehr vielen Menschen, weltweit. "Am Anfang wussten wir ja alle gar nichts." Und dann wussten so viele plötzlich ganz viel und ganz genau, was richtig ist und was falsch. Und dazwischen, sagt Aselmeier, tat sich eine Schlucht auf. Ein Abgrund, der in vielen Fällen bis heute geblieben ist. Den würde sie gerne überbrücken.

Aselmeier hat Ethnologie studiert und ist überzeugt: "Es gibt total viele Weisen, die Welt anzugucken." Und: "Der Ort in der Mitte, der Zweifel und Fragen zulässt, ist der Ort, wo man sich begegnen kann." Maike Aselmeier ist heute Landwirtin, Psychologin und Mediatorin und hat gemeinsam mit ihrem Kollegen, dem Freiburger Mediator Christoph Besemer, die "Gespräche aus der Mitte" konzipiert. Es geht darum, die Menschen hinter den Positionen zu zeigen, um so gesellschaftliche Fronten aufzuweichen.

Verstehen, ohne einverstanden zu sein

Ein wichtiger Grundsatz in der Mediation sei, dass man etwas verstehen kann, ohne damit einverstanden zu sein. Der Raum für Zweifel und Fragen habe während der Corona-Pandemie oft gefehlt, sagt Aselmeier. "Wenige sind ganz zu hundert Prozent überzeugt von dem, wie sie sich verhalten." Man könne zwar entschieden sein und handeln, trotzdem aber Zweifel haben.

In der Zehntscheuer in Ammerbuch-Entringen, zwischen Tübingen und Herrenberg, probt Aselmeier an einem Abend im Juli ihr Konzept als Moderatorin erstmals vor Publikum. Teilnehmende sitzen in der Mitte und sprechen über ihre Erlebnisse während der Pandemie, drumherum sitzen die Zuschauer:innen.  Das Gespräch über Corona in der Zehntscheuer ist Teil einer von Marc Herzer-Kisters organisierten Veranstaltungsreihe: "Begegnung wagen". Ein Projekt, finanziert von der Bundeszentrale für politische Bildung, bei dem er Menschen zu kontrovers diskutierten Themen wieder an einen Tisch bringen möchte – Corona, Krieg in der Ukraine, Klimawandel, Gendern.

"Zur Corona-Zeit wurde ich von den einen Freunden eingeladen, gegen die Maßnahmen zu demonstrieren", erzählt Herzer-Kisters in der Entringer Zehntscheuer. "Von den anderen wurde ich eingeladen, gegen die Leute, die gegen die Maßnahmen demonstrieren, zu demonstrieren." Damals habe er sich gedacht, dass die Menschen aus den jeweiligen Lagern sich zumindest als Menschen respektieren würden, würden sie sich gegenseitig kennen.

In der Zehntscheuer stellt das Publikum, rund 80 Besucher:innen sind gekommen, Fragen, die nicht beantwortet werden sollen. "Ist Corona eine Frage der Meinung?", will eine Zuschauerin wissen. "Corona ist auch eine Frage der persönlichen Erfahrung", sagt Aselmeier im Kontext-Gespräch. Ob ein Angehöriger wegen Corona gestorben ist oder sehr gelitten hat oder jemand eine im Krankenhaus sterbende Person nicht begleiten konnte, ergebe ganz verschiedene Perspektiven auf dasselbe Thema. Daher sei eine wichtige Frage: "An welcher Stelle habe ich einen großen Schmerz erlebt?" Und: "Von welcher Seite hat man Verständnis erfahren, von welcher Unverständnis?"

Das Konzept funktioniert erstaunlich gut

Es ist die Hoffnung, dass durch persönliche Begegnung, Austausch und Zuhören die Polarisierung Stück für Stück wieder bröckelt, die Aselmeier antreibt. In ihren Gesprächsformaten geht es nicht um Diskussion und Dialog – im Gegenteil. Jede teilnehmende Person hat sieben Minuten Zeit, um über persönliche Erfahrungen zu sprechen – ohne Bezug auf die jeweils anderen. In einer zweiten Runde soll jede:r Teilnehmende über das Gehörte sprechen. Der Leitsatz, den die Mediatorin dazu vorgibt ist: "Ich weiß erst, was ich gesagt habe, wenn ich gehört habe, was du verstanden hast."

Dass das Format ungewohnt ist, wird im Laufe des Abends deutlich. Diskussion, Fakten, das bessere Argument – all diese sonst zentralen Elemente bei Auseinandersetzungen werden großzügig ausgeklammert – und schimmern doch immer wieder hervor. Und dennoch: Das Konzept funktioniert erstaunlich gut, die Teilnehmenden bewahren die Fassung und niemand wird persönlich angegriffen. Beim Thema Corona scheint schon das eine Besonderheit zu sein.

Einer, der gegen "Querdenken-Demos" auf die Straße gegangen war, erzählt davon, dass der operative Eingriff einer Freundin abgesagt wurde, weil die Intensivbetten nicht ausgereicht hätten. Damals seien viele Betten mit Ungeimpften belegt gewesen, die sich mit Corona angesteckt hatten. Er fand es "rücksichtslos, dass Menschen sich nicht impfen lassen". Auf den Anti-Corona-Demos habe er Reichsbürger und Neonazis gesehen, erzählt er. Dass durch politische Differenzen rund um Corona auch in seinem Umfeld Kontakte abgebrochen sind, findet er nicht tragisch – dafür seien auch neue entstanden.

Ein ehemaliger internistischer Intensivpfleger, der schon vor der Corona-Pandemie aus dem Beruf ausschied, erzählt davon, dass er bei den Corona-Maßnahmen dachte, dass gerade "ein Riesenverbrechen entsteht und ich muss das verhindern". Als Krankenpfleger habe er Jahre zuvor selbst noch "eine Riesenpanik" gehabt, was passieren würde, wenn das Ebola-Virus Deutschland erreiche. Damals habe er sich viel mit Chancen und Risiken von Impfstoffen beschäftigt. Dass die Regierung in dieser für ihn sensiblen Entscheidung Druck ausübte, habe bei ihm starke Unsicherheit ausgelöst. "Aber die Menschen wollten mir nicht zuhören."

Eine Teilnehmerin beschreibt, dass sie das erste Mal auf Ungeimpfte traf, als sie in ein Wohnprojekt zog. Sie fragte nach, und die Gründe für das Nichtgeimpft-Sein seien sehr unterschiedlich gewesen, so dass sie "mehr und mehr genervt war, verallgemeinernde Aussagen zu hören". Als sie mit ihrer Schwester eine geimpfte Freundin abholte und die nach dem Aussteigen aus dem Zug ihre Maske abnahm, fragte die Schwester: "Ist das auch eine Impfgegnerin?" Es habe sie verletzt, sagt die Teilnehmerin, dass so über ihre Freundin gesprochen wurde.

"Es geht mir nicht um schnelle klare Lösungen, ich glaube da nicht dran", sagt Maike Aselmeier. Zunächst gehe es darum, Differenzen auszuhalten. Bei jedem der Gespräche, die sie leitete, habe es Momente des aufeinander Zugehens gegeben. So war der ehemalige internistische Pfleger davon beeindruckt, wie die Teilnehmerin "mit beiden Welten umgegangen" ist. Dafür habe er lange keinen Mut gehabt.

Suche nach Teilnehmenden per Leserbrief

Herzer-Kisters erzählt, es sei schwer gewesen, für sein Projekt Leute zu gewinnen, die zu Hochzeiten der Pandemie gegen die Maßnahmen-Gegner demonstriert hatten. Als er Gemeinderäte, Apotheker:innen, das Gesundheitsamt, Antifa, Wohnprojekte und persönliche Kontakte vergeblich gefragt hatte, schrieb er einen Leserbrief im "Schwäbischen Tagblatt", dass er "Leute suche, die damals gegen Querdenken auf die Straße gegangen sind". Als Antwort kamen nur zwei Beschwerdebriefe von Lesern, die schon den Namen "Querdenken" als Verunglimpfung empfanden. So sei schon eine neutrale Formulierung schwierig gewesen, um die entsprechenden möglichen Teilnehmer:innen anzusprechen. Schließlich habe er über Bekannte doch jemanden gefunden.

"Solange man noch Kontakt hat zu den Leuten, die eine andere Meinung haben, solange ist noch Veränderung möglich", ist Herzer-Kisters überzeugt. Im Alltag erlebe er, dass sich Menschen oft gar nicht mehr begegnen und stattdessen früh damit beschäftigt seien, eine Schublade zu finden: ob Klimakleber, Querdenker oder Putinversteher.

Inhaltlich kam bei den Gesprächen nichts Neues auf den Tisch. Dass das Thema Corona, zumal auf dem Land, ein derart großes Publikum anzog, zeigt allerdings, dass immer noch Gesprächsbedarf über die Pandemie und ihre Bewältigung besteht. Und dass Konzepte und Veranstaltungen, in denen Menschen sich nicht nur anfeinden, langfristig eine Kultur des Respekts befördern könnten. In der ein konstruktiver Umgang mit Krisen – und zukünftigen Pandemien – vielleicht etwas möglicher wird. Im November soll Herzer-Kisters Reihe weitergehen, zu welchem kontroversen Thema, weiß er noch nicht. Aber es gibt ja genug davon.


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9 Kommentare verfügbar

  • Notter
    am 19.08.2023
    Antworten
    Zum Glück ist die Antifa aufgewacht, früher waren sie gegen die Obrigkeit, Pharmabranche und Superreiche.

    Nun hat die regierungsunterwürfige Antifa erkannt, dass die Pharmabranche nur Gutes tut und die Milliardäre uneigennützige Menschenfreunde sind, aus diesen Gründen hat die französische Antifa…
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