Bis vor sieben Jahren war die Ärztin Natalie Grams-Nobmann überzeugte Homöopathin, "zu hundert Prozent", wie sie betont. Als junge Frau litt sie unter den Folgen eines Unfalls und griff, als konventionelle medizinische Behandlungen nicht zu helfen schienen, zu Globuli. Sie war baff, wie schnell es ihr besser ging, erzählt sie. Dass es auch daran gelegen haben könnte, dass sie zeitgleich eine kurze Psychotherapie machte, fiel ihr erst später auf. Jedenfalls beschloss die Medizinstudentin, sich in Homöopathie und traditioneller chinesischer Medizin weiterzubilden. Von 2009 bis 2015 praktizierte sie ausschließlich nach diesen Fachrichtungen.
Heute gehört Grams-Nobmann zu den bekanntesten Kritiker:innen der Homöopathie. 2012 wurde die Alternativmedizinerin von den Journalisten Christian Weymayr und Nicole Heißmann interviewt. Als deren Buch unter dem Titel "Die Homöopathie-Lüge" erschien, war Grams-Nobmann empört – und beschloss, als Replik "Die Homöopathie-Wahrheit" zu schreiben. Für die Recherche versuchte sie, den Nutzen der Globuli nach wissenschaftlichen Standards zu belegen. Und stellte fest, dass das nicht möglich war. "Die Wirkung geht nicht über den Placebo-Effekt hinaus", ist sie heute überzeugt und sagt: "Wir brauchen keine Alternative zu wirksamer Medizin." So wurde aus ihrer geplanten Verteidigungsschrift eine kritische Auseinandersetzung mit der Homöopathie ("Homöopathie neu gedacht – was Patienten wirklich hilft", 2015). Konsequent wie sie war, schloss Grams-Nobmann ihre Praxis. Seither arbeitet sie im öffentlichen Gesundheitswesen, beriet in den vergangenen Jahren vor allem zur Corona-Impfung.
Ist Esoterik Privatsache?
Nicht nur die Homöopathie und weitere komplementärmedizinische Verfahren werden derzeit verstärkt skeptisch beäugt. Auch andere esoterische Angebote und einige ihrer Verfechter:innen sind in die Kritik geraten. Einerseits gibt es offenbar eine starke Nachfrage: Der Esoterik-Markt boomt, nicht nur im Netz wimmelt es von "Kraftsteinen", Schamanismus-Workshops und unterschiedlichsten Angeboten zur Selbstoptimierung – ein Milliardengeschäft. Je krisenhafter die Umwelt, so scheint es, desto stärker der Rückzug in die Innenwelt, die Hinwendung zu selbsternannten Gurus oder Wohlfühl-Influencer:innen, zu gefühlten Lösungen komplexer Probleme. Ja und, könnte man sagen, ist doch Privatsache. Doch was auf den ersten Blick harmlos erscheint, hat – das ist die andere Seite – zum Teil hochproblematische gesellschaftliche Auswirkungen.
Spätestens seit den Protesten gegen die Corona-Schutzmaßnahmen sind Querverbindungen zwischen Esoteriker:innen, Anthroposoph:innen, Heilpraktiker:innen, Reichsbürger:innen und Rechtsextremen deutlich geworden, die für die Demokratie gefährlich werden können. Einige Beispiele: Der Molekularbiologe Christoph Hueck, Mitbegründer der anthroposophischen Akanthos-Akademie, behauptete auf einer "Querdenken"-Demonstration in Stuttgart im Mai 2020, einem gesunden Immunsystem könne das Coronavirus nichts anhaben, und polterte: "Wir haben die Gehirnwäsche und das diktatorische Regierungshandeln satt." An Freiburger Waldorfschulen tauchten in der Folgezeit massenhaft gefälschte Maskenatteste auf, Eltern klagten dort über die Umgehung von Schutzmaßnahmen durch Lehrer:innen und andere Eltern. Als im August 2020 Reichsbürger:innen und Rechtsradikale auf die Reichstagstreppe vordrangen, war eine Heilpraktikerin eine der Haupt-Agitatorinnen. Auch auf "Querdenken"-Demos in Baden-Württemberg waren Heilpraktiker:innen, Esoteriker:innen und Anthroposoph:innen auffällig stark vertreten, wie eine Studie der Universität Basel 2021 bestätigte. Auch wenn sich manche öffentlich von Rechtsextremen distanzierten, finden viele offenbar nichts dabei, Seite an Seite mit ihnen zu marschieren. Wie ist das möglich?
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Claudius Weise
am 29.09.2022