Zwei Drittel ihres Lebens verbrachte Badiah Jazzaa fast ausschließlich in einem Dorf, das 4.000 Kilometer von ihrem jetzigen Wohnort Tübingen entfernt ist. Und wenn man das Leben der jungen Frau heute mit ihrem früheren vergleicht, dann müssten noch mehr Kilometer dazwischen liegen. Badiah Jazzaa hat es mit viel Energie und Ausdauer geschafft, die immense Entfernung zu überwinden und in diesem fremden Deutschland anzukommen. Dies ist auch die Geschichte einer gelungenen Integration.
Badiah Jazzaa ist Jesidin. Wer zu dieser ethnisch-religiösen Minderheit gehört und im Nordirak lebte, hat Furchtbares erlitten. Die heute 27-Jährige wuchs in Kodscho auf, einem Dorf in der Nähe von Sindschar. Ihre Familie bestand einmal aus Vater, Mutter und elf Geschwistern. "Mein Vater war der Bürgermeister von Kodscho", berichtet Badiah Jazzaa. Von dieser Arbeit aber konnte man nicht leben. "Wir haben Gemüse angebaut, und wir hatten Tiere: Schafe, Ziegen, Hühner, Tauben und Hasen." Die ganze Familie ackerte mit. Sechs Jahre ging Badiah zur Schule, nicht alle Mädchen hatten dieses Glück.
Das friedliche Leben im Dorf endete abrupt. Im August 2014 wurde Kodscho von IS-Terroristen überfallen. Sie richteten ein furchtbares Massaker unter der Dorfbevölkerung an. Wer sich nicht zum islamischen Glauben bekannte, sollte sterben oder versklavt werden. Die IS-Terroristen töteten die Männer und verschleppten die Frauen und Kinder. Badiah Jazzaa verlor ihre Eltern und vier Brüder. Junge Frauen ließ der IS am Leben. Sie wurden wie Vieh von Sklavenmarkt zu Sklavenmarkt gebracht und der Gewalt und den Misshandlungen ihrer Käufer überlassen.
Badiah Jazzaas Peiniger war US-Amerikaner
Auch die 18-jährige Badiah war, wie 7.000 andere Jesidinnen, auf brutale Weise entführt worden. Über ihre Erlebnisse und ihre mutige und lebensgefährliche Flucht aus der Gefangenschaft schrieb sie ein Buch. Ihre Geschichte zu erzählen, hat Badiah Jazzaa (ihren Vornamen hat sie mittlerweile der deutschen Aussprache angeglichen) geholfen, mit ihren Traumata, mit der Ermordung ihrer Verwandten und der eigenen Verschleppung umzugehen. Sie wollte mit dem Buch aber auch dokumentieren, was bis dahin im westlichen Ausland unterschätzt wurde: Wie viele Angehörige westlicher Staaten sich dem IS angeschlossen haben. Badiah Jazzaas Peiniger, der Kommandant von Aleppo, war US-Amerikaner und wurde von seinen Kumpanen "al-Amriki" genannt. Zwei lange Monate waren Badiah Jazzaa und ihre Freundin seine Gefangenen.
Dank ihres Widerstandsgeistes, ihrer Kühnheit, glücklicher Zufälle und der Unterstützung durch die andere junge Jesidin, die die Zeit der Gefangenschaft mit ihr teilte und zu ihrer Vertrauten wurde, gelang schließlich eine waghalsige Flucht. Nur mit Unterstützung und viel Glück schafften sie es bis zur türkischen Grenze und von hier aus ins irakische Flüchtlingslager.
Badiah Jazzaa hätte also endlich aufatmen können. Und ihre Freude hätte umso größer sein können, denn unter den vielen Tausend Menschen traf sie eine ihrer Schwestern, ihre Schwägerin und Mutter des kleinen Eivan und ihren jüngsten Bruder wieder. Aber, und das wissen Therapeuten nur zu gut, so leicht lassen sich traumatische Erlebnisse nicht überwinden.
Ein Jahr verbrachte Badiah Jazzaa im Lager, dann konnte sie 2015 als eine von 1.100 jesidischen Frauen und Kindern in einem Sonderprogramm der Landesregierung nach Baden-Württemberg ausreisen. Und sie hatte Glück. Anders als andere Frauen, die mit dem Sonderprogramm nach Südwestdeutschland kamen, konnte sie Wurzeln schlagen und sich ein neues Leben aufbauen. Noch im Flüchtlingslager hatte sie ihren Mann Ahmed Hulka kennengelernt, und auch ihm gelang die Ausreise.
Anfangs lebte Badiah Jazzaa mit dreißig anderen Frauen und Kindern und abgeschirmt von der Öffentlichkeit in einem Tübinger Stift. Mittlerweile wohnt sie zusammen mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter in einer von der Stadt angemieteten Wohnung. Die Tochter geht in die nahegelegene Kita und liebt es, dort zu sein. Anfangs war die Mutter "verrückt vor Angst", wenn sie ihr Kind in fremde Hände gab. Aber mit der Zeit legte sich dieses Gefühl, sie sah, wie gut der Kleinen die Kita tat.
Angekommen in Deutschland
Die Mutter nutzte die gewonnene Zeit, um Deutsch zu lernen und eine Ausbildung zu beginnen. Als Kind hatte sie den Traum gehabt, Ärztin zu werden. Nach einem freiwilligen sozialen Jahr in der Tübinger Klinik wurde ihr klar, dass sie die notwendige Distanz zum Leiden der Patienten nicht aufbringen konnte. Die Probleme gingen ihr allzu nah.
Im medizinischen Bereich wollte sie dennoch arbeiten, aber in einem, in dem das Leben nicht auf dem Spiel steht. Sie begann eine Ausbildung bei einem Kieferorthopäden und wechselte vor Kurzem, in ihrem letzten Ausbildungsjahr, zu einer zahnmedizinischen Praxis in Tübingen. Nach der Arbeit geht die Arbeit für sie weiter. Sie lernt für die Schule. Im Mai 2023 wird sie ihre Ausbildung abschließen und als Zahnarzthelferin übernommen werden.
Badiah Jazzaa ist ein Musterbeispiel fürs Angekommensein in Deutschland. Eines Tages, so ihr Traum, wolle sie vielleicht sogar studieren. Sie weiß, dass ihre Heimat ihr diese Möglichkeiten niemals geboten hätte. Doch der Preis, den sie für ihr neues Leben zahlt, ist ihr ebenfalls bewusst: Sie muss mit Verlust und Trauer leben.
Für Badiah Jazzaa und ihre Familie ist klar, dass sie in Deutschland bleiben wollen. Aber Deutschland kommt ihnen dabei nur halbherzig entgegen. Das jesidische Sonderprogramm des Landes Baden-Württemberg lässt nur befristete Aufenthaltsgenehmigungen zu. Alle zwei Jahre muss die Verlängerung beantragt werden, erst mit einem ausreichend hohen Verdienst ist das Bleiberecht gesichert. Deshalb musste Badiah Jazzaa nun neben Ausbildung und Schule einen Minijob annehmen, um auf den nötigen Lebensunterhalt zu kommen. Ihr Antrag auf Niederlassungserlaubnis wird derzeit geprüft, und vermutlich kann sie bald für sich und ihre Tochter, deren Status damit ebenfalls geklärt wäre, aufatmen.
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