Das Thema jedoch, das zu den offensichtlichsten Verwerfungen führt, ist eindeutig die Impffrage. Dabei hat die Zahl der Impfgegner und Verschwörungsgläubigen seit der Pandemie laut der jüngsten FES-Mitte-Studie, erschienen im Juni 2021, gar nicht zugenommen. Sie werden nur lauter, vehementer, zunehmend gewaltbereit. "Das Thema ist im Alltag viel präsenter", beobachtet auch Sarah Pohl: "Ob sich früher jemand gegen die Masern-Impfung aussprach, war nicht so relevant." Auch wenn Leute glaubten, dass die Erde eine Scheibe sei (oder wahlweise hohl), Nine Eleven eine Inszenierung der CIA (oder des Mossad), oder dass es niemals eine Mondlandung gegeben habe – dann waren das eben "ein paar Spinner mit schrulligen Ideen". Große Auswirkungen hatte das nicht. Heute zerbrechen Freundschaften und Ehen an solchen Themen. Weil sich zur Corona-Impfung jeder und jede positionieren muss. "Und weil die Situation von beiden Seiten als existentiell bedrohlich erlebt wird", erklärt Pohl: Beide empfinden großen Zeitdruck und haben das Bedürfnis, die andere Seite zu missionieren – für oder gegen die Impfung –, um Schaden abzuwenden. "In der Pandemie sind Verschwörungstheoretiker zu Verschwörungspraktikern geworden", formuliert es Pohl. So gibt es Eltern, die ihre Kinder seit Monaten nicht in die Schule schicken; andere setzen auf eine Ansteckung und die damit einhergehende Immunität. Eine Freiburger Kieferorthopädin weigerte sich unlängst, einen geimpften Jungen zu behandeln, aus Sorge, der Impfstoff könne ihr schaden. Und in Senzig bei Berlin hat ein Vater seine ganze Familie ausgelöscht, wobei möglicherweise ein gefälschtes Impfzertifikat eine Rolle gespielt hat.
Warum aber werden Freunde oder Angehörige zu Verschwörungsgläubigen? Die Sozialpsychologin Pia Lamberty, die sich seit vielen Jahren damit befasst, nennt unterschiedliche Gründe: Vielfach handelt es sich um Menschen in existentiellen Krisen – Trennungen, Jobverlust, Krankheit oder auch gesellschaftliche Krisen wie die Pandemie. Die Verschwörungstheorie, derzufolge alles mit allem zusammenhängt und es immer Schuldige gibt, entlastet von der eigenen Verantwortung. Die Theorie erklärt undurchschaubare Zusammenhänge scheinbar einfach und gibt dadurch ein Gefühl der Kontrolle und Sicherheit zurück. Zugleich kann der Glaube an die eigene Erweckung ein angeschlagenes Selbstbewusstsein aufpolieren nach dem Motto: "Ich habe erkannt, was gespielt wird, ihr anderen seid dumme Schlafschafe". Die neue Zugehörigkeit zu einer verschworenen Gemeinschaft kann darüber hinaus einem Gefühl der Einsamkeit entgegenwirken. Bei Menschen, die grundsätzlich hinter allem Verschwörungen wittern, sprechen Psychologen von einer regelrechten Verschwörungsmentalität. Etwa jede fünfte Person in Deutschland neigt laut FES-Mitte-Studie dazu.
Kein Wunder, dass Sarah Pohl und ihr Team alle Hände voll zu tun haben. Zumal der Weg heraus aus dem Verschwörungsglauben viel länger dauert als der hinein: "Rein geht es durch eine Art Erleuchtungsmoment, aber raus geht es nur schrittweise. Niemand ändert seine Meinung von heute auf morgen." Die gute Nachricht für diejenigen, die es schaffen: Sie lernen, dass sie selbst etwas verändern können. Wer hingegen an geheime Mächte glaubt, ist ihnen auch ausgeliefert.
Wenn Eltern plötzlich krudes Zeug glauben
Damit Menschen gar nicht erst zu Verschwörungsgläubigen werden, ist ZEBRA auch präventiv unterwegs. Die Berater und Beraterinnen sind vor allem mit Workshops an Schulen aktiv. Aber auch ältere Menschen versuchen sie zu erreichen, etwa mit Angeboten zu Medienkompetenz. "An uns wenden sich nämlich sehr viele um die Vierzigjährige, deren Eltern plötzlich merkwürdige Geschichten glauben, die sie aus unseriösen Medien haben", berichtet Pohl.
Gibt es allgemeine Ratschläge zum Umgang mit Verschwörungsgläubigen, Frau Pohl? "Nicht anfeinden", sagt die Beraterin, nicht in die Schublade stecken. Stattdessen rät Pohl, sich wertschätzend zu äußern – beispielsweise darüber, dass die andere Person ein kritischer Geist sei oder dass sie über ihre Gedanken offen spreche. Erstmal interessiert nachfragen, anstatt direkt zu urteilen. Versuchen, die Gefühle hinter dem Verschwörungsglauben zu verstehen. Den gemeinsamen Nenner suchen. Das Thema nicht alle Gespräche dominieren lassen. Gelassen bleiben, auch mal einen Scherz machen. Und: Geduld haben! Denn es sei mit den Verschwörungsgläubigen wie mit Verliebten: Wer sich in eine Verschwörungstheorie verliebe, so Pohl, sehe daran erstmal alles rosig. Nach etwa sechs Monaten beginnt der Lack zu bröckeln, erste Zweifel keimen. Allerdings nicht, wenn die Umwelt die Verschwörungsgeschichten verteufelt. Denn dann, so Pohl, setze der "Romeo-und-Julia-Effekt" ein: Je heftiger die Eltern des tragischen Liebenspaares die Liaison ablehnten, desto stärker wurde sie. Das Ende war verheerend.
Nicht bei Jan und Yvonne Winter übrigens: Er hat sich impfen lassen. Sie hat sich nicht von ihm getrennt.
* Namen geändert
Info:
ZEBRA Zentrale Beratungsstelle für Weltanschauungsfragen Baden-Württemberg, Gartenstraße 15, 79098 Freiburg, www.zebra-bw.de, Telefon 0761 48898296
Lesetipps:
Sarah Pohl, Isabella Dichtel: Alles Spinner oder was? Wie Sie mit Verschwörungsgläubigen gelassener umgehen. Göttingen 2021
Pia Lamberty, Katharina Nocun: True Facts. Was gegen Verschwörungserzählungen wirklich hilft. Berlin 2021
6 Kommentare verfügbar
Karl P. Schlor
am 23.12.2021Natürlich ist es verlogen, ihm mit seiner Impressum-Adresse den Lebens- bzw. Arbeitsmittelpunkt Berlin und die…