Baden-Württemberg ist Absteiger in vielen Bildungsvergleichen. Seit Jahrzehnten wird herumgedoktert, sogar an den Fakten. Fachleuten in Politik, Kommunen und Verbänden fällt es zunehmend schwer, sich über Gründe für die vielen Baustellen zu verständigen, inhaltliche Schnittmengen werden rarer. Die einen – Grüne und SPD – finden weder parlamentarische Mehrheiten noch ausreichend Akzeptanz in der Bevölkerung für ihre Vision aus Gymnasium und Gemeinschaftsschule, die anderen setzen auf eine klare Trennung ab Klasse fünf in Gymnasium, Real-, Gemeinschafts-, Werkreal- oder Hauptschule und auf den Erhalt möglichst homogener Schülergruppen. Eben erst haben CDU und FDP versucht, Gespräche über einen sogenannten "Schulfrieden" in Gang zu bringen, einen verbindlichen Konsens also, der in die Zukunft weist und dort auch Gültigkeit hat. Die Gespräche drohen schon vor dem Start zu scheitern, zu viel Prestige und Sturheit sind im Spiel.
Drei Wünsche an die gute Fee
Nele Baumeister (Name geändert) könnte helfen mit ihrer Wortmeldung aus einer schulischen Wirklichkeit, die in vielen Bereichen eine glatte Sechs verdient. Sie weiß aus der Praxis, was falsch läuft in der Grundschule, die so wichtig ist fürs weitere Fortkommen. Ihre drei Wünsche, die sie zügig einer fiktiven Fee unterbreiten könnte, illustrieren den Reformbedarf: Auch Grundschul-Klassenlehrer:innen brauchen Zeit und damit eine Entlastung vom Unterricht, um ihre diversen Aufgaben darüber hinaus erledigen zu können. Die Bezahlung muss auf A13 (4.700 bis 5.800 Euro) angeglichen und die Größe der Klassen insgesamt deutlich verringert werden. Denn Grundschulen sind Gemeinschaftsschulen mit Kindern auf unterschiedlichstem Niveau. Die einen können schon in der ersten Klasse weit über die Zahl zehn hinaus addieren und subtrahieren, andere kaum einen Bleistift richtig halten. "Meine Leistung ist es, gerade den Schwachen vieles beizubringen", sagt die Lehrerin. Manchmal, wenn Gruppen- oder Projektarbeiten anstehen, trägt sie Sportkleidung, "weil ich so ins Schwitzen komme".
Der Lehrerin an einer Grundschule in bürgerlich-liberaler Umgebung der Landeshauptstadt ist klar, dass die Fee ein großes Füllhorn dabeihaben müsste. Gelten lassen will sie die gebetsmühlenartig wiederholten Hinweise auf knappe Kassen dennoch nicht. Gerade weil vielfach bewiesen ist, wie sich Versäumnisse in Kitas und Grundschulen später rächen. "Gesamtwirtschaftlich, bei Betrachtung der späteren Einkommen und der erwarteten Arbeitslosigkeit, zeigt sich, dass Schulen die einzigartige Chance bieten, die Fähigkeiten einer jeden Schülergeneration zu entwickeln und damit einen entscheidenden Beitrag zum langfristigen Wohlstand eines Landes zu leisten", schreibt auch die Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) in einer Zusammenfassung von Erkenntnissen, die schon in den Sechzigerjahren gewonnen worden waren.
Ministerpräsident Winfried Kretschmann, der bekanntlich selbst in einem anderen Jahrtausend unterrichtet hat, und Kultusministerin Theresa Schopper (beide Grüne) halten konkreten Forderungen wie denen von Nele Baumeister und den einschlägigen Verbänden nackte Zahlen entgegen. Das klingt kühl, etwa wenn sie darauf verweisen, dass ohnehin schon jeder vierte Euro aus dem Landeshaushalt in die Bildung fließt. Und speziell mit Blick auf die Grundschule finden sie Worte, die nach Formel und Floskel riechen: "Auf den Anfang kommt es an."
Tausendfach haben baden-württembergische Bildungspolitiker:innen in den vergangenen Jahren diese sechs Worte wiedergekäut. Gerade Grüne, die bekanntlich seit inzwischen fast 13 Jahren die Landesregierung anführen. Tausendfach gebrochen wurde das Versprechen, besonderes Augenmerk auf Kitas und die ersten vier Schuljahr zu legen. Denn statt mehr gibt es weniger Lehrkräfte, dementsprechend mehr statt weniger Unterrichtsausfall. Und die Anforderungen an Lehrkräfte, weiß Nele Baumeister, sind viel zu unpräzise.
Elterngespräche und Schullandheim sind Ehrenamt
Aktuelles Beispiel ist die Erziehungspartnerschaft, die Kretschmann erneut ins Spiel gebracht hat, diesmal rund um die Grundschulempfehlung. Seine Behauptung: Hielten sich mehr Eltern an den Rat der Lehrkräfte, gäbe es in den weiterführenden Schulen nicht so viele Probleme. Baumeister weiß genau, wovon er spricht, Kretschmann aber ganz offensichtlich nicht, was seine Forderung im Alltag auslösen würde. Denn: Pädagog:innen, die die Zusammenarbeit mit Eltern ernst nehmen und letztere nicht Im Schnelldurchlauf abspeisen, opfern ihre Freizeit. Ein Beispiel von vielen: Nach Corona sind Erschöpfung und Verunsicherung groß; an der Schule läuft der erste Elternabend in Präsenz anders als erwartet; 18 oder 20 Einzelgespräche sind die Folge, um allen Interessierten das Gefühl zu geben, die eigenen Probleme und die ihrer Kinder werden gehört und ernst genommen. Die neun oder zehn Stunden, die Lehrkräfte auf diese Weise investieren, sind als unbezahltes Engagement irgendwie eingepreist. "Arbeite ich im Ehrenamt?", fragt sie rhetorisch und führt ihre vielen zusätzlichen Aufgaben ins Feld. Dazu zählt das Organisieren von Festen, Ausflügen oder Schullandheimaufenthalten – "und sie notfalls auch privat mitzubezahlen", also ohne jeden Ausgleich, ohne jede zeitliche Anrechnung.
Hinzu kommt in ihren Augen grob Überflüssiges: Die Mutter von zwei Kindern im Gymnasium – G8, übrigens ohne Überforderung – hat am Medienentwicklungsplan für künftigen Unterricht mitgearbeitet. Der ist 35 Seiten stark und war Voraussetzung, um an Geld aus dem Digitalpakt von Bund und Land zu kommen. Eine detaillierte Analyse des Ist-Stands musste eingereicht werden: von den bereits aufgegriffenen Themen bis zu den gespendeten Tablets und detaillierten Plänen in jedem einzelnen Fach für die Zukunft. Alle Beteiligen hätten die investierte Zeit gern anders verwendet, zumal die Ausstattung bis heute hinter den bildungspolitischen Ansprüchen herhinkt.
Ohnehin zöge Nele Baumeister es vor, in der realen Welt mit mehr Geld für kleinere Klassen zu sorgen. Im vergangenen Schuljahr hat sie 28 Kinder unterrichtet – exakt die Zahl eins unter dem Klassenteiler, denn ab dem 29. Schulkind wird eine zweite Klasse gebildet. In diesem Jahr sind es 17 Schüler:innen. Finanzpolitiker:innen suchen parteiübergreifend seit Jahren nach Einsparmöglichkeiten und wollen derart kleine Klassen auffüllen durch regionalen Ausgleich. Denn unstrittig sind kleinere Klassen teurer. Sie sind aber auch ungerecht jenen gegenüber, die in großen sitzen.
Mehr Wertschätzung, auch für Grundschullehrkräfte
In alle Schularten wird seit Langem von Kollegien, von den Verbänden, der GEW oder von Elternvertretungen gefordert, die Klassenteiler zu senken, vor allem für die Realschulen mit der besonders heterogenen Schülerschaft. Selbst schrittweises Vorgehen würde alljährlich mehrstellige Millionensummen zusätzlich verschlingen. Für Praktiker:innen steht allerdings schon seit Langem fest, dass ein Drehen an dieser Stellschraube viele Probleme lösen würde, weil Schüler:innen viel individueller gefördert werden können, gerade in der Grundschule und in elementaren Fertigkeiten. "Und wir Lehrkräfte sind viel zufrieden und damit leistungsfähiger", weiß Baumeister.
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Irene Waller
am 15.02.2024