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Tübinger Wohnbaugenossenschaft "Neustart solewo"

Ein Quartier für alle

Tübinger Wohnbaugenossenschaft "Neustart solewo": Ein Quartier für alle
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Die Genossenschaft "Neustart solewo" möchte das Tübinger Modell der Wohnungspolitik weiterentwickeln und Wohnungen für bis zu 500 Menschen bauen. Ein beispielhaftes Projekt, doch gestiegene Baupreise gefährden die Finanzierung.

Die Wand aus Umzugskartons symbolisiert mit ihren aufgemalten Fenstern bezahlbares Wohnen. Doch "stark gestiegene Baukosten", "zu geringe Fördermittel", "überbordende Bürokratie" bringen sie zum Einsturz. "Die zugespitzte Wohnungsfrage ist die soziale Frage unserer Zeit", trägt Johanna Neuffer aus dem Forderungskatalog vor, den sie dem Wohnungsbauministerium in Stuttgart überbringt. "Nach Berechnungen des Mieterbundes stehen in Baden-Württemberg 50.000 Sozialwohnungen 500.000 Haushalten gegenüber, die eine solche brauchen."

Neuffer gehört zum Vorstand der Genossenschaft "Neustart: solidarisch leben und wohnen" (solewo), gegründet 2020 in Tübingen. "Neustart" will Wohnraum für 500 Menschen schaffen. Doch die dramatischen Baukostensteigerungen bringen ihre Kalkulation ins Wanken. Deshalb die Aktion vor dem Ministerium und die Forderungen im Namen von 40 Wohnbauträgern und Initiativen. Am Ende wird die Wand neu aufgerichtet. "Rettungsschirm für gemeinwohlorientiertes Bauen" steht nun auf einem Karton und ganz oben: "dauerhaft bezahlbar ökologisch/ klimagerecht wohnen".

Für den Querschnitt der Bevölkerung bauen

Ingrid Bauz, Andreas Roth und Marc Amann stehen auf dem Marienburger Areal, wo die Genossenschaft bauen will: eine der letzten verfügbaren Flächen dieser Größe in der Tübinger Südstadt, zwischen der autobahnähnlichen Stuttgarter Straße und den Stadtwerken, die das Areal bisher als Lager und Parkplatz nutzen, zwischen dem Französischen Viertel, Vorzeigeprojekt der 1990er-Jahre, und schlichteren Wohnbauten älteren Datums.

Und genau diese Nachbarschaft bestimmt auch das Vorhaben: "Neustart" will für einen Querschnitt der Bevölkerung bauen und steht in Kontakt mit den Nachbarn auf allen Seiten. Die Stadtwerke etwa planen eine neue Mensa. Dafür muss eine Straße versetzt werden, aber die Mensa soll auch dem Quartier zur Verfügung stehen. Ein Solidarisches Stadtteilgesundheitszentrum soll für die gesamte Südstadt da sein. Erst im Dezember hat sich dafür ein eigener Verein gegründet.

Bauz gehört zum Vorstand, Amann und Roth zu den Initiatoren des Projekts. Alle drei haben langjährige Erfahrungen in gemeinschaftlichen Projekten. Bauz hat zuletzt als kaufmännische Angestellte in einem gemeinnützigen Verein gearbeitet, Amann ist freiberuflich in der politischen Bildungsarbeit tätig und Roth hat bis vor Kurzem das Kulturzentrum franz.K in Reutlingen geleitet.

Unbezahlbare Mieten für die weniger Wohlhabenden

Roth wohnt schon lange im Französischen Viertel. Dort gibt es auch einen Besprechungsraum im Franzwerk: Es sieht aus wie ein Café, doch niemand steht hinter dem Tresen. In diesem solidarischen Co-Working-Space zahlt jede:r so viel er oder sie kann – ob für Kaffee oder für den Arbeitsplatz. Das Angebot wird gut angenommen. Das Französische Viertel, auf dem Gelände einer Kaserne erbaut unter Einbeziehung der alten Substanz, ist in vielerlei Hinsicht immer noch vorbildlich: ökologisch etwa oder als "Stadt der kurzen Wege", in der es alles gibt, was man braucht.

Und das Viertel war Ausgangspunkt für das "Tübinger Modell" der Wohnungsversorgung: Die Stadt erwirbt Grundstücke und vergibt sie nicht an den Meistbietenden, sondern für das beste Konzept. Neben Baugemeinschaften baute hier auch das Studierendenwerk. Inzwischen haben einige Eigentümer:innen ihre Wohnungen weiterverkauft. Und wie so häufig: Wenn etwas gut ankommt, steigen die Preise. Man nennt es auch Gentrifizierung.

Genau da setzt "Neustart" an: Die Genossenschaft möchte ein Quartier, das für alle erschwinglich ist, nicht nur für den gehobenen, ökologisch bewussten Mittelstand. Denn für die weniger Wohlhabenden wird es in Tübingen immer schwieriger. 400 bis 800 Euro für ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft, 1.100 Euro für eine kleine Zweizimmerwohnung: Mit solchen Preisen sind Studierende bei der Wohnungssuche konfrontiert. Im Schnitt 550 Euro im Monat, das BAföG-Amt übernimmt aber nur 360 Euro. Und auch das Jobcenter zahlt nur 689 Euro für einen Zweipersonenhaushalt. Bleibt eine Lücke von rund 200 Euro pro Kopf.

Vorbild Zürich

"Untätigkeit verschärft Wohnungsbaukrise"

"Runder Tisch Wohnbau gescheitert", schreibt die Architektenkammer Baden-Württemberg (AKBW) Anfang des Jahres in einer Pressemitteilung. Das bezieht sich auf ein Krisengespräch, zu dem Wohnungsbauministerin Nicole Razavi (CDU) im November eingeladen hatte, nachdem AKBW, IBA’27 und Mieterbund in einem Positionspapier gewarnt hatten, der Bau bezahlbarer Wohnungen sei nicht mehr finanzierbar – mit einem konkreten Vorschlag zur Abhilfe. "Die Landesregierung reagiert in keinster Weise mit der notwendigen Entschlossenheit auf den Ernst der Lage", protestiert Kammerpräsident Markus Müller. "Bund UND Länder müssen handeln, wenn der Markt versagt, und das tut er derzeit." Diese Untätigkeit gefährde den sozialen Frieden.  (dh)

"Neustart" bezieht sich auf das Tübinger Modell, das ein Update benötigt, wenn die Stadt nicht Studierende und ärmere Haushalte vertreiben will. Zugleich verweist der Begriff auf den Verein "Neustart Schweiz" um Hans E. Widmer, der mit dem heutigen IBA’27-Intendanten Andreas Hofer um die Mitte der 1990er-Jahre in Zürich die Genossenschaft "Kraftwerk1" gegründet und damit eine beispiellose Entwicklung im Wohnungsbau angestoßen hat.

Widmer lieferte die Theorie: Eine Größenordnung von 500 Personen biete die besten Voraussetzungen für ein demokratisches, gemeinwohlorientiertes Zusammenleben, schrieb er in dem comicartigen utopischen Büchlein "bolo‘bolo", ausgehend von den Erfahrungen der Züricher Hausbesetzerszene. Solche Gemeinschaften nannte er bolo. Sein nächstes Buch, namensgebend für den Verein, hieß "Neustart Schweiz. So geht es weiter".

Und so ging es weiter: In Zürich entstanden rund 10.000 Genossenschaftswohnungen. Und da die Stadt die Grundstücke nur in Erbpacht vergibt und Genossenschaften nicht mehr als die Kostenmiete verlangen dürfen, sinken auf Dauer die Mieten. Daran orientiert sich die Tübinger Initiative. Nach einer Exkursion zum Wohnprojekt "Kalkbreite" in Zürich und einem Vortrag eines der Vorstände von "Neustart Schweiz" nahm die Idee Fahrt auf. Seit 2020 ist "Neustart" eine eingetragene Genossenschaft, die heute 200 Mitglieder hat.

Ein Quartierszentrum für alle

Warum nicht ein Projekt unter dem Dach des Mietshäuser Syndikats, das den Weiterverkauf seiner Objekte ausschließt und damit Mietsteigerungen vermeidet? Marc Amann kommt von der Tübinger Gruppe des Syndikats. Eine Genossenschaft, meint er, könne eine stärkere Bindungskraft entfalten als das Syndikat mit seinen 190 Häusern und einer Zentrale in Freiburg. Und die Projekte des Syndikats sind zumeist kleiner, etwa in Tübingen mit maximal um die 100 Bewohner. Doch eine gewisse Größe braucht es, um wirtschaftlich bauen zu können, das ist die Lehre aus Zürich. Die Clusterwohnungen mit kleinen Privatbereichen und großen Gemeinschaftsräumen wurden dort erfunden: auch aus Kostengründen. Und dass die Wohnungen auch bei "Neustart" dauerhaft in der Hand der Genossenschaft bleiben, steht in deren Satzung.

Aber die Genossenschaft will mehr. "Das eine ist das Wohnen, das andere ist das Quartier", bemerkt Roth. Zweiteres soll einen neuen Mittelpunkt erhalten mit einem großen, teilbaren Saal: ein Ort ohne Konsumzwang, auch für die Bewohner der angrenzenden Viertel. Eine Verleihstation für Werkzeug und Maschinen ist geplant, eine Gemeinschaftswerkstatt, ein Depot der solidarischen Landwirtschaft, Lastenräder und andere schöne Dinge.

Die Stadt Tübingen zeigt sich aufgeschlossen. Sie hat "Neustart" mit einem Konzept für das Areal beauftragt. Die Genossenschaft hat Befragungen durchgeführt, was sich die Leute wünschen. Das bedeutet alles viel ehrenamtliche Arbeit, wie sie die Stadtverwaltung niemals leisten könnte. Alle zwei Wochen trifft sich zur Projektkoordination eine Gruppe aus dem dreiköpfigen Vorstand und einem ebenfalls dreiköpfigen Beirat, dem Roth und Amann angehören. Eine Reihe von Arbeitsgruppen kümmern sich um Finanzen, Bauen, Öffentlichkeitsarbeit oder um ein ökologisches Verkehrskonzept für ein autoarmes Quartier.

Steigende Kosten hemmen den Neustart

Das Marienburger Areal soll zu einem Modellquartier für die gemeinschaftliche Bewirtschaftung von Ressourcen werden. Das hat der Gemeinderat mit großer Mehrheit beschlossen. Als nächstes wird noch in diesem Frühjahr, zunächst in Form einer Voroption, ein Ankernutzer gesucht, der den größeren Teil des Areals entwickelt und dann im Laufe eines Jahres die endgültige Bestätigung erhalten soll. Alles weist auf "Neustart" hin.

Aber nun gerät die Genossenschaft finanziell unter Druck. Seit Gründung der Initiative vor etwa vier Jahren haben sich die Baukosten verdoppelt, die Bauzinsen vervierfacht, stellt Roth fest. "Wir jonglieren immer mit verschiedenen Komponenten und müssen alles nützen, was uns zur Verfügung steht", erläutert er. Ein Eigenkapitalanteil sei Voraussetzung, auf Basis der Einlagen der Genossenschaftsmitglieder. Dazu kämen Kredite und verschiedene Fördertöpfe, etwa für klimagerechtes, ökologisches Bauen.

So hat "Neustart" im Dezember den Zuschlag für eine Landesförderung für "beispielgebendes Bauen" bekommen. In ihrem Antrag hat die Genossenschaft den Akzent auf Wohnflächensuffizienz gelegt, also flächensparendes Wohnen: Derzeit liegt die durchschnittliche Wohnfläche pro Kopf bei 48 Quadratmeter. Bei "Neustart" sollen es nur 30 Quadratmeter sein. Unter anderem sollen Wohnungen getauscht werden können. Zinsvergünstigte Darlehen der L-Bank gibt es aber nur für die reine Wohnfläche, also hier weniger. Das passt nicht zusammen.

Noch dazu besitzt das Land selbst einen Teil des Areals und scheint in seinen Verhandlungen mit der Stadt Tübingen möglichst viel herausschlagen zu wollen. Je höher aber der Preis, den Tübingen zahlen muss, desto enger wird es für die Genossenschaft. Deshalb hat sich der erweiterte Vorstand um Bauz, Roth und Amann entschlossen, andere Genossenschaften und Akteure anzuschreiben und sich mit einem Forderungskatalog an das Wohnungsbauministerium zu wenden. Sie schließen sich damit dem Aufruf der Architektenkammer, der IBA und des Mieterbunds an, die schon im letzten Jahr vor einem drohenden Ende des sozialen Wohnungsbaus gewarnt hatten.

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