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Schule: G8 oder G9?

Mehr Zeit für gute Beteiligung

Schule: G8 oder G9?: Mehr Zeit für gute Beteiligung
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Zwei Mütter haben einen Volksantrag zur flächendeckenden Wiedereinführung des neunjährigen Gymnasiums in Baden-Württemberg initiiert. Jetzt haben sie Muffensausen. Die Sammlung der Unterschriften lahmt, und mit einem Mal erscheint der bisher milde belächelte Bürger:innen-Rat in ganz neuem Licht.

Vielleicht findet sich später mal eine Doktorandin oder ein Doktorand mit Interesse an der Erforschung der Kluft zwischen gefühlter und tatsächlicher Unterstützung. Im November 2022 jedenfalls, als Corinna Fellner und Anja Plesch-Krubner, Mütter von Gymnasialkindern, ihre Initiative "Mehr Zeit für gute Bildung – G9 jetzt" starteten, schien die Sammlung von rund 39.000 Unterschriften für einen Volksantrag reine Formsache zu sein – bei fast 300.000 Kindern und Jugendlichen an den allgemeinbildenden Gymnasien im Land. Wie ein Selbstläufer stellte sich ihr Anliegen dar. Der achtjährige Weg zum Abitur wird seit Langem griffig als "Turboabitur" gebrandmarkt, die Rückkehr zu G9 regelmäßig als Wunsch einer überwältigenden Elternmehrheit dargestellt.

Aber es kam anders, als die glühenden Unterstützer:innen dachten. Denn die beiden Initiatorinnen sahen sich zu Wochenbeginn und obendrein mitten in den Ferien, aufgerufen, einen Hilfeschrei loszulassen. Im Schnitt müssten jetzt jede Woche bis zum Fristablauf im November 1.600 Unterschriften her, aber selbst das finden die beiden Mütter plötzlich ziemlich schwierig. "Wir machen uns Sorgen", heißt es in einem Schreiben an alle Mitstreiter:innen landesweit, "wir müssen zugeben, uns verschätzt zu haben."

Das Prozedere ist aufwendig

Als hauptverantwortlich wird das unstrittig aufwändige Prozedere der Unterschriftensammlung dargestellt, konkret: der Umgang mit den Formblättern, die für jede einzelne Unterschrift eine Bestätigung der Wahlberechtigung durch die Wohnortgemeinde brauchen. Der Verein "Mehr Demokratie" fordert schon lange von der Landesregierung, ein sicheres Online-Portal einzurichten, um Unterschriften auf diesem einfachen Weg zu sammeln, "in Zeiten", sagt die Landesgeschäftsführerin Sarah Händel, "in denen ich beim Einkauf mit dem Handy zahlen kann."

Neben dem Sammelaufwand müsste sich aber auch die Grundsatzfrage stellen. Aber Fellner und Plesch-Krubner kommen gar keine Zweifel dazu, ob ihr Projekt als solches nicht doch vielleicht weniger Anklang findet als gedacht. Im Gegenteil: "Wir alle machen die Erfahrung, dass eine überwiegende Mehrheit der Menschen unser G9-Konzept unterstützt." Und der nächste Satz grenzt vollends an Realitätsverweigerung: "Ein ganz großer Teil der 7,8 Millionen Wahlberechtigten würde also unterschreiben, wenn man ihnen die Möglichkeit bietet." Mithin sei es eine "Fleißaufgabe" der Initiative, die fehlenden Unterschriften noch einzusammeln – "am besten im persönlichen Austausch, denn alles andere funktioniert meist nicht zuverlässig".

Solche Durchhalteparolen sind allerdings alles andere als plausibel. Denn womöglich sind inzwischen viel mehr Jugendliche und Eltern im Reinen mit dem achtjährigen Gymnasium, trotz Zeitdruck. Oder mit dem gewonnenen Jahr nach dem Abitur, um zu den Kiwis in Neuseeland zu reisen oder anderswo per Work and Travel Erfahrungen fürs Leben zu sammeln. Vielleicht ist das alles auch nicht so, oder um einiges komplizierter. Aber: Die Gewissheit, mit der viele der G9-Fans wissen, dass der von ihnen gepriesene Weg der einzig richtige ist, erinnert verdächtig an Stuttgart 21 und andere dogmatisch überhöhte Ideen.

Gerümpfte Nasen und hochgezogene Augenbrauen

Gerade eine Tatsache blendet die Eltern-Initaitive konsequent und geflissentlich aus: dass an den gut 270 Beruflichen Gymnasien und an neun Gemeinschaftsschulen die Abkehr vom Turboabitur Realität ist und, dass, wer will, für den eigenen Nachwuchs sehr wohl eine Alternative zu den acht Jahren suchen und finden kann. Leider reagieren besonders bildungsnahe Familien gern mit gerümpfter Nase oder hochgezogenen Augenbrauen auf derartige Hinweise. In gewissen Kreisen zählen allein das klassische Gymnasium und vergleichsweise homogene Lerngruppen. Was auch eine weitere Realität verkennt, denn nach der zwölften oder der dreizehnten Klasse geht es im richtigen Leben erfahrungsgemäß ganz schön heterogen zu.

Die Wahrscheinlichkeit ist dennoch groß, dass am Ende im November die für den Volksantrag verlangten Unterschriften zusammenkommen. Weil der jetzt verlangte "echte Ruck" durch die G9-Community geht und wie angekündigt auf Elternabenden gerade an Grundschulen zum Schuljahresbeginn ausreichend geworben werden kann. Als glanzvoll allerdings wird "der Kampf gegen Windmühlen, weil Politiker ihren Job nicht machen", dessen sich die Unterstützer:innen rühmten, nicht mehr in die Landesgeschichte eingehen. Mit breiter Brust werden die Besucher:innen, wenn ihr Gesetzentwurf vom Landtag beraten werden muss, kaum mehr seine Annahme fordern können, da kann die FDP-Fraktion noch so viel trommeln. Medienwirksam haben alle liberalen Abgeordneten im Landtag BAden-Württembergs kurz vor Ferienbeginn "G9-jetzt" unterschrieben. Sie sind aber auch nur 18.

Der Traum von einem Volksbegehren, das über einen Volksantrag hinausgeht, ist mit dem Hilfeschrei ohnehin ausgeträumt. Denn dafür müssten die Unterschriften von rund 800.000 Wahlberechtigten zusammenkommen. Und für einen erfolgreichen Volksentscheid wäre Voraussetzung, dass mindestens 20 Prozent der Wahlberechtigten abstimmen gehen. Es könnte aber sehr gut sein, dass eine ganz andere Form der Beteiligung gerade durch "G9 Jetzt" einen neuen Schub bekommt: Bürger:innen-Räte, die auf kommunaler und auf Landesebene, im Bund und der EU, mit Hilfe zufällig ausgewählter Bürger:innen heikle Themen zu einem guten Ende bringen sollen.

Am Ende könnte Win-Win stehen

Noch bis zum 22. September ist zur Vorbereitung die Online-Beteiligung auf dem einschlägigen Portal des Landes geöffnet. Knapp 130 zum Teil ausführliche Kommentare sind bisher eingegangen und dazu 3300 Bewertungen. 17 verschiedene Komplexe sind angeboten, um sich in die Debatte einzubringen, von den Auswirkungen der möglichen Rückkehr zu G9 über Fragen der Bildungsgerechtigkeit bis zu den Einmaleffekten einer flächendeckenden Einführung (weil Wirtschaft und Hochschulen ein gesamter Jahrgang fehlen würde). Viele Teilnehmende bekennen sich bisher zu ihrer Ablehnung von G8. Plesch-Krubner meint allerdings, wegen des im Herbst stattfindenden Bürgerforums zur Dauer der gymnasialen Schulzeit hätten viele "den Eindruck, das Ding sei durch und in trockenen Tüchern". Und sie bleibt bei ihrer Skepsis: "Das Bürgerforum ist kein Ersatz."

Möglicherweise aber die einzige Chance, die Pläne tatsächlich zumindest schrittweise durchzusetzen. Die Zufallsbürger:innen werden nach jeder Menge Input – auch durch die "G9-jetzt" – und anhand eines tausendfach international, national und regional erprobten Verfahrens diskutieren, argumentieren und zu Entscheidungen kommen. Würde wirklich, wie Plesch-Krubner und Fellner meinen, ein ganz großer Teil der 7,8 Millionen Wahlberechtigten den Antrag unterschreiben, hätten sie die Möglichkeit dazu, müssten sich diese Mehrheiten logischerweise im Bürgerforum abbilden. Und am Ende könnte Win-Win stehen, weil die dialogische Beteiligung endlich das grottenfalsche Orchideen-Image absteifen würde und dem Wunsch nach neun Jahren Gymnasium entsprochen wäre. Immer mit der kleinen, aber feinen Einschränkung: Er ist tatsächlich in der unterstellten Breite und im ganze Land vorhanden.


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12 Kommentare verfügbar

  • Dietmar Rauter
    am 25.08.2023
    Antworten
    Wäre es nicht einmal an der Zeit, grundsätzlichere Fragen zu stellen, z.B. Ist der 'Zwang' zur Sortierung nach der 4.Klasse noch gerechtfertigt, wo dann Jugendlicher, die bisher leichter durch die Grundschule gelaufen sind, dann den Studienräten für weitere 8 Schuljahre überlassen werden und den…
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