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Eis oder Adorno

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Jede Zeile, ach was, jedes Zeichen muss der Hitze einzeln abgetrotzt werden. Was haben wir bei Kontext im April unsere neuen, größeren, schöneren Redaktionsräume in der Hermannstraße bejubelt – und das Dachgeschoss eher schulterzuckend zur Kenntnis genommen. Nun hat sich unser kleines Team um eine Klimaanlage geschart und ächzt und stöhnt. Kurz vorm Zerfließen, krampfhaft darum bemüht, die Konzentration aufrecht zu erhalten – nur um festzustellen, dass ein weiterer tonnenschwerer Gedankenstrang ins Nirwana entglitten ist.

Das kann in etwa so aussehen: Schlecht an den Klimaanlagen ist ihr Stromverbrauch, aber wie soll man es denn aushalten ohne? Die Anpassung an die Klimakrise befördert also die Klimakrise, aber ohne Anpassung ist die Klimakrise … und in zehn Jahren, wie … die Reaktionsmuster antizipieren … Adorno hatte doch … ach, wie schön wäre jetzt ein kleines Eis?

Überhaupt, Eis: Wer soll sich dieses Grundbedürfnis eigentlich noch erfüllen können, wenn in Stuttgart Halsabschneiderpreise von zwei Euro für eine einzige Kugel aufgerufen werden. Wo es die früher – die Erinnerungen haben Gelbstich – doch für einen halben Pfennig zu haben gab? Der Wohnungsmarkt ist ja ein Witz gegen diese Preisexplosion!

Während ein Dach überm Kopf schon ziemlich unverzichtbar ist, ist es ein regelmäßig gefüllter Bauch erst recht. Doch ein Blick in die Tageszeitungen knallt uns das nächste Menetekel vor den Latz. "Die Nahrungsmittel bleiben der stärkste Preistreiber unter den Güterbereichen", informiert das Statistische Bundesamt und beziffert die Inflation in diesem Segment auf schwer zu schluckende elf Prozent – während sich in der reichen Republik zunehmend Kinder in die Schlangen vor den Tafelläden einreihen.

Erschwerend kommt laut der Investmentbank Morgan Stanley hinzu, dass die Anbaugebiete für Weizen, Reis und Mais weltweit immer höheren Dürrerisiken ausgesetzt sind. "So gut wie jeden Sommer gibt es jetzt eine rekordverdächtige Hitzewelle, und zwar nicht nur in einer Kornkammer, sondern in mehreren Kornkammern der Welt", zitiert die taz den US-amerikanischen Klimaforscher Corey Lesk. "Wolkige Aussichten", hätte man da früher schreiben können, aber mitten in der Hitzewelle ist die Wolke ja wie die Sonne in der tristen Regenzeit, also eine erfreuliche Erscheinung, zumindest für einige, aber lässt sich das ver… ver... verdammte Axt, wir brauchen hier jetzt wirklich ganz dringend ein Eis!

Mit den Preisexplosionen auf dem Eismarkt kann Stuttgart 21 zwar noch nicht ganz mithalten. Noch, denn das sauteure Stadtumgrabungsprojekt scheint, wer hätt’s gedacht, noch einmal viel teurer zu werden. Gerüchte gab es ja schon vor der letzten Sitzung des Mehrkosten-Prozesses, doch laut den "Stuttgarter-Zeitungs-Nachrichten" verdichten sich die Anzeichen, dass in absehbarer Zeit die nächste Teuerung offiziell verkündet wird und es wohl über elf Milliarden Euro werden. Schuld sei die Inflation. Klar. Doch auch wenn das Ganze so viel kostet, ist vieles offenbar eher besch...eiden geplant. Auch ein wenig beachteter Teilabschnitt des Projekts, der S-21-Abstellbahnhof in Untertürkheim, wie Kontext-Autor Dietrich Heißenbüttel feststellen musste. Was wohl die Bürger Baden-Württembergs 2011 zu diesen Aussichten gesagt hätten, als sie über den Finanzierungsanteil des Landes am Projekt abstimmen sollten? Lieber nicht darüber nachdenken.

Was Bürgerbeteiligung angeht, will sich zumindest die Stadt Stuttgart nichts mehr nachsagen lassen. Für ihren Bürgerhaushalt nimmt sie gnädig Vorschläge entgegen und hat nun kürzlich verkündet – welche sie nicht umsetzen will oder kann. Womit wir wieder bei der Klimaanpassung wären. Denn Bäume auf dem Rathausplatz und vielen Plätzen im Europaviertel gehen nicht (blöder Untergrund und so), ebenso wenig ein Sonnensegel über dem Marienplatz, Stuttgarts zentralster Bratpfanne. Klagen über dessen Schattenlosigkeit wurden ja schon bei der Umgestaltung vor genau 20 Jahren laut, immerhin wurde die Exerzierplatzhaftigkeit irgendwann aufgelockert durch eine… oh, das ist jetzt wirklich gemein… eine Eisdiele. Vielleicht hätte jemand vor 25 Jahren, als der Platz noch ziemlich verlottert war, Erich Roth darauf aufmerksam machen sollen. Der hätte dann vielleicht den Marienplatz gekauft und ihn einfach der Natur überlassen. Wie viele andere Grundstücke, die er bereits gekauft hat. Man wird ja noch träumen dürfen. Von Bäumen und vielleicht jetzt wirklich einem Eis.


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1 Kommentar verfügbar

  • Gelbkopf
    am 23.08.2023
    Antworten
    Gerade sitze ich in einem Zug (ohne Klimaanlage) auf der Heimfahrt von Tschechien. In Cheb/Eger sind mir niedrige Platanen aufgefallen, die wie üppige Sonnenschirme Schatten spenden, darunter Bänke, auf denen sich dir Leute wohlfühlen bei dieser Hitze. Außerdem gibt es in der Fußgängerzone, auf dem…
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