Kann gut sein, dass Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) das Megathema nicht besonders strukturiert angepackt hat – ausgerechnet in einer Situation, in der die Ampel sich doch konsolidieren und wieder geschlossener auftreten wollte. Und dass die 54-Jährige sich in der heiklen Causa, über die seit Wochen hinter den Kulissen gerungen wird, nicht besonders diplomatisch verhalten hat. Das rechtfertigt aber nicht, wie Liberale und Unternehmenslobbyisten einen der schlimmsten gesellschaftspolitischen Missstände im Lande ignorieren oder zu verharmlosen trachten – andere animierend, es ihnen gleichzutun.
Wie in allen wohlhabenden Ländern geht es nicht vorrangig um alltägliche Not, um Hunger oder ein Leben im Elend. Sondern ganz wesentlich um Teilhabe, darum dabei sein zu können, statt Bessersituierten beim besseren Leben und Reichen beim Reichsein zuzuschauen. Wer mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens auskommen muss, gilt als armutsgefährdet. Die langen Schlangen vor den Tafelläden legen Zeugnis ab von der Dringlichkeit zu handeln.
In Baden-Württemberg haben sich die so lange regierende CDU und ab 1996 die FDP nicht wirklich interessiert für die Zusammenhänge. Erst nach dem Machtwechsel 2011 erkämpfte SPD-Sozialministerin Katrin Altpeter die erste wissenschaftliche Analyse der Zustände im Südwesten, übrigens durchaus auch gegen den Widerstand mancher Grüner bis hinauf zum damals noch neuen Star Winfried Kretschmann. Ein Jahr zuvor hatte die EU die Bekämpfung der Armut zu einem der zentralen Ziele erklärt. Der erste Armutsbericht wurde 2015 vorgelegt. Der befasst sich zudem mit Reichtum und damit, dass die fünf Prozent vermögensreichsten Haushalte in Baden-Württemberg 28 Prozent des Gesamtvermögens besitzen, Tendenz chronisch steigend.
Seither finden sich einschlägige (Lippen-)Bekenntnisse in allen Stuttgarter Koalitionsverträgen. Auch nicht zu früh will Grün-Schwarz jetzt bis 2030 in allen Stadt- und Landkreisen Präventionsnetzwerke gegen Kinderarmut etabliert sehen. Und die Bundesregierung hat sich verpflichtet, Familien stärken und Kinder aus der Armut holen zu wollen. "Dafür führen wir eine Kindergrundsicherung ein", heißt es im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP. Im Kapitel "Digitaler Staat und digitale Verwaltung" wird die automatische Auszahlung dieser Hilfen sogar zur Priorität erklärt. Dazu soll es laut Bundesregierung kommen.
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Bodo Sinn
am 25.08.2023