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Kinderarmut

Abgrundtief asozial

Kinderarmut: Abgrundtief asozial
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Etwa ein Viertel aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland ist von Armut bedroht, auch im reichen Baden-Württemberg. Die FDP und Teile der Wirtschaft haben trotzdem keine Hemmungen, Christian Lindners sogenanntes Wachstumschancengesetz gegen die Kindergrundsicherung auszuspielen.

Kann gut sein, dass Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) das Megathema nicht besonders strukturiert angepackt hat – ausgerechnet in einer Situation, in der die Ampel sich doch konsolidieren und wieder geschlossener auftreten wollte. Und dass die 54-Jährige sich in der heiklen Causa, über die seit Wochen hinter den Kulissen gerungen wird, nicht besonders diplomatisch verhalten hat. Das rechtfertigt aber nicht, wie Liberale und Unternehmenslobbyisten einen der schlimmsten gesellschaftspolitischen Missstände im Lande ignorieren oder zu verharmlosen trachten – andere animierend, es ihnen gleichzutun.

Wie in allen wohlhabenden Ländern geht es nicht vorrangig um alltägliche Not, um Hunger oder ein Leben im Elend. Sondern ganz wesentlich um Teilhabe, darum dabei sein zu können, statt Bessersituierten beim besseren Leben und Reichen beim Reichsein zuzuschauen. Wer mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens auskommen muss, gilt als armutsgefährdet. Die langen Schlangen vor den Tafelläden legen Zeugnis ab von der Dringlichkeit zu handeln.

In Baden-Württemberg haben sich die so lange regierende CDU und ab 1996 die FDP nicht wirklich interessiert für die Zusammenhänge. Erst nach dem Machtwechsel 2011 erkämpfte SPD-Sozialministerin Katrin Altpeter die erste wissenschaftliche Analyse der Zustände im Südwesten, übrigens durchaus auch gegen den Widerstand mancher Grüner bis hinauf zum damals noch neuen Star Winfried Kretschmann. Ein Jahr zuvor hatte die EU die Bekämpfung der Armut zu einem der zentralen Ziele erklärt. Der erste Armutsbericht wurde 2015 vorgelegt. Der befasst sich zudem mit Reichtum und damit, dass die fünf Prozent vermögensreichsten Haushalte in Baden-Württemberg 28 Prozent des Gesamtvermögens besitzen, Tendenz chronisch steigend.

Seither finden sich einschlägige (Lippen-)Bekenntnisse in allen Stuttgarter Koalitionsverträgen. Auch nicht zu früh will Grün-Schwarz jetzt bis 2030 in allen Stadt- und Landkreisen Präventionsnetzwerke gegen Kinderarmut etabliert sehen. Und die Bundesregierung hat sich verpflichtet, Familien stärken und Kinder aus der Armut holen zu wollen. "Dafür führen wir eine Kindergrundsicherung ein", heißt es im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP. Im Kapitel "Digitaler Staat und digitale Verwaltung" wird die automatische Auszahlung dieser Hilfen sogar zur Priorität erklärt. Dazu soll es laut Bundesregierung kommen.

Eine "höchste Priorität" für das Thema Kinderarmut, wie sie eine breite Allianz aus 22 zivilgesellschaftlichen Organisationen, Verbänden und Gewerkschaften fordert, wird es jedoch nicht geben. Trotz einer eben erst präsentierten Studie samt eindrucksvollen Gegenrechnungen, die das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) im Auftrag der Diakonie erstellt hat. Danach verursachen direkte und indirekte Folgen von Übergewicht (Adipositas), bedingt durch Kinderarmut und falsche Ernährung, eine jährliche Kostenbelastung für die Gesellschaft von über 60 Milliarden Euro. Die ursprünglich von Ministerin Paus verlangten zwölf Milliarden wären also volkswirtschaftlich bestens angelegt. Trotzdem könnte es dazu kommen, dass nicht einmal zwei Milliarden für den wahrlich guten Zweck zur Verfügung stehen. "Es wäre ein Fehler, die Ausgaben für die Kindergrundsicherung auf zwei Milliarden Euro zu drücken, wie es derzeit im Bundeshaushalt vorgesehen ist", so DIW-Präsident Marcel Fratzscher. Denn: "Die besten Investitionen, die ein Staat machen kann, ist in seine Menschen."

Eine Wortmeldung grotesker als die andere

Speziell die FDP will davon nichts wissen und wird von interessierten Kreisen bereitwilligst unterstützt. "Die logische Voraussetzung einer neuen Leistung ist, dass wir überhaupt eine prosperierende Wirtschaft haben", holt Bundesfinanzminister Christian Linder ein Rezept aus der neoliberalen Mottenkiste. Wäre die Bundesrepublik der starke Staat der Achtziger und läge der Spitzensteuersatz heute wie damals in der Ära Kohl/Genscher bei satten 56 Prozent, böten sich ganz andere Möglichkeiten für dringend nötige Sozialreformen. So aber werden sich auch künftig Zehntausende Grundschulkinder vor dem Geburtstagsfest von Schulfreund:innen drücken, weil sich ihre Eltern beziehungsweise sehr häufig die alleinerziehende Mutter kein Geschenk leisten können. Für viele sind Ausflüge, Ferien, Kinobesuche oder das eigene Tablet tabu. Der Spruch, dass nur Reiche sich den mutwillig immer weiter verschlankten Staat leisten können, ist längst Realität in der Republik.

Dennoch wird mächtig gekeilt gegen Paus und ihren Umgang mit Lindners 6,5 Milliarden-Euro-Wachstumschancengesetz – konkret ein Entlastungspaket der Wirtschaft mit 50 steuerpolitischen Maßnahmen und einer neuen Klimaprämie. Sogar von einem Veto war die Rede, sollte nicht Geld in die Kindergrundsicherung fließen. Der Wirtschaftsweise Lars Feld lässt sich zitieren mit dem Satz, Paus' Nein sei ein Skandal und "in gewisser Weise eine Wahlwerbung für die AfD". Hingegen als wichtiger Schritt in die richtige Richtung gepriesen wird das "Gesetz zur Stärkung von Wachstumschancen, Investitionen und Innovation sowie Steuervereinfachung und Steuerfairness", wie es offiziell heißt.

Auch die heimischen Arbeitgeber:innen wollen sich da nicht lumpen lassen. Die "Unternehmer Baden-Württemberg (UBW)" verlangen von der Ampelkoalition, Lindners Gesetz als "einen wichtigen Baustein zur Stärkung der Wirtschaft schnellstmöglich auf den Weg zu bringen". An die drei Parteien der Bundesregierung wird appelliert, sich nicht weiter gegenseitig zu blockieren, auf dass die Bevölkerung wieder mehr Vertrauen in die Lösungskompetenz der politischen Verantwortlichen bekomme. Kein Wort zur Armut, zu abgehängten Familien, kein Wort vor allem dazu, dass gerade die Wirtschaft ein originäres Interesse haben müsste, dass Reformen schnellstmöglich auf den Weg gebracht werden müssten. Geht es doch mit darum, dass mittelfristig nicht zuletzt im Interesse der Volkswirtschaft Ausbildungsplätze in großer Zahl besetzt werden können mit willigen und fähigen Jugendlichen. Vor drei Wochen jedenfalls waren in Baden-Württemberg noch 35.000 von 75.000 angebotenen Lehrstellen frei, ein Umstand, der bekanntlich auch auf Probleme wie mangelhafte Qualifikation und Motivation zurückgeht.

Besonders boshaft von Lindner und all den Paus-Basher:innen ist, dass sie jetzt so tun, als sei der Abgehängtheit von Kindern auf andere Weise besser abzuhelfen. Der FDP-Bundesvorsitzende fabuliert, dass die Gründe in der Arbeitslosigkeit der Eltern lägen. Deshalb seien "Sprachförderung und Integration der Eltern in den Arbeitsmarkt entscheidend, um die Chancen der Kinder zu verbessern" – ganz als wären nur Zugewanderte arm. Umverteilung von Geld stoße laut Lindner "irgendwann bei der Armutsbekämpfung an Grenzen". Ein Hammersatz angesichts der Tatsache, dass laut Forbes die fünf reichsten Privatpersonen und Familien in Deutschland mehr Geld besäßen als die sogenannte untere, weil wenig bis nichts besitzende Hälfte der Bevölkerung.

Argumente und die liberale Welt

Aber Argumente zählen wenig in der liberalen Welt. Er wundere sich, bekennt FDP-Bundestagsfraktionschef Christian Dürr in der "Bild am Sonntag", wie "teilweise der Eindruck erweckt wird, dass mehr Geld vom Staat und weniger Arbeitsanreize für Eltern einen Beitrag zu Wachstum und Wohlstand leisten würden". Der FDP-Aufrührer Frank Schäffler bringt sogar eine Verknüpfung mit dem Heizungsgesetz ins Spiel. Und die Kommunen greifen zur Allzweckwaffe Bürokratie, die angeblich nicht ab-, sondern ausgebaut werde durch die geplante Bündelung von Leistungen.

Für moderierende Ordnung könnten jene Grüne sorgen, die in den Ländern mitregieren, die nicht nur hinter den Kulissen ohnehin unzufrieden sind mit der Performance ihrer Parteifreund:innen in der Bundesregierung. Allen voran Winfried Kretschmann höchstpersönlich. Der hat allerdings zu Wochenbeginn Wichtigeres zu tun, lässt sich gemeinsam mit seinem Stellvertreter Thomas Strobl (CDU) auf der Schwäbischen Alb demonstrieren, wie Höhlenrettung funktioniert – samt Bootsfahrt und Medienbegleitung, versteht sich. "Nein, dazu äußern wir uns nicht", lässt er eine Sprecherin mitteilen. Da passt ins Bild, dass die Koalition ihre Gelder für die Armutsbekämpfung im Land gerade mal um eine Million Euro aufgestockt hat. Unter anderem soll mit 350.000 Euro im Jahr der Tatsache entgegengewirkt werden, dass sich einer von zehn Menschen in Baden-Württemberg, wie es heißt, aus finanziellen Gründen keine tägliche Mahlzeit mit gesunden und hochwertigen Lebensmitteln leisten kann.

Eine einzige, in einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts schon 1968 angedachte Entscheidung könnte die Debatte auf allen politischen und gesellschaftlichen Ebenen vom Kopf auf die Füße stellen. Die Große Koalition ist zwischen 2019 und 2022 gescheitert bei der Umsetzung ihres Plans, das Kindeswohl ins Grundgesetz aufzunehmen, weil keine Einigung zustande kam, ob "angemessen" oder "vorrangig" das passende Adjektiv ist. Die Ampel hat das Versprechen erneuert: "Kinder haben eigene Rechte, die wir im Grundgesetz verankern werden." Würde dies wirklich geschehen, bekäme Teilhabe einen ganz neuen Stellenwert. Und der Kampf gegen Armut endlich ebenfalls.


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1 Kommentar verfügbar

  • Bodo Sinn
    am 25.08.2023
    Antworten
    Wer vor 20 Jahren nicht in die junge Generation investiert hat, jammert heute eben über Fachkräftemangel. Wer heute nicht in die junge Generation investiert, jammert eben in 20 Jahren über Fachkräftemangel. Schon erstaunlich, was für Jammerer diejenigen, die sich für die geistige und wirtschaftliche…
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