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Aktionswoche "Armut bedroht alle"

Armutszeugnis

Aktionswoche "Armut bedroht alle": Armutszeugnis
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Es geht um etwa ein Fünftel der Bevölkerung, um RentnerInnen, Kinder und Jugendliche, Alleinerziehende. Sie kommen finanziell mehr schlecht als recht durch ihr Leben und sind oft sozial ausgegrenzt. Eine landesweite Aktionswoche im Südwesten macht darauf aufmerksam, doch das Interesse ist dürftig.

Der DGB Baden-Württemberg und die Tafeln, die Landesarmutskonferenz (LAK), die Caritas, die Diakonie oder das Rote Kreuz haben sich zusammengetan. Seit Jahren wird ab Mitte Oktober mit Informationen und Veranstaltungen im Rahmen der landesweiten Aktionswoche "Armut bedroht alle" versucht, das Bewusstsein nicht einschlafen zu lassen für eine bittere Erkenntnis: Dass nämlich Armut dort am stärksten trifft, wo es den Menschen wie im Südwesten vergleichsweise gut geht. Dort sind die Mieten und die Lebenshaltungskosten hoch und die Unterschiede zwischen Arm und Reich besonders zu spüren. 2015 stand das Thema Krankheit im Mittelpunkt, 2017 unter anderem die Armutsgefährdung bei den Flüchtlingen, 2021 die Auswirkungen der Pandemie.

Ein Thesenpapier beschreibt die Realität: "Menschen in prekären Lebenslagen sind von den Auswirkungen der Pandemie nicht nur gesundheitlich, sondern auch sozial und wirtschaftlich besonders hart betroffen. Die Zugänge zu Infrastruktur, zu Bildung und Kultur, zu Grundversorgung und medizinischer Basisversorgung sind ihnen ohnehin massiv erschwert. Jetzt in der Krise verlieren sozial benachteiligte und ausgegrenzte Menschen den Anschluss häufig völlig." Die Initiative von Menschen in Armutslagen aufrecht zu erhalten, gelinge aus vielen Gründen immer weniger. Es fehle an Kommunikation, Räumen, an Begegnung und Austausch. Dies führe zum Verlust von Vertrauen in die eigene Zukunft und in die Verlässlichkeit der unmittelbaren Umgebung, die Folgen seien zusätzliche Existenzängste und Befürchtungen.

Wie in jedem Jahr wollten die Verantwortlichen diese und andere Erkenntnisse der Öffentlichkeit präsentieren. Dazu das Programm der Aktionswoche mit den zentralen Veranstaltungen in Stuttgart, mit dem "Tag der Basis" in der Vesperkirche St. Leonhard, dem "Sozialen Ratschlag" unter der Paulinenbrücke oder dem Gespräch mit VertreterInnen aller Landtagsfraktionen. Themen dort sind unter anderem die von Grün-Schwarz versprochene Enquête-Kommission "Krisenfeste Gesellschaft" oder der Ausbau der politischen (Schul-)Bildung.

Arm in einer reichen Region

Die Gleichgültigkeit diesen und anderen Fragen gegenüber in zu vielen Redaktionen zeigt sich bei einer Pressekonferenz zu "Armut bedroht alle". Die findet vor nahezu leeren Stuhlreihen statt und bleibt infolgedessen in der politischen Berichterstattung fast ohne Widerhall. Zu den vielen Belegen, wie abgehängt viele Betroffene sind, kommt ein weiterer, gravierender hinzu. Nach den Erhebungen des Statistischen Landesamts (Stala) aus dem Jahr 2019 waren knapp 16 Prozent der Menschen im Land vom weiteren Abstieg bedroht, inzwischen gehen die Verantwortlichen der Liga der freien Wohlfahrtspflege von rund 20 Prozent aus. Und die Stala-Fachleute machen am Beispiel Stuttgarts und des Umlands darauf aufmerksam, wieviel Spielraum unterschiedliche Vergleichsgrundlagen eröffnen. Denn werden die Durchschnittseinkommen begrenzt auf die Region verglichen, ist das Problem ein großes. Jedoch: "Im Landesdurchschnitt gelten viele Personen noch nicht als armutsgefährdet, die es aber sind."

Fortgeschrieben werden einschlägige Statistiken seit Langem. Unstrittig ist, wie das Risiko immer weiter steigt und die Gegensteuerung halbherzig versandet. Die EU hat 2010 die Bekämpfung der Armut zu einem zentralen Ziel erklärt. Ein Jahr später versprach die neue grün-rote Landesregierung, insbesondere Kinderarmut zu verhindern. Die damalige Sozialministerin Katrin Altpeter (SPD) musste hart verhandeln mit dem grünen Koalitionspartner, um eine regelmäßige Armuts- und Reichtumsberichterstattung durch die Regierung durchzusetzen. Als sich die SPD 2016 aus der Regierung verabschieden musste, trat das Thema von der Bühne landespolitischer Prioritäten ab. Dazu passte die lahme Ankündigung von Grün-Schwarz, sie werde "diskutieren, welche Maßnahmen am besten zur Armutsbekämpfung geeignet" seien.

Die Verantwortlichen der diesjährigen Aktionswoche wollen die Landesregierung an ihren Taten messen. Auch Baden-Württemberg hat im Bundesrat der Erhöhung des Hartz-IV-Regelsatzes um drei Euro zugestimmt, kritisiert Roland Saurer, der Sprecher der Landesarmutskonferenz: "Diese drei Euro sind aber ein Skandal, und müssten angesichts der Inflation und der Milliarden im System der Wirtschaftsförderung allen die Schamröte ins Gesicht treiben". 20 Prozent der Bevölkerung würden "alimentiert durch Tafeln, Kleiderbörsen und Mitleidspolitik".

Immerhin positiv bewerten LAK und Liga, dass gerade die Grünen ArmutsexpertInnen in die geplante Enquêtekommission eingeladen haben. Dabei soll es gerade auch um die Lehren gehen, die aus Corona zu ziehen sind. An konkreten Beispielen mitten aus dem Leben ohne Laptop und Wlan, um dem Schulunterricht folgen zu können, ohne die Möglichkeit, regelmäßig notwendige PCR-Tests selber zu zahlen. Oder dazu, was es bedeutet, wenn Gemeinschaftseinrichtung geschlossen bleiben oder die Lebenshaltungskosten immer höher steigen. Wer hin- statt wegschaut, kann ohnehin vor jeder der rund 150 Tafeln im Land tagtäglich die langen Schlangen sehen, die keineswegs nur dem Abstandsgebot bei der Ausgabe geschuldet sind, sondern der blanken Not in vielen Haushalten.

Caritas lobt Berliner Sondierungspapier

Entscheidende Weichen könnte die künftige Bundesregierung stellen. Im Sondierungspapier hat sogar die FDP zugestimmt, "neue Wege zu gehen, so dass alle auch konkrete Chancen auf Teilhabe und berufliche Perspektiven haben und Lebensleistung anerkannt wird". Und: "Wir stehen für einen verlässlichen und aktivierenden Sozialstaat, der die Bürgerinnen und Bürger in den Stationen ihres Lebens unterstützt, Teilhabe ermöglicht, vor Armut schützt und Lebensrisiken absichert." Und dann folgt ein Absatz, auf den die Betroffenen seit Jahren warten: "Anstelle der bisherigen Grundsicherung (Hartz IV) werden wir ein Bürgergeld einführen. Das Bürgergeld soll die Würde des und der Einzelnen achten, zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigen sowie digital und unkompliziert zugänglich sein. Es soll Hilfen zur Rückkehr in den Arbeitsmarkt in den Mittelpunkt stellen."

Auf der Pressekonferenz im Stuttgarter Landtag, die sich in der aktuellen Berichterstattung niederschlug, fand Heiner Heinzmann vom Caritasverband der Diözese Rottenburg Stuttgart zumindest wohlwollende Worte für die Berliner VerhandlerInnen. Denn die hätten ausweislich des Sondierungspapiers "die Herausforderungen der Zeit erkannt und die Transformationsprozesse sozial gerecht gestalten wollen". Und einen Tag später legte sogar der nicht unbedingt als Umverteiler profilierte Winfried Kretschmann nach. Der Grüne nannte von großer Bedeutung, wie Kindersicherung und Bürgergeld bereits verankert seien. Jetzt muss dem Papier nur noch Leben eingehaucht werden. Und wieder einmal keimen Hoffnungen, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich im reichen Deutschland doch wieder ein wenig schließen könnte.
 

Zum Programm der Aktionswoche "Armut bedroht alle" (noch bis zum 22. Oktober) geht's hier.


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3 Kommentare verfügbar

  • R.Gunst
    am 21.10.2021
    Antworten
    `Wieder einmal keimen Hoffnungen, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich im reichen Deutschland doch wieder ein wenig schließen könnte´, ist wirklich ein rührend romantischer Wunsch. Wie das aber funktionieren soll, erzählt auch das viel gepriesene Strategiepapier der Politik nicht. Das liest…
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