Auch die Gerichtsverfahren dauern immer länger. Bei Klagen zu den Sozial- oder Verwaltungsgerichten muss heute mit einer Verfahrensdauer von mindestens ein bis zwei Jahren gerechnet werden. Ebenso bei den Finanzgerichten, wo es ums Kindergeld geht. Zum Vergleich: In vermögensrechtlichen Streitigkeiten vor den Zivilgerichten wird in aller Regel innerhalb von wenigen Wochen oder Monaten verhandelt und dann auch alsbald entschieden.
Die Instrumente der Beratungshilfe oder auch der Prozesskostenhilfe (PKH) vor Gericht, die angeblich bedürftigen Bürgern zu ihren Rechten verhelfen sollen, sind inzwischen ihrerseits mit immer komplizierteren Antragsverfahren verbunden. Die Folge davon ist, dass auch engagierte AnwältInnen eher einen Bogen darum machen. Wobei sich die Gerichte oberndrein auch immer mehr Zeit bei der Entscheidung etwa über die Bewilligung von PKH lassen.
Rechtswirrwarr überfordert sogar JuristInnen
Bei den beteiligten Behörden fällt zudem auf, dass dort statt engagierten SozialarbeiterInnen immer mehr so genannte Fall- oder, noch subtiler, "Case Manager" die Szene prägen. Sie arbeiten, auch angesichts der Fülle der Anträge und der Kompliziertheit der Ansprüche, ihre "Fälle" routinemäßig "nach Aktenlage" ab. Hinzu kommt, dass die Entscheidungen immer häufiger nach den finanziellen Gesichtspunkten der beteiligten Wirtschaftsabteilungen und ihrer Budgets gefällt werden, und nicht nach persönlichem und menschlichem Bedarf. Mein subjektiver Eindruck ist auch, dass bei den entscheidenden Personen, sowohl in den zuständigen Behörden wie auch bei den Gerichten, die soziale Distanz, um nicht zu sagen die Gleichgültigkeit gegenüber den Problemen der betroffenen Menschen zunimmt. Parallel zu einer allgemeinen Resignation gegenüber den Ungerechtigkeiten dieser Gesellschaft.
Insgesamt wird durch die Kompliziertheit der Verfahren der Zugang zu Sozialleistungen nachhaltig erschwert. Die Anspruchsinhaber werden abgeschreckt. Viele Menschen können oder wollen ihre entsprechenden Ansprüche nicht mehr wahrnehmen. Das sicher einkalkulierte Ergebnis ist auch eine erhebliche Kürzung der Leistungen der Gesamthöhe nach.
In den 1950er- und 1960er-Jahren vertraten etwa das Bundesverwaltungsgericht und auch das Bundesverfassungsgericht in Grundsatzurteilen die Auffassung, dass nach den Grundsätzen eines Sozialstaats und unter Berücksichtigung des zentralen Werts der Würde des Menschen nach Art. 1 GG der einzelne Mensch und Bürger nicht zum bloßen Objekt staatlichen Handelns und Gewährens werden dürfe. Er müsse vielmehr als aktives Subjekt seine Ansprüche wahrnehmen und rechtlich durchsetzen können. Die Praxis des deutschen Sozialstaats kapitalistischer Grundordnung entwickelt sich heute in die andere Richtung: Menschen erhalten auf dem Papier immer mehr verschiedene Ansprüche gegen Dutzende von verschiedenen Sozialleistungsträgern. Aufgrund der Kompliziertheit der sich teilweise überschneidenden Ansprüche, der Anträge und der Verfahren werden sie aber genau zum Objekt des staatlichen Handelns, und im Ergebnis werden ihre Rechte beschnitten.
Andererseits sind immer mehr Menschen auf ergänzende "Transfer"-Leistungen über den Sozialstaat angewiesen. Dies alles führt dazu, dass sich die Menschen für einen immer größeren Teil ihrer Lebenszeit mit der Beantragung, dem Sammeln von Nachweisen und mit der Überprüfung von Sozialleistungen in den entsprechenden Verfahren beschäftigen müssen, um für sich einzeln das scheinbar noch Beste herauszuholen. Hier sehe ich eine auffallende Parallele zur heutigen Dauerbeschäftigung von Menschen mit scheinbar vorteilhaften, aber meist sinnlosen Konsum- und Eventschnäppchen des kapitalistischen Markts.
Beides hält davon ab, sich mit einer notwendigen Veränderung des Systems insgesamt zu beschäftigen, und führt zu einer immer stärkeren Vereinzelung der Menschen. Das Ergebnis ist auch der Verlust einer Identifizierung mit dem Gemeinwohl und dem Gemeinwesen überhaupt.
Probleme nicht der AfD überlassen
Diese gefährliche Entwicklung und die entsprechenden Probleme darf man keinesfalls Kräften wie der AfD überlassen, die gerade auch die Frustrationen darüber aufgreifen. Die Linke darf sich nicht nur um die Verbesserung von Sozialleistungen der Höhe nach kümmern. Sie muss eine radikale Vereinfachung des Sozialleistungssystems und ebenso eine Vereinfachung und Verkürzung der Verfahren fordern.
Für Leistungen außerhalb der überkommenen Sozialversicherungssysteme darf nur eine, am besten eine kommunale Stelle zuständig sein, die auch "niederschwellige" persönliche Ansprechpartnerin ist. An ihr müssen Vertretungspersonen sozialer Organisationen und der freien Träger beteiligt sein. Solange die in Frage kommenden Leistungen noch aus verschiedenen Töpfen finanziert werden, muss es Aufgabe dieser Ansprechstelle sein, die Zuständigkeit zu klären. Andererseits muss sie den Hilfeberechtigung gegenüber auch allein für die notwendige Gesamtleistung zuständig und verantwortlich bleiben.
Auch die Rechtsmittelverfahren müssen vereinfacht werden, einschließlich der Klagverfahren, wobei nur ein Gericht – das Sozialgericht – einheitlich zuständig sein darf, wenn nötig, mit Spezialkammern für allgemeine Sozialleistungen. Auch diese müssen personell aufgestockt werden.
Es muss verhindert werden, dass mit der wachsenden Zahl von Menschen, die auf Sozialleistungen angewiesen sind, eine immer größere Zahl von Menschen nicht nur den Glauben an den Sozialstaat Deutschland verlieren, sondern überhaupt die Identifikation mit einem demokratischen, sozialen und solidarischen Gemeinwesen.
Jörg Lang, Jahrgang 1940, war als junger Rechtsanwalt in Stuttgart zusammen mit anderen Anwälten, darunter Klaus Croissant, Verteidiger der ersten Generation der RAF. Nachdem ihm selbst ein Prozess wegen "Unterstützung einer kriminellen Vereinigung" gemacht wurde, setzte er sich aus Deutschland ab und lebte von 1974 bis 1982 im Libanon. Nach seiner Rückkehr in die Bundesrepublik wurde er 1986 wieder als Anwalt zugelassen. Seit Jahren bearbeitet er im Wesentlichen sozialrechtliche Mandate.
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Ruby Tuesday
am 21.08.2018