Herr Werneke, sind Sie als Sozialdemokrat zufrieden mit dem Koalitionsvertrag?
Ich beurteile das als Verdi-Vorsitzender. Meine Erstbewertung ist: gemischte Bilanz. Es gibt eine Reihe positiver Vorhaben auf dem gesellschaftspolitischen Feld: Streichung von "Rasse" aus dem Grundgesetz, Verankerung von Kinderrechten, Demokratiestärkungsgesetz im Kampf gegen rechts, Abschaffung von Paragraf 219a, verbessertes zeitgemäßes Einwanderungsrecht. Da wird der Reformstau von anderthalb Jahrzehnten auf dem gesellschaftspolitischen Feld jetzt angegangen. Eine gemischte Bilanz allerdings bei weiteren Themen, die uns als Gewerkschaft besonders am Herzen liegen.
Wo haben sich SPD und Grüne, auch im Sinne von Verdi, durchgesetzt und wo die FDP?
SPD und Grüne haben Punkte gemacht zum Beispiel mit der geplanten Schaffung eines Tariftreuegesetzes des Bundes. Das ist eine alte Forderung von uns. Da kommt es jetzt sehr darauf an, inwieweit das auch für Körperschaften des Bundes gelten wird, wie der Bundesanstalt für Arbeit oder der Deutschen Rentenversicherung Bund. Schlecht ist, dass im Vertrag nichts zur Stärkung der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen geplant ist, das war vermutlich mit der FDP nicht durchsetzbar. Gut ist, dass jetzt eine Nachwirkung von Tarifverträgen bei Betriebsübergängen geplant ist. Das kennen wir besonders aus dem Medienbereich oder dem Handel, wo Unternehmen ohne Sinn und Verstand in viele Gesellschaften aufgespalten werden, um so den Tarifvertrag abzuschütteln. Hoffentlich wird dem jetzt ein Riegel vorgeschoben. Insgesamt gilt: Auch im Kapitel Tarifschutz zeigt der Koalitionsvertrag eine gemischte Bilanz.
Bei der Rente soll es beim Niveau von 48 Prozent bleiben. Das ist nicht gerade visionär ...
Das Rentenkapitel im Koalitionsvertrag bewerte ich insgesamt positiv, insbesondere angesichts dessen, von wo wir herkommen. Noch vor wenigen Jahren waren alle Parteien außer der Linkspartei auf dem Trip, das Rentenniveau verschlechtern zu wollen. Die entsprechenden gesetzlichen Grundlagen dafür wurden geschaffen, mit der Konsequenz, dass das Rentenniveau Stück für Stück absinkt, wenn es keinen politischen Kurswechsel gibt. Gleichzeitig gab und gibt es einen massiven Druck aus der Wirtschaft und von einschlägigen wirtschaftsnahen WirtschaftswissenschaftlerInnen, das Renteneintrittsalter mit der statistischen Lebenserwartung zu verknüpfen. Warum sind wir gegen diese Koppelung? Weil sich die Lebenserwartung von Menschen sehr unterschiedlich entwickelt, nämlich abhängig von der Einkommenssituation und der Arbeitsbelastung. Der Unterschied in der Lebenserwartung zwischen der Gruppe mit den höchsten und der Gruppe mit den niedrigsten Einkommen beträgt immerhin fünf Jahre. Angesichts dieser Rahmenbedingungen ist die Fortführung der 48 Prozent und ein klares Nein zur Erhöhung des Renteneintrittsalters ein Erfolg.
Die Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro begrüßt Verdi sicherlich …
Das ist das, was wir gefordert haben. Die Erhöhung auf 12 Euro betrifft 8,5 Millionen Menschen positiv, darunter sehr viele Frauen und sehr viele Beschäftigte in Ostdeutschland. Also – eine absolut positive Regelung im Ampel-Vertrag. Dennoch sind wir noch nicht durch: Ich bin mir ganz sicher, im Gesetzgebungsverfahren wird es alle möglichen Branchen geben, die Übergangs- und vielleicht sogar Ausnahmeregelungen haben wollen, gerade im Bereich Zeitung, Zeitungszustellung. Der gesamte Zustell- und Logistikbereich ist dafür hochgradig verdächtig. Wir werden als Verdi daher wachsam sein.
Apropos Zeitungen: Der Koalitionsvertrag sieht eine Unterstützung von alternativen Medien vor. Das freut Kontext. Ist das auch für Verdi okay?
Wir hatten gefordert, dass das möglich wird. Da geht es um die steuerliche Absetzbarkeit von Zuwendungen. Das ist ein kleiner, aber nicht unwichtiger Baustein, um alternative Medien wirtschaftlich zu stabilisieren.
Finden Sie im Koalitionsvertrag auch Bausteine zur Umverteilung?
Das steuerpolitische Kapitel gehört zu den absolut enttäuschenden Teilen des Koalitionsvertrages. Wir haben mit der Ampelkoalition aller Voraussicht nach vier Jahre eines steuerpolitischen Stillstands vor uns. Damit wird die krass ungerechte Verteilung von Vermögen nicht angegangen, weder über die Vermögenssteuer noch über eine gerechtere Erbschaftssteuer.
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