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Hermann Bausinger

Der Tarzan-Versteher

Hermann Bausinger: Der Tarzan-Versteher
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Der schönste Satz zum Abschied: "Bausinger – tot? Das sieht ihm gar nicht ähnlich." Er stand im "Schwäbischen Tagblatt" und hätte ihm gefallen. 95 Jahre alt wurde die Legende der empirischen Kulturwissenschaft. Auch Kontext hat ihn sehr geschätzt, weil er so vieles konnte. Sogar Tarzan verstehen.

Die letzte Post von Hermann Bausinger kam vor einem Vierteljahr. Er war gestürzt, bettlägerig und hellwach. Er habe einen Text für Kontext verfasst, schrieb der damals 94-Jährige, als "Antirost-Training" gegen einen gebrochenen Lendenwirbel. Bis 90 soll er noch Tennis gespielt haben. Es ging ihm ums Impfen, genauer gesagt um die bildhafte Propaganda für diesen Vorgang, die ihm dubios erschien. Überall dicke Oberarme mit Spritze auf den Fotos, und falls auch noch mimische Reaktionen der Betroffenen eingefangen worden waren, reichten sie von betonter Lässigkeit bis zu Anflügen von Stolz. Das war natürlich Humbug, was der sorgsam formulierende Emeritus so nie ausdrücken würde. Er gab nur zu bedenken, dass ein Zahnarzt nicht mit dem Bohrer, ein Metzger nicht mit Exekutionen im Schlachthof kommen würde, wenn er für seine Hände Arbeit werben wollte.

Nun war das Sujet eine strittige Sache, für die der milde Spott Bausingers womöglich nicht das richtige Stilmittel war. Dachte der Adressat der Post, der das Schwert bisweilen dem Florett vorzog, und fragte nach, ob er eine "Wegweisung" für unsere Leserinnen und Leser ins Auge fassen könne? Ob er fürs Impfen sei oder dagegen oder unentschieden? Ziemlich anmaßend bei einer Geistesgröße, die am Neckar in einem Atemzug mit Walter Jens und Hans Küng gelistet wurde. Doch der gebürtige Ostälbler, der dem Nahraum verbundener war als dem Weltethos, blieb cool. Er fühle sich an seine Schulaufsätze erinnert, antwortete Bausinger, bei denen der Deutschlehrer ein klares Bekenntnis verlangte, "quasi als Moral von der Geschicht‘". Das vergnügte Grinsen in den Augenwinkeln konnte man sich denken.

Aber er fügte einen letzten Absatz an. Mit optischen und sonstigen Reklametricks werde man die "Ignoranten und die Impfgegner" kaum verführen, ließ er wissen, es werde nichts anderes übrig bleiben, als "mit ernsthaften Argumenten für eine Wendung zu kämpfen".

Das Waagscheißerle bringt alles ins Lot

Um den Satz hat er wahrscheinlich gerungen, weil er selbst von seiner Sinnhaftigkeit "nur bedingt" überzeugt war, wie er bekannte. Ernsthafte Argumente von Spahn & Co.? Wer weiß, vielleicht hat er sich beim Verfassen des Textes auch an Gerhard Stadelmaier erinnert, den ehemaligen Großwesir des deutschen Feuilletons, der ihn ein "Waagscheißerles-Genie" genannt hat. Bausinger-Schüler Wolfgang Alber hat den Begriff dahingehend gedeutet, dass es seinem Lehrmeister stets gelungen sei, auf der "dialektischen Argumentationsschaukel noch jedes Ungleichgewicht" ins Lot zu bringen.

Kontext-Autor Alber, einst Redakteur beim "Schwäbischen Tagblatt", als es noch im Verdacht stand, die "Neckar-Prawda" zu sein, kann das beurteilen. Er vermag das opulente Oeuvre Bausingers auswendig herzusagen, hat mit ihm selbst Bücher gemacht, gerne über die Schwäbische Alb, und weiß um die Grundposition von "Mendel", der den Hermann nicht mochte, weil das so kriegerisch klang. Der Sinn von Wissenschaft, so zitiert er den Meister, sei nicht etwa, Unsicherheiten in scheinbare Eindeutigkeiten aufzulösen, sondern Widersprüche und Schwierigkeiten auszuleuchten.

Da sind ihm, der laut Tagblatt Anekdoten in Analysen und Theorien verwandelt, wunderbare Dinge gelungen. Hinsichtlich der organisierten Narretei etwa, die als Fastnachtslabor fast schon ein Forschungsschwerpunkt seines Instituts war. Warum werden Politikerinnen und Politiker zu Teilzeitnarren, haben wir ihn schon vor fünf Jahren gefragt, und eine fundierte Einschätzung bekommen: Winfried Kretschmann ist als langjähriger Riedlinger Froschkuttelesser glaubwürdig, Guido Wolf höchstens aus dem Grund, dass Fastnachtsveranstaltungen einen "nicht allzu hohen Humorquotienten" aufweisen, und er deshalb als "unheimlich humorvoller Mensch" durchgeht, und weil der Südwestrundfunk wochenlang über Maskenumzüge berichtet, mit deren Übertragung (Sonja Schrecklein) und als "Vielfalt verkauften Monotonie" erstaunliche Quoten einfährt. Genaueres steht hier.

Bausinger war ein Universalgelehrter und Vordenker, sagte Kretschmann in seiner Würdigung des Verstorbenen. Sein Tod schmerze ihn. Vor diesem Hintergrund muss natürlich auch gesagt werden, dass es ihm gelungen ist, die "Volkskunde" von der NS-Ideologie der unverdorbenen Volkskultur zu befreien, dass er in die Gesellschaft hineinwirkte als unermüdlicher Schreiber und Redner, dass er die Kolportage, der Schwabe sei ein Revoluzzer weil Schiller einer war, als Geschichtsklitterung entlarvte, und dass er dem Bürgerprotest gegen Stuttgart 21 bereits 2012 "respektable Ziele" bescheinigte: mehr Freiheit, mehr Selbstbestimmung, mehr ökonomischer und politischer Einfluss.

Eine schützende Hand über die 68er

Aber danach darf man auch erwähnen, dass wir bei dem grenzenlos Neugierigen viel über den Adventskranz, die Fußgängerzone, die Maultasche, die Kehrwoche (darüber hat Kontext-Redakteurin Anna Hunger gearbeitet), über Datingshows im Fernsehen und Schundhefte erfahren haben. Tarzan zum Beispiel. Mit diesem Comic, symbolisch für das scheinbar Triviale, hat sich der junge Professor in den Siebziger Jahren bereitwillig von Manfred Grohe fotografieren lassen – und seitdem trägt er auch den Titel "Tarzan-Professor". Wer sich so behende an der Liane durch den akademischen Dschungel schwingt, ist auch von 68ern nicht zu erschrecken. Es heißt, er habe seine schützende Hand über sie gehalten, wie etwa über Bernd Jürgen Warneken, der nach eigener Aussage einen Job am Bausinger-Institut gekriegt hat, nachdem er sich über Flipper-Spielautomaten qualifiziert hat, dessen Ursprung er 1974 im "Zentrum des lumpenproletarischen Elends" des Chicagos der 30er-Jahre entdeckt hatte. Warneken wurde tatsächlich Professor.

Aber kommen wir zurück in die Gegenwart. Im Deutschlandfunk wird der Kulturwissenschaftler Moritz Ege gefragt, was ihn an Bausinger "so richtig begeistert" habe? Die schönen dicken Oberarme in Kontext, jener eher linken Wochenzeitung in Stuttgart, antwortet der Ordinarius von der Uni Zürich wie aus der Pistole geschossen. Er hat schon über Diskotheken als moralische Anstalt geforscht und über die Frage, ob der deutsche Mann heute einfach nichts mehr zu sagen hat? Die Impf-Geschichte sei ein Bausinger, wie er ihn kenne, lacht Ege. Voller Witz und mit feiner Ironie bei seinen kleinteiligen Alltagsbeobachtungen, ein Energiebündel, aber auch bedacht und unaufgeregt.

Der ganz große politische Aufschlag sei Bausingers Sache nicht gewesen, sagt der Kollege. Ein sanfter Revolutionär mit gemäßigtem Tonfall. Aber es hätte immer Freude gemacht, ihn zu lesen.


Der Autor und Adressat der Impfpost saß viele Jahre mit Bausinger im Kuratorium der Reportageschule Reutlingen.

Geschrieben hat Hermann Bausinger bis zuletzt. Und so gibt es posthum ein Buch, das den schönen Titel trägt: "Vom Erzählen. Poesie des Alltags". Ein kleines Beispiel: Treffen sich zwei Männer am Gartenzaun. "Mein Gott wie das heute regnet", sagt der eine. "Kein Wunder bei dem Wetter", antwortet der andere. Lektoriert hat es Wolfgang Alber, erscheinen wird es im Februar 2022 im Stuttgarter Hirzel-Verlag.


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