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Emeritus Feuerkopf

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Hermann Bausinger wird gerne als "Nestor" der Landeskunde bezeichnet. Aber der Tübinger Professor ist mehr: ein weiser Emeritus und jung gebliebener Feuerkopf. Auch mit demnächst 90 Jahren.

Er schreibe, sagt der Emeritus, "statt großen Büchern eher kleine Aufsätze". Letzteres stimmt – und, um es mit Bausinger'scher Dialektik zu sagen: Es stimmt wiederum nicht. Er hat Hunderte von Fachbeiträgen verfasst, über Fasnacht, Märchen bis zur listig-modernen Identitätserkundung "Wann ist deutsch?". Daneben aber hat er im Tübinger Verlag Klöpfer & Meyer Bücher veröffentlicht, die so typische Titel tragen wie "Der herbe Charme des Landes", "Berühmte und Obskure", "Fremde Nähe" oder "Seelsorger und Leibsorger". Viele davon in Frankreich, Italien, den USA oder Skandinavien rezipiert, vielfach übersetzt, sogar ins Japanische und Chinesische.

Seine Analysen und Skizzen und nicht zuletzt die Fülle der Vorträge, die er landauf, landab hält, bestechen durch Prägnanz und Eleganz. Bausinger verführt zum Denken, popularisiert eine fröhliche Wissenschaft, vermittelt mit leichter Hand schwierige Sachverhalte und tritt auch schon mal als Kabarettist auf. Eine Professur, hat er in der ihm eigenen Bescheidenheit erklärt, sei keine Fahrkarte zur Selbstentfaltung, sondern eine Dienstleistungsaufgabe.

Bausinger machte Kulturwissenschaft empirisch

Am 17. September 1926 in Aalen auf der Ostalb geboren, studierte Bausinger Germanistik, Anglistik, Geschichte, Volkskunde, promovierte 1952 über "Lebendiges Erzählen". Ans "Ludwig-Uhland-Institut der Universität Tübingen für Deutsche Altertumswissenschaft, Volkskunde und Mundartenforschung", wie es damals hieß, kam er eher zufällig über die Germanistik. Seine Habilitationsschrift "Volkskultur in der technischen Welt" sorgte 1959 für Furore. Schon die Einleitung, in der er, Brecht zitierend, auf Distanz zum tümelnden Begriff "Volk" und damit zur NS-kontaminierten Volkskunde ging, war ein Affront. Bausinger öffnete den engen Horizont des Faches, in dem das Volk und seine Kultur als organisch gewachsene Einheit verklärt wurden, für eine sozialwissenschaftliche Sicht auf die Kultur und Lebensweise der "kleinen Leute" in der modernen Industriegesellschaft. Unter seiner Ägide vollzog sich am Ludwig-Uhland-Institut, dessen Direktor er 1960 wurde und bis 1992 blieb, der "Abschied vom Volksleben", so der programmatische Titel eines Sammelbands von 1970. Fortan hieß das Fach "Empirische Kulturwissenschaft".

Der liberale Bausinger hielt in der Zeit der Studentenbewegung seine schützende Hand selbst über marxistische Heißsporne, die das Fach soziologisieren wollten. Zugleich steuerte er die Diskussion im Haspelturm des Tübinger Schlosses entschlossen in eine Richtung, die der "EKW", so die gängige Abkürzung, unverwechselbares Profil gab: Sie analysiert Phänomene der Alltagskultur in aktueller und historischer Perspektive, erforscht, wie Menschen arbeiten, ihr Leben organisieren, miteinander verkehren, mit ihrem natürlichen und kulturellen Erbe umgehen.

So kam es am Ludwig-Uhland-Institut, von Studierenden liebevoll "LUI" genannt, zum Paradigmen- und Perspektivenwechsel: von der Tracht zur Mode, von der Hausforschung zum Wohnumfeld, von Märchen zu Massenmedien, von Heimatvertriebenen zu Arbeitsmigranten, von der Region zur Globalisierung – unter kritischer Einbeziehung des alten Kanons, mit neuem interdisziplinärem Ansatz.

Bausinger hat als charmanter und umgänglicher Mentor Generationen von Studierenden angeregt und beeinflusst, hat sie gelehrt, die Welt neugierig und ohne Kulturpessimismus zu sehen. Er hat den Brüder-Grimm-Preis, Ludwig-Uhland-Preis, Justinus-Kerner-Preis und soeben den Europäischen Märchenpreis erhalten, doch Ehrungen begegnete er stets mit einer gewissen Nonchalance. Wichtiger ist ihm die Freiheit, die er sich nach dem Abschied vom akademischen Alltag erworben hat. Er sitzt fast täglich in seinem "Ausgedinge" in der Tübinger Biesingerstraße, forscht und schreibt mit bewundernswerter Disziplin über eine verblüffende Themenvielfalt: Mundart, Jugendliteratur, Heimat, Arbeit und Freizeit, Folklorismus, Tourismus, Sport ... – die Aufzählung lässt sich beinahe beliebig fortsetzen. Er tut's für die "Stuttgarter Zeitung", die "Zeit" und für Kontext, wo er sich zuletzt über den rebellischen Schwaben gebeugt hat, der im Zusammenhang mit Stuttgart 21 zum "Schwaben 21 plus" geworden ist.

"Waagscheißerles-Genie"

Zum 85. Geburtstag gab es auch noch den belletristischen Autor zu entdecken; ein hinreißender Geschichtenerzähler war er schon immer. Als Geschenk überbrachte ihm sein Hausverlag ein Bändchen mit dem hübschen Titel "Wie ich Günther Jauch schaffte" , gefüllt mit ums Fernsehen kreisenden Erzählungen. Da spricht empirische Zuschauerfahrung aus Bausinger, aber die Texte sind von televisionärer Hintergründigkeit, Daily Soap mischt sich mit Hebel'scher Aufklärung. "Die heilige Dreizahl" etwa handelt von einem Volkskunde-Professor, der beim Dorfabend den alten Brauch einer Pferdeprozession erläutert, die ungewöhnlicherweise dreimal durch die Felder führt. Die Zahl ist banal dem Fernsehen geschuldet: Wegen schlechter Witterung und technischer Probleme mussten drei Aufnahmen des Ritts gedreht werden – doch daran erinnerte sich später niemand mehr.

Diese Geschichte ist ein schönes Beispiel für Hermann Bausingers lockere Fantasie und stupende Ironie. Der Großkritiker Gerhard Stadelmaier hat ihn 1982 ein "Waagscheißerles-Genie" genannt, das auf der dialektischen Argumentationsschaukel noch jede Bewegung ins Lot bringe. Um Bausinger selbst zu zitieren: "Genau das ist der Sinn von Wissenschaft – nicht etwa Unsicherheiten aufzulösen in scheinbare Eindeutigkeiten, sondern Widersprüche und Schwierigkeiten auszuleuchten."

Hermann Bausinger wird gern als "Nestor" der Landeskunde bezeichnet. In der griechischen Mythologie gilt Nestor als kluger Ratgeber, in der Wissenschaft als "Altmeister". Der demnächst 90-Jährige ist mehr: weiser Emeritus und jung gebliebener Feuerkopf.


Info:

Zum 90. Geburtstag erscheint bei Klöpfer & Meyer ein neues Buch von Hermann Bausinger. Es trägt den Titel "Eine Schwäbische Literaturgeschichte" und ist ein Streifzug durch das schriftstellerische Leben im Land. Wie gewohnt mit Erkenntnisgewinn und Vergnügen zu lesen. Der Text von Wolfgang Alber ist eine aktualisierte Version eines Artikels, der zuerst im "Literaturblatt für Baden-Württemberg" erschienen ist. Der Verlag feiert den Geburtstag mit der <link http: www.kloepfer-meyer.de external-link-new-window>Buchpremiere am Samstag, 17. September, um 17 Uhr, in der Reutlinger Stadtbibliothek.


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