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Hitze in Stuttgart

Das wird brutal

Hitze in Stuttgart: Das wird brutal
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Der Klimawandel ist längst kein Zukunftsszenario mehr: Stuttgart hat das Zwei-Grad-Ziel schon verfehlt. Statt eines Plans gegen die Hitze kann die Stadtverwaltung nur eine Infobroschüre vorweisen, die empfiehlt, an heißen Tagen genug zu trinken.

Seitdem die US-amerikanische University of Maine im Jahr 1979 begonnen hat, die globalen Durchschnittstemperaturen zu ermitteln, gab es keinen Tag, der heißer war als Dienstag, der 4. Juli 2023. Die "Washington Post" zitiert Wissenschaftler:innen, die überzeugt sind, dass die ersten 14 Tage des Monats die heißeste Phase in der Menschheitsgeschichte waren und man für entsprechende Temperaturen um die 125.000 Jahre zurückblicken müsse.

Die seit Jahrzehnten prognostizierten Folgen der Erderhitzung treten gegenwärtig mit voller Wucht ein. Selbst Expert:innen sind überrascht vom Ausmaß der Extreme. "Vielen Wissenschaftlern rund um die Erde steht wahrscheinlich gerade der Mund offen", zitierte die FAZ bereits im März 2022 den Polarforscher Markus Rex. Vergleichbare Temperaturanomalien hätten er und seine Kolleg:innen zu diesem Zeitpunkt noch nie beobachtet. So habe die russische Station Wostok in jenem Monat einen Temperaturrekord von -17,7 Grad Celsius gemessen. Durchschnittlich liege die Höchsttemperatur für einen März in Wostok bei -53 Grad, der bisherige Extremwert bei -33. "Das sind etwa fünfzehn Grad mehr", betonte Rex mit Blick auf die Messergebnisse. "Unfassbar! Wenn wir in Deutschland von einem neuen Temperaturrekord sprechen, geht es meistens um 0,1 oder 0,2 Grad."

Nach Einschätzung des Forschers "wissen wir nicht, ob wir noch in einem stabilen Zustand sind" oder ob in der Westarktis bereits ein sogenannter Kipppunkt überschritten wurde. Sollte das auf zu viele dieser kritischen Grenzwerte zutreffen, droht kein linearer Anstieg der globalen Temperaturen mehr, sondern ein verheerender Prozess von Kettenreaktionen, Rückkopplungen und sprunghafter Zunahmen extremer Wetterphänomene.

Vor dem Hintergrund der empirisch feststellbaren Realität appellierte der französische Umweltminister Christophe Béchu inzwischen mehrfach "mit dem Leugnen aufzuhören". Damit meint er nicht den Teil der kontrafaktischen Bewegung, der in Abrede stellt, dass es überhaupt einen menschengemachten Klimawandel gibt. Béchu adressiert an all jene, die annehmen, in Europa könne die Erderhitzung auf nur 1,5 oder zwei Grad begrenzt werden. Der Minister rechnet mit mindestens drei Grad auf globaler Ebene und vier Grand in Frankreich. Was "kein pessimistisches Szenario" sei, wie der Klimatologe Vivian Dépoues ausführt. Die "Frankfurter Rundschau" zitiert seinen Berufskollegen Christophe Cassou, der für das europäische Festland eine Erwärmung von 5,6 Grad bis 2100 für möglich hält, wenn Kipppunkte überschritten werden und Beschleunigungseffekte einsetzen.

Der Sommer 2003 war kein Jahrhundertereignis

Hierzulande ist vergleichbare Offenheit selten. Dabei leiden insbesondere die großen Städten unter einer Zunahme der extremen Temperaturen. Im wärmer gewordenen Baden-Württemberg fühlen sich inzwischen nicht nur Gottesanbeterin und Tigermücke wohl. Für die Landeshauptstadt Stuttgart ergibt eine Auswertung der Daten des Deutschen Wetterdienstes für die Messstation Schnarrenberg ein drastisches Bild: Seit 1958 hier mit dem Erheben von Temperaturen begonnen wurde, hat es neun von zehn der heißesten Tage nach dem Jahr 2002 gegeben. Für den Betrachtungszeitraum 1960 bis 1980 gab es durchschnittlich fünf Tage pro Jahr, an denen Temperaturen von mehr als 30 Grad erreicht wurden. Zwischen 2000 bis 2020 hat sich dieser Wert auf 15 verdreifacht. Im Jahr 2022, das nach heutigen Verhältnissen noch als Ausreißer gilt, waren es sogar 30 dieser heißen Tage, die als Gefahr für die Gesundheit gelten.

Das Zwei-Grad-Ziel hat Stuttgart bereits verfehlt: Ermittelt man das Mittel der Durchschnittstemperaturen über einen Zeitraum von zehn Jahren ist zwischen 1972 und 2022 ein Anstieg von 2,27 Grad festzustellen. Wohlgemerkt: binnen 50 Jahren und nicht gegenüber dem Vergleichswert von 1850, den der Weltklimarat ansetzt. Das Jahr 2022 war das heißeste in der Stadtgeschichte. Und während die Station Schnarrenberg – 315,7 Meter über dem Meer und am Neckar gelegen – auf einen Jahresdurchschnitt von 12,3 Grad kommt, ist es in der dicht bebauten Innenstadt noch wärmer gewesen mit 13,6 Grad.

"Der weiter fortschreitende Klimawandel wird in der Zukunft das Klima in Stuttgart in einer Art und Weise verändern, wie man sich dies nicht vorstellen kann", schreibt Jürgen Baumüller, Meteorologe und Professor am Institut für Landschaftsplanung und Ökologie der Universität Stuttgart, in einer Auswertung vom Januar dieses Jahres. Baumüller leitete von 1978 bis 2008 die Abteilung für Stadtklimatologie im Stuttgarter Rathaus. "Als im Jahr 2003 eine längere Hitzewelle Europa und Deutschland heimsuchte, sprach man noch von einem Jahrhundertereignis", stellt er fest. Doch schon "die nachfolgenden Jahre bis heute haben gezeigt, dass dies nicht der Fall ist".

Die Bauwut in Stuttgart ist ungebremst

Neben einer deutlichen Zunahme der extremen Hitze und sogenannter tropischer Nächte, in denen die Temperaturen nicht unter 20 Grad sinken, hat Baumüller eine weitere erschreckende Beobachtung gemacht: einen auffälligen Rückgang der Windgeschwindigkeit seit circa 2000. "Eine Folge des Klimawandels oder der zunehmend höheren Bebauung im Talkessel?", fragt Baumüller. Windstille in der Stadt sorgt dabei nicht nur für weniger Luftaustausch und führt damit zu mehr Schadstoffen, da die sich besser anreichern können. Ein Mangel an Wind trägt auch dazu bei, dass sich Hitze anstauen kann, und eine Stadt, die wie Stuttgart in einem Talkessel liegt, ist dafür ohnehin besonders anfällig.

Generell ist eine zu dichte Bebauung Gift fürs lokale Klima. Um die Bedeutung von Frischluftschneisen wusste schon ein Gutachten, das im 1901 erschienenen Buch "Die Stuttgarter Stadterweiterung" dokumentiert ist: "Ohne diese Zufuhr frischer kühler Luft (...) wäre es in Stuttgart im Hochsommer ganz unerträglich heiß", ist dort nachzulesen. Doch wie so oft unterlagen die wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Klima den alles dominierenden Gesetzen der Ökonomie. Luftschneisen wurden nicht nur in der Vergangenheit bebaut. Dies ist auch in Zukunft geplant. Etwa mit dem Rosenstein-Quartier, wo das heutige Gleisvorfeld des Stuttgarter Hauptbahnhofs zu einem urbanen Stadtteil werden soll. Das Stuttgarter Umweltamt informiert dazu: "Vom meteorologischen Standpunkt unterscheiden sich die baulich nicht genutzten Gleisanlagen trotz Vegetationsmangels und fehlender natürlicher Oberfläche in positiver Weise von den im Sinne des Wortes versiegelten Baugebieten, Plätzen und Verkehrsflächen: Das Schotterbett der Gleisanlagen lässt die Versickerung von Niederschlägen zu, sodass sich entsprechende Verdunstungsbeiträge ergeben. Das Gelände ist auch vergleichsweise hindernisarm und bietet deshalb der Windströmung nur geringen Widerstand."

Doch dass das Areal dem Klima und der Frischluft zuliebe unbebaut bliebe, muss in einer Gemarkung, die weniger Stadt denn Baustelle ist, als illusorisch und naiv gelten. So ließ es sich der grüne Stuttgarter Baubürgermeister Peter Pätzold nicht nehmen, bei seiner Wiederwahl im vergangenen Juni hervorzuheben, dass der "Rahmenplan Rosenstein für seine klimaangepasste und resiliente Qualität" mit dem Deutschen Städtebaupreis 2023 ausgezeichnet wurde und beseitigte alle Zweifel an seiner Entschlossenheit, aus "einer der letzten großen Entwicklungsflächen in der Stadt" ein ökologisch vorbildliches Quartier machen zu wollen.

Vor dem Landtag gibt es noch Grün

Indessen hebt Baumüller hervor, dass trockene Sommer mit einer defizitären Wasserbilanz zur neuen Normalität würden, wobei mehr Flüssigkeit verdunste als es Niederschlag gebe. "Somit werden auch tiefer wurzelnde Pflanzen einem Trockenstress unterworfen." Lakonisch merkt der Klimatologe an: "Dass bei diesem Sachverhalt die Waldbrandgefahr ansteigen wird, dürfte ebenfalls klar sein." Bereits 2014 hatte Baumüller prognostiziert, dass es grüne Parks in den Stuttgarter Hochsommern ab 2020 "nur durch künstliche Bewässerung geben" werde. Und in der Tat: Saftige Farbtöne sind während Hitzewellen in der Landeshauptstadt selten geworden. Aber es gibt sie noch: zum Beispiel vor dem Landtag, wo prächtiger Rasen dank Sprinkleranlagen ein Stück intakte Umwelt vorgaukelt.

Per Pressemitteilung bat die Stadtverwaltung vor wenigen Wochen, "bei anhaltender Trockenheit kein Wasser aus Bächen zu entnehmen". Niedrige Pegelstände seien dort in den vergangenen Jahren vermehrt vorgekommen, hieß es dabei. Die Worte "Klimawandel" oder "Erderwärmung" sind in dem Text nicht zu finden. Dafür "appelliert die Wasserbehörde an die Verantwortung jedes Einzelnen, Wasserentnahmen an den Bächen in Niedrigwassersituationen zu unterlassen".

Bis 2035 will Stuttgart klimaneutral werden, gegenüber 1990 sind die Treibhausgasemissionen bereits um mehr als 40 Prozent reduziert. Das ist so schlecht nicht, auch im internationalen Vergleich. Und dennoch kommt es zu spät, um gravierende Folgen abzuwenden. Die Anpassung läuft schleppend. Die Stadt will mehr Bäume pflanzen, Brunnen bauen, Fassaden begrünen und hat ihr Gießkonzept überarbeitet. Einen Aktionsplan gegen die Hitze, wie ihn beispielsweise Mannheim hat, kann die Landeshauptstadt nicht vorweisen. Allerdings werde gerade an einem gearbeitet, teilt die Verwaltung mit. Solange an dem Werk getüftelt wird, müssen sich Betroffene mit einer Broschüre begnügen: Unter dem Motto "Kühl bleiben im Kessel" hat das städtische Gesundheitsamt Tipps gegen die Hitze gesammelt (in den Worten der Verwaltung: "Bereits heute werden vulnerable Gruppen mit Hilfe von Informationsmaterialien über Hitzeschutzmaßnahmen informiert"). Auf dem Titelblatt grinst uns eine Sonne mit Sonnenbrille entgegen, die Folgeseiten trumpfen mit Ratschlägen auf wie: "Achten Sie darauf, ausreichend Flüssigkeit zu sich zu nehmen", oder auch: "Wer unterwegs ist, kann z.B. an einem Brunnen die Unterarme unter einen kalten Wasserstrahl halten."


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