Nachrichten aus einem Heilbronner Hinterhof. Warum, fragt Matthias Neumann, sind vorne am Eingang immer Obst und Gemüse? Das ist bei Lidl so, bei Edeka, Rewe und Aldi. "Weil das Frische suggeriert", sagt er, "für alles, was danach in den Regalen kommt." Er hat 25 Jahre in einem Supermarkt geschafft, ist heute Sozialwissenschaftler und Mitglied im "Netzwerk Care Revolution", das sich, grob gesprochen, um eine solidarische Lebensweise bemüht.
Besonders beliebt sind Radieschen, weil sie so schön rot und billig zu haben sind. "Der Bauer bekommt 16 Cent für das Bund", erzählt Jan-Felix Thon, "Lidl & Co. kassieren 80 Cent." Thon ist Vorstandsmitglied in der Genossenschaft KoLa, die, großzügig geschätzt, ein Prozent der Leipziger Bevölkerung mit Biogemüse versorgt. Er möchte die vier Handelsriesen, die rund drei Viertel des deutschen Lebensmittelmarktes beherrschen, enteignen.
An dieser Stelle spricht Tobias ("Tobi") Rosswog lieber von vergesellschaften. Der 35-Jährige ist einer der bekannten Köpfe der "Let's socialize"-Bewegung, die sich einer radikalen Wende bei Klima, Energie, Mobilität, Care-Arbeit und Landwirtschaft verschrieben hat. Dafür ist er seit Jahren unterwegs als Aktivist, Dozent und Buchautor, für eine Gesellschaft jenseits von Arbeit, Eigentum und Geld. Bündnispartner findet er bei der Linken, der Rosa-Luxemburg-Stiftung, bei attac, Oxfam und Brot für die Welt, womit die Bandbreite der Aktivist:innen im Heilbronner Hinterhof umschrieben ist.
Vor Lidl ging's um den Porsche-Tunnel zur Villa
Rosswog kommt aus Niedersachsen, geboren in Goslar, aufgewachsen in Hannover. Das mag ein Grund sein, warum ihm die Kampagne "Verkehrswende" bei VW in Wolfsburg besonders gefallen hat. Gegen das Plakat "Baut mehr Straßenbahnen", hochgezogen am Hauptlieferanteneingang, hat der Konzern geklagt und einen Streitwert von 350.000 Euro aufgerufen. Rosswog hat einen Vergleich abgelehnt und eine Anleihe bei Rapper Danger Dan getätigt: "Zeig mich an und ich öffne einen Sekt, das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt." Er lacht, wenn er von Wolfgang Porsche erzählt, der ihn vor den Kadi zerren wollte, weil er die Zuffenhausener Nazi-Geschichte satirisch aufbereitet hatte – und einen Tag vor der Verhandlung in Stuttgart die Klage zurückzog.
Nicht zu vergessen das besondere Vergnügen im Streit um Porsches unterirdischen Zugang zu seiner Villa in Salzburg, den er ihm (vorläufig) vermasselt hat. Seit dem Spott über die "Salzburger Porsche-Tunnel Festspiele" im April liegt der Antrag auf eine Privatröhre auf Eis. Da passt auch noch seine Fahrradtour durch 14 Städte dazu, auf der er vor einem Jahr für die italienische Arbeiterklasse Spenden gesammelt hat. Es handelt sich dabei um die Schrauber des "Collettivo di Fabbrica" bei Florenz, die ihre Fabrik besetzt haben und Fahrräder statt Antriebswellen für Fiat herstellen wollen. Das ist alles unendlich schwierig, aber der Anstrengung wert, weil die Männer und Frauen aus Campi Bisenzio den Traum von einer besseren Welt "verdammt nochmal realistischer" werden lassen, schrieb Kontext damals anlässlich Rosswogs Besuch in Stuttgart.
Unter den Über-Reichen ist Schwarz Spitzenreiter
Und jetzt also Dieter Schwarz und Lidl. Die Kampagne heißt "unserlidl" und nimmt dort ihren Anfang, wo der reichste Deutsche zu Hause ist. In Heilbronn. Das ambulante Hauptquartier der Campagneros befindet sich im selbstverwalteten Sozialzentrum Käthe, das sich zu linker Politik und kollektivem Wohnen bekennt und seine Schönheit nur im Hinterhof entfaltet. Dort sitzen die eingangs erwähnten Personen auf Klappstühlen auf der grünen Wiese und gehen vor rund 70 auch jüngeren Menschen der Frage nach: "Lidl lohnt sich, aber für wen eigentlich?"
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