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Präferenzwahl

Für eine Demokratie der Zukunft

Präferenzwahl: Für eine Demokratie der Zukunft
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Nach der OB-Wahl in Stuttgart bleibt eine Mehrheit frustriert zurück, denn sie hat Frank Nopper nicht gewollt. Statt nach Sündenböcken zu suchen, rät unsere Autorin, das eigentliche Problem in den Blick zu nehmen: die Strukturen der Demokratie selbst.

Wann hatten Sie das letzte Mal Freude an der Demokratie? Schwere Frage, vielleicht besser eine leichtere: Wann waren Sie zum letzten Mal so richtig frustriert über die Demokratie? Die Landeshaupstadt Stuttgart hat dazu eine ganz frische Erfahrung im Angebot: die letzte Oberbürgermeisterwahl. Nur alle acht Jahre haben wir BürgerInnen das Recht, ein Stadtoberhaupt zu wählen, das den Ton und die Themen unserer Debatten setzen soll.

Und doch konnte niemand etwas tun, als sich der Wahlakt vor unseren ungläubigen Augen scheinbar in eine Farce verwandelte und in einem Schlussakt eskalierte, den eine Mehrheit der Beteiligten so nie gewollt hat. Seitdem: betroffene Stille, Resignation, innere Abkehr. Wer war schuld? Schreier, Rockenbauch oder doch Kienzle? Kaum jemand spricht über den wahren Bösewicht. Verantwortlich für das bitterböse Gegeneinander weitab vom Inhalt und die große Frustration der demokratischen Akteure waren: die Strukturen der Demokratie selbst.

Sarah Händel ist Geschäftsführerin von Mehr Demokratie e. V. Baden-Württemberg. Im Mai 2019 sprach sie bei der Kundgebung "Ein Europa für alle – Deine Stimme gegen Nationalismus". (red)

Doch weil wir in der Regel zu sehr damit beschäftigt sind, uns am politischen Gegner abzuarbeiten und uns auf Twitter & Co. digital ins Ohr zu schreien, reden wir nur selten über Strukturen. Wir neigen dazu, die Funktionsregeln der Demokratie als gottgegeben zu betrachten und nicht als etwas Menschengemachtes. Dabei gibt es eine Vielfalt an kreativen Verfahren und unzählige Stellschrauben, um es besser zu machen. Die OB-Wahl in Stuttgart zum Beispiel hätte ganz einfach ganz anders ablaufen können. Mit einem anderen Wahlsystem hätten alle per Durchnummerieren der KandidatInnen auf dem Wahlzettel geordnet ihre Präferenzen angeben können. So würde der Auszählmodus automatisch die Konsens-KandidatIn ermitteln und gleichzeitig messen, wo die meiste Zustimmung und wo der geringste Widerstand ist. KandidatInnen aus einem Lager, definiert durch ähnliche inhaltliche Positionen, machen sich nicht mehr gegenseitig die Stimmen streitig, wenn jemand – rein hypothetisch – eine Erstpräferenz Kienzle, eine Zweitpräferenz Rockenbauch und eine Drittpräferenz Schreier angeben kann, aber Nopper völlig aus dem Spiel ließe. Das Ganze gilt für jedes andere Lager in derselben Situation natürlich genauso. Der generelle Effekt einer solchen Präferenzwahl ist, dass sich alle Stimmen aus einem Lager am Ende bei der KandidatIn anhäufen, die den größten Rückhalt in der Bevölkerung hat und die wenigsten frustrierten Wähler zurücklässt.

Das ist aber nur ein Beispiel für Fortgeschrittene, zum Einstieg könnte man auch nur mit einer Ersatzstimme arbeiten. Ihre Lieblings-KandidatIn hat nicht die Mehrheit der Stimmen bekommen? Dann zählt eben Ihre Ersatzstimme. Das kann man übrigens auch bei der Landtagswahl so machen. Sie wollen gerne die Linke wählen oder die ÖDP, haben aber Angst, dass sie die Fünf-Pozent-Hürde nicht schafft? Ist das am Ende der Fall, zählt eben Ihre Ersatzstimme, aber Sie haben immer das Privileg, ohne Angst die KandidatIn oder die Partei zu wählen, die Ihnen inhaltlich am nächsten steht.

Hinter dem Schleier des Nichtwissens

Wenn wir hinter dem aus der Philosophie bekannten Schleier des Nichtwissens sitzen würden und die Chance hätten, uns ganz neu zu fragen: Wie soll unsere Demokratie organisiert werden? Nach welchen Regeln soll sie ablaufen?, dann würden wir uns zunächst über wünschenswerte Ziele verständigen. In den Sinn kommen: möglichst genaue Repräsentation des Wählerwillens, differenziertes Erheben des Wählerwillens, ein vielfältiges Angebot der Auswahl, Chancen zur Korrektur bei Fehlentwicklungen, Anreize für aktive und breite Teilhabe am System, Perspektivenvielfalt und Transparenz bei der Lösungsentwicklung. Und dann würden wir debattieren, welche Verfahren diese Ziele am besten erreichen.

Die Realität funktioniert so ziemlich nach dem Gegenteil: Machtpolitische Überlegungen spielen die größte Rolle, und Debatten zu den Strukturen der Demokratie werden selten ergebnisoffen und noch weniger werteorientiert geführt. Zudem scheint Veränderung immer nur in Minimalschritten möglich. So aber geraten wir unbestreibar immer mehr in schiefes Fahrwasser. Die Funktionsweise unserer Demokratie kann den sich verschärfenden Herausforderungen nicht mehr standhalten. Wir müssen uns in die simpel klingende Einsicht fügen: Verfahren beeinflussen Ergebnisse nicht nur personeller, sondern auch inhaltlicher Art. Große systemische Probleme wie den Kampf gegen den Klimawandel, aber auch die soziale Ungleichheit und ungezügelte liberalisierte Märkte können wir nur wirkungsvoll angehen, wenn wir die Strukturen der Demokratie dynamischer, vielfältiger und offener gestalten. Aber wie schaffen wir das?

Um diese so essenziellen Fragen dem Raum der Machtpolitik zu entziehen, bieten sich Bürgerräte an. Von guter Moderation angeleitet und von Experten-Input aller Richtungen begleitet, diskutieren dort zufällig ausgewählte (und deswegen repräsentative) BürgerInnen ergebnisoffen und gemeinwohlorieniert. Dort könnten innovative Vorschläge erarbeitet werden, doch das ist nur der erste Schritt. Auf dieser Grundlage muss es eine breite und intensive öffentliche Debatte geben. Und dann eine Volksabstimmung. Eine gemeinsame Entscheidung aller über unsere neue demokratische Verfasstheit.

Das beeindruckende Beispiel Irland

So ein Vorgehen ist übrigens nicht nur ein Gedankenexperiment. Irland hat es schon zweimal genauso gemacht, um eine neue Regelung zu Schwangerschaftsabbrüchen und die gleichgeschlechtliche Ehe zu erreichen. Zwei heiße Themen in einem erzkatholischen Land, vor denen die Abgeordneten selbst zurückgeschreckt sind. Also hat ein Bürgerrat Regelungen entworfen, die dann in Volksabstimmungen mit großen Mehrheiten angenommen wurden. Auch aufgrund dieses Vorbilds hat 2019 der erste bundesweite zivilgesellschaftlich organisierte "Bürgerrat Demokratie" mit großer Mehrheit empfohlen, direkte Demokratie mit fairen Hürden bundesweit einzuführen in Kombination mit Verfahren der Bürgerbeteiligung.

In diesem geschützem Raum, nach intensiver Diskussion von Pro und Contra, entschieden sich die Menschen also, unter vielem anderen, für von unten anstoßbare Volksabstimmungen. In der Gesellschaft hingegen steigt die Angst vor direkten Abstimmungen. Wie passen sie zusammen mit dem Erstarken rechter Demagogen, Fake News, Social Media voller Bubbles und ressourcenstarken Lobbyisten? Wie oben am Beispiel der Wahl dargestellt, hängen die Ergebnisse von Volksentscheiden maßgeblich davon ab, wie wir das direktdemokratische Verfahren selbst konzipieren: Gibt es eine Pflicht zur Spendenoffenlegung? Wie kommen wir zu guten, neutralen Abstimmungsbroschüren? Können Alternativvorschläge mit zur Abstimmung gestellt werden? Wird der Kompromiss im dreistufigen Verfahren gestärkt durch enge Verzahnung mit dem Parlament? Sind begleitende Maßnahmen von Medien und Presse für konstruktiven Dialog und sachliche Information in der Gesellschaft mitgedacht?

Sind Volksentscheide klug gestaltet, haben sie großes Potenzial –
1. um die gesellschaftliche Debatte zu dynamisieren: Per Volksbegehren können viel weitergehende Ideen eingebracht werden, als sie im parlamentarischen Prozess in der Regel entstehen. Gerade zu beobachten an den vielen von BürgerInnen angestoßenen Klima- und Radentscheiden in den Kommunen.
2. um die gesellschaftliche Debatte zu strukturieren und zu fokussieren: Ein Thema nach dem anderen kann so kollektiv bearbeitet werden.
3. um einen starken Anreiz für politisches Engagement zu setzen: Viele Bürgerinnen und Bürger wollen nicht mehr allgemein, sehr wohl aber für konkrete Themen aktiv werden.
4. um die BürgerInnen wieder positiv mit ihrer Demokratie zu verbinden. Und genau das stellt den besten Schutz gegen die Agenda und Taktiken der rechten Demagogen dar!

Direkte Demokratie als Mittel gegen rechts?

Ja, die Umkehr dieses Zusammenhangs wird viele verwundern, denn die Debatte dazu ist bestimmt von wenigen negativen Einzelbeispielen (Minarettverbot, Ausschaffungsinitiative, Brexit). Doch über die viel größere Anzahl an progressiven Initiativen spricht kaum jemand. Allein eine Kurzauswertung der Schweiz für 2018 zeigt: Von 43 Inititativen sind nur neun eindeutig oder wahrscheinlich rechtspopulistisch, zwei davon wurden abgestimmt und mit jeweils Zweidrittel-Mehrheit abgelehnt – so viel zum Thema "Wir sind das Volk". Demgegenüber stehen 26 Initiativen, die sich mit progressiven Themen befassen, und acht, die nicht klar einzuordnen, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht rechtspopulistisch sind.

Und ja, auch die progressiven Initiativen werden oft abgelehnt, doch das Wissen zu den Inhalten ist gewachsen und am Ende bleibt folgender beeindruckener Wert: In der Schweiz sind drei Viertel der BürgerInnen zufrieden mit dem Funktionieren ihrer Demokratie, in Deutschland sind es, je nach Studie, zwischen 25 und 50 Prozent. In vielen anderen Demokratien sieht es noch schlimmer aus.

Doch dies ist nicht nur ein Plädoyer, uns von den Rechten nicht die Lust auf direkte Demokratie nehmen zu lassen. Es ist ein Plädoyer dafür, dass wir uns dringend um die Verfasstheit unserer Demokratie kümmern müssen. Was passiert, wenn wir es nicht tun, sehen wir am Beispiel USA, wo Wahlkreise zurechtgeschneidert werden, bis man sie allein aufgrund der Wählerzusammensetzung gewinnt. Wo Wahllokale dezimiert werden, um durch stundenlanges Warten vom Wählen abzuschrecken, wo die finanzielle Ausstattung der Kandidaten in abstrusem Ausmaß darüber bestimmt, wer wählbar ist. Wo es ein Electoral College gibt, das einen Kandidaten zum einflussreichsten Politiker der Welt machen kann, den eine Mehrheit nicht gewählt hat, und wo ein anachronistisches Zwei-Parteien-System dazu beigetragen hat, die Gesellschaft so tief zu spalten, dass konstruktiver Dialog über Werte, über Wahrheiten und über gemeinsame Ziele kaum noch möglich ist.

Die USA zeigen, was passiert, wenn die Strukturen der Demokratie sich gegen die Demokratie selbst wenden. Davon sind wir weit entfernt, doch auch wir haben die gemeinsame und dringliche Verantwortung, unsere Demokratie auf allen Ebenen zukunftstauglich zu machen.


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22 Kommentare verfügbar

  • era
    am 20.12.2020
    Antworten
    Ich würde gerne nochmal auf die Meinungsbildung hinweisen, die die Grundlage von Demokratie ist.
    Speziell hier in der Kontextwochenzeitung: Sie ist gerade deshalb gegründet worden aus der schmerzlichen Erfahrung, dass es ohne "Waffengleichheit" in den Medien kaum möglich ist, einen dem gerade…
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