Doch weil wir in der Regel zu sehr damit beschäftigt sind, uns am politischen Gegner abzuarbeiten und uns auf Twitter & Co. digital ins Ohr zu schreien, reden wir nur selten über Strukturen. Wir neigen dazu, die Funktionsregeln der Demokratie als gottgegeben zu betrachten und nicht als etwas Menschengemachtes. Dabei gibt es eine Vielfalt an kreativen Verfahren und unzählige Stellschrauben, um es besser zu machen. Die OB-Wahl in Stuttgart zum Beispiel hätte ganz einfach ganz anders ablaufen können. Mit einem anderen Wahlsystem hätten alle per Durchnummerieren der KandidatInnen auf dem Wahlzettel geordnet ihre Präferenzen angeben können. So würde der Auszählmodus automatisch die Konsens-KandidatIn ermitteln und gleichzeitig messen, wo die meiste Zustimmung und wo der geringste Widerstand ist. KandidatInnen aus einem Lager, definiert durch ähnliche inhaltliche Positionen, machen sich nicht mehr gegenseitig die Stimmen streitig, wenn jemand – rein hypothetisch – eine Erstpräferenz Kienzle, eine Zweitpräferenz Rockenbauch und eine Drittpräferenz Schreier angeben kann, aber Nopper völlig aus dem Spiel ließe. Das Ganze gilt für jedes andere Lager in derselben Situation natürlich genauso. Der generelle Effekt einer solchen Präferenzwahl ist, dass sich alle Stimmen aus einem Lager am Ende bei der KandidatIn anhäufen, die den größten Rückhalt in der Bevölkerung hat und die wenigsten frustrierten Wähler zurücklässt.
Das ist aber nur ein Beispiel für Fortgeschrittene, zum Einstieg könnte man auch nur mit einer Ersatzstimme arbeiten. Ihre Lieblings-KandidatIn hat nicht die Mehrheit der Stimmen bekommen? Dann zählt eben Ihre Ersatzstimme. Das kann man übrigens auch bei der Landtagswahl so machen. Sie wollen gerne die Linke wählen oder die ÖDP, haben aber Angst, dass sie die Fünf-Pozent-Hürde nicht schafft? Ist das am Ende der Fall, zählt eben Ihre Ersatzstimme, aber Sie haben immer das Privileg, ohne Angst die KandidatIn oder die Partei zu wählen, die Ihnen inhaltlich am nächsten steht.
Hinter dem Schleier des Nichtwissens
Wenn wir hinter dem aus der Philosophie bekannten Schleier des Nichtwissens sitzen würden und die Chance hätten, uns ganz neu zu fragen: Wie soll unsere Demokratie organisiert werden? Nach welchen Regeln soll sie ablaufen?, dann würden wir uns zunächst über wünschenswerte Ziele verständigen. In den Sinn kommen: möglichst genaue Repräsentation des Wählerwillens, differenziertes Erheben des Wählerwillens, ein vielfältiges Angebot der Auswahl, Chancen zur Korrektur bei Fehlentwicklungen, Anreize für aktive und breite Teilhabe am System, Perspektivenvielfalt und Transparenz bei der Lösungsentwicklung. Und dann würden wir debattieren, welche Verfahren diese Ziele am besten erreichen.
Die Realität funktioniert so ziemlich nach dem Gegenteil: Machtpolitische Überlegungen spielen die größte Rolle, und Debatten zu den Strukturen der Demokratie werden selten ergebnisoffen und noch weniger werteorientiert geführt. Zudem scheint Veränderung immer nur in Minimalschritten möglich. So aber geraten wir unbestreibar immer mehr in schiefes Fahrwasser. Die Funktionsweise unserer Demokratie kann den sich verschärfenden Herausforderungen nicht mehr standhalten. Wir müssen uns in die simpel klingende Einsicht fügen: Verfahren beeinflussen Ergebnisse nicht nur personeller, sondern auch inhaltlicher Art. Große systemische Probleme wie den Kampf gegen den Klimawandel, aber auch die soziale Ungleichheit und ungezügelte liberalisierte Märkte können wir nur wirkungsvoll angehen, wenn wir die Strukturen der Demokratie dynamischer, vielfältiger und offener gestalten. Aber wie schaffen wir das?
Um diese so essenziellen Fragen dem Raum der Machtpolitik zu entziehen, bieten sich Bürgerräte an. Von guter Moderation angeleitet und von Experten-Input aller Richtungen begleitet, diskutieren dort zufällig ausgewählte (und deswegen repräsentative) BürgerInnen ergebnisoffen und gemeinwohlorieniert. Dort könnten innovative Vorschläge erarbeitet werden, doch das ist nur der erste Schritt. Auf dieser Grundlage muss es eine breite und intensive öffentliche Debatte geben. Und dann eine Volksabstimmung. Eine gemeinsame Entscheidung aller über unsere neue demokratische Verfasstheit.
Das beeindruckende Beispiel Irland
So ein Vorgehen ist übrigens nicht nur ein Gedankenexperiment. Irland hat es schon zweimal genauso gemacht, um eine neue Regelung zu Schwangerschaftsabbrüchen und die gleichgeschlechtliche Ehe zu erreichen. Zwei heiße Themen in einem erzkatholischen Land, vor denen die Abgeordneten selbst zurückgeschreckt sind. Also hat ein Bürgerrat Regelungen entworfen, die dann in Volksabstimmungen mit großen Mehrheiten angenommen wurden. Auch aufgrund dieses Vorbilds hat 2019 der erste bundesweite zivilgesellschaftlich organisierte "Bürgerrat Demokratie" mit großer Mehrheit empfohlen, direkte Demokratie mit fairen Hürden bundesweit einzuführen in Kombination mit Verfahren der Bürgerbeteiligung.
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era
am 20.12.2020Speziell hier in der Kontextwochenzeitung: Sie ist gerade deshalb gegründet worden aus der schmerzlichen Erfahrung, dass es ohne "Waffengleichheit" in den Medien kaum möglich ist, einen dem gerade…