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Öffnet unsere Demokratie!

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Nicht verzagen, Demokratie wagen. Bei allem Frust, besonders nach der Volksabstimmung zu S 21, lohne sich das Engagement. Meint unsere Gastautorin, die grün-rote Fortschritte bei der Bürgerbeteiligung sieht. Zu Weihnachten Erbauliches aus der Politik.

Trunken von der Euphorie eines lange nicht dagewesenen Widerstandes, hatte man sich in die Hoffnung verrannt, ein Land über Nacht umkrempeln zu können, das gerade aus einem sechzigjährigen Winterschlaf erwacht war. Doch dann kam die Abstimmung zu Stuttgart 21. Sie war ein Schlag ins Gesicht all derer, die hofften, dass die Interessen des großen Geldes nicht mehr die Oberhand haben würden. Aber macht es Sinn, nach einer herben Enttäuschung gleich die ganze Demokratie aufzugeben?

Genug des Demokratie-Katers! Es ist Zeit, den Kopf aus dem Sand zu ziehen und noch vorne zu schauen! Tatsächlich ist es doch so: Die Demokratie zu verändern wird einen langen Atem brauchen, Revolutionsträume, die auf einen Schlag eine neue Welt hervorbringen, verändern nicht die Realität, sondern nur das Ansetzen am Hier und Jetzt. 

Wem die Demokratie am Herzen liegt, hat dieser Tage wirklich Grund zur Freude. Unbemerkt und ungefeiert von weiten Teilen der Bevölkerung, sind die lange im Koalitionsvertrag versprochenen Reformen beschlossen und in Kraft. Die Bürger bekommen gleich zwei Mal mehr Rechte: Zum einen werden Bürgerbegehren und Bürgerentscheide erleichtert, durch geringere Unterschriftenzahlen und längere Sammelzeiten. Die Öffnung der Bauleitplanung verschafft Erleichterung an genau dem Punkt, der damals verhindert hat, dass es bei Stuttgart 21 zu einem viel früheren Zeitpunkt eine Stuttgart-weite Abstimmung gab. Jetzt haben die Bürger bis zu drei Monate nach dem Aufstellungsbeschluss Zeit, um mit einem Bürgerbegehren ein Bauprojekt zur Abstimmung zu stellen und festzustellen, ob die Mehrheit das Projekt unterstützt. Das Quorum wird von 25 auf 20 Prozent gesenkt.

Doch nicht nur die direkte Demokratie wird erleichtert. Mit den neu gestalteten Instrumenten Einwohnerantrag und Einwohnerversammlung können die Einwohner durch Unterschriftensammlung jetzt den Gemeinderat dazu bringen, sich mit einem Anliegen zu beschäftigen, das ihnen auf den Nägeln brennt. Und nicht nur die Bürger werden in ihren Rechten gestärkt, auch die kleinen Gemeinderatsfraktionen, bisher fast ohne Möglichkeit, einen Unterschied zu machen, werden bessergestellt. So kann zum Beispiel jetzt eine Fraktion oder ein Sechstel der Gemeinderäte vom Bürgermeister Unterrichtung in einer Angelegenheit einfordern und einen Tagesordnungspunkt ansetzen. 

Ein schöner Fortschritt ist auch die Stärkung der Beteiligungsrechte von Kindern und Jugendlichen, die nun bei ihren Themen angemessen einbezogen werden müssen. Das alles mag als Kleinigkeiten und Firlefanz erscheinen, aber im Ergebnis können diese Veränderungen zu einer Belebung und Politisierung der Kommunalpolitik führen. Und in unseren Kommunen finden im Kleinen genau die gleiche Kämpfe statt wie im Großen: Wollen wir unsere Wasserversorgung privatisieren? Wollen wir unsere Naherholungsgebiete für die x-te Supermarktkette aufgeben? Wollen wir öffentliche Wohnungen an Investoren verkaufen, um für ein paar Jahre mehr Geld in den Kassen zu haben?

Bringt neues Leben in die Politbude Landtag!

Eine ebenso viel versprechende Einladung an die Bevölkerung, Politik im Land aktiv mitzugestalten, ist die im November beschlossene Verfassungsänderung. Tatsächlich ist es eine Aufforderung an die Zivilgesellschaft und das dort massenhaft verfügbare Expertenwissen, endlich neues Leben in die Politbude Landtag zu bringen. Mit nur 38 000 Unterschriften kann eine Bürgerinitiative jetzt den Landtag beauftragen, sich mit einem Anliegen zu beschäftigen. Das heißt, aus der Zivilgesellschaft heraus können Gesetzesinitiativen angestoßen werden, beispielsweise zu Themen, mit denen sich der Landtag sonst nicht so gerne beschäftigt, wie etwa dem Wahlsystem. Und wenn das Parlament den Vorschlag ablehnt, kann der nächsten Schritt gegangen und mit einem Volksbegehren, unterstützt von 780 000 Bürgern, ein landesweiter Volksentscheid beantragt werden.

Alle Baden-Württembergerinnen könnten dann über ein neues Landtags-Wahlsystem abstimmen, mit dem zum Beispiel der bundesweit niedrigste Frauenanteil von gerade mal 19 Prozent Frauen im baden-württembergischen Landtag verbessert werden könnte. Zugleich könnte man dann auch so etwas einfaches, aber ungeheuer Wirkungsvolles wie die Ersatzstimme einführen. Damit würde es allen WählerInnen ermöglicht, ihre präferierte Partei zu wählen. Wenn diese die Fünfprozenthürde nicht schafft, ist ihre Stimme trotzdem nicht verloren, weil für genau diesen Fall eine Zweitpräferenz, sprich eine Ersatzstimme angegeben werden konnte. Zur Erinnerung: Allein 6,7 Millionen Stimmen sind bei der letzten Bundestagswahl einfach unter den Tisch gefallen, weil die entsprechenden Parteien an der Fünfprozenthürde gescheitert sind.

Die Reformen werden aus Baden-Württemberg nicht über Nacht ein anderes Land machen. Aber nun liegt es an uns, sie auszuprobieren, Erfahrungen zu sammeln. Und aus den Erfahrungen, vor allem aus den schlechten, sollten neue Forderungen entstehen. War das Budget bei Stuttgart 21 ungleich verteilt zwischen Gegner und Befürwortern? Dann fordert ein, dass bei Volksabstimmungen Spenden offengelegt werden müssen und es feste Vorgaben für die Budgets bei Volksabstimmungen gibt. Es war unfair, dass die Gegner keine Staatsgelder hatten, um ihren Abstimmungskampf zu finanzieren? Dann fordert ein, dass es eine Refinanzierung für die Bürgerinitiative durch einen festgelegten Betrag pro Stimme beim Volksentscheid gibt. So ist es zum Beispiel schon heute in Hamburg und Schleswig-Holstein geregelt. Das Mediensystem und die Berichterstattung sind parteiisch und ungerecht? Dann lasst uns ein Finanzierungssystem fordern, das eine unabhängige und vielfältige Medienlandschaft befördert. Auch hier können ganz konkrete Vorschläge ähnlich dem öffentlichen Rundfunksystem erarbeitet werden.

Der rechte Geist geht um 

Wir müssen auch wissen: Hinter den Kulissen der Staatsministerien wird bereits überlegt, ob Mitspracherechte nicht dringend wieder eingeschränkt werden müssen. In Zeiten, wo scheinbar immer mehr Menschen "Wir sind das Volk" rufen, so laut, dass es einem kalt den Rücken runterläuft, wird es eng für die Bürgermitsprache. Doch was machen wir, wenn wir unsere Forderung nach mehr Mitsprache deswegen aufgeben? Dahinter stecken gleich zwei Fehlschlüsse: Die Minderheiten, die sich hinter solchen Parolen versammeln, haben sich zwar durch massive Internethetze und exzessive Medienberichterstattung erfolgreich aufgebauscht, aber haben sie sich bisher als mehrheitsfähig erwiesen? Und der zweite Fehlschluss ist: Wir werden diese Stimmen nicht dadurch zum Schweigen bringen, indem wir ihnen (und gleich der ganzen Gesellschaft mit) die Instrumente des demokratischen Ausdrucks verweigern. Ganz im Gegenteil.

Wären diese Minderheiten gezwungen, aus ihrer Hetze konkrete Politikvorschläge zu machen, würde nicht viel übrig bleiben, was auf dem Boden unsere Verfassungen umsetzbar wäre. Und die Anschlussfrage ist doch: Würde eine Mehrheit der Menschen diesen Vorschlägen überhaupt folgen wollen? Klar ist, die politische Initiative kann bei einer offenen Demokratie auch von einer kleinen, angstgetriebenen Gruppe gestartet werden, aber die Entscheidung der Mehrheit hängt immer davon ab, wie ehrlich und faktengebunden wir solche sensiblen Fragen miteinander diskutieren können. 

Und hier schauen wir auf gar keine schlechte Bilanz: Gerade mal 16 Bürgerbegehren gegen Flüchtlingsheime wurden seit 1996 eingereicht, davon hat bis jetzt keines dazu geführt, dass das geplante Flüchtlingsheim nicht gebaut wurde, sechs Verfahren sind noch offen. Bei den beiden neuesten Fällen aus dem Jahr 2015 in Baden-Württemberg, Eisingen und Au im Hexental, haben sich jeweils eindeutige Mehrheiten für den Bau am vorgeschlagenen Ort ausgesprochen. Ist vielleicht ein bisschen mehr Vertrauen in die Empathiefähigkeit der Gesellschaft angebracht?

Unser Motto muss sein: Angriff ist die beste Verteidigung!

Tatsache ist: Natürlich macht sich die Demokratie angreifbarer, wenn wir sie öffnen. Doch wir rüsten sie gleichzeitig besser dafür aus, Konflikte vor Ort aufzufangen, sie weg von emotionalen Behauptungen auf eine faktengestützte Entscheidungsebene zu bringen, immer mit der Chance, aus diesem Konflikt erstarkt herauszugehen. Scheuen wir die Auseinandersetzung, wird der Frust sich potenzieren. Dann bleibt nur noch abzuwarten, wie lange es dauert bis, wie in Frankreich, menschenverachtende Parteien in unsere Parlamente gelangen und dort ganz andere Möglichkeiten haben, unsere Gesellschaften in ihrem Sinne zu gestalten.

Deswegen: Demokratisiert die Demokratie, um sie wieder lebendiger und damit wehrhafter zu machen. Sorgt für ordentliche Informationsfreiheitsgesetze, reformiert das Wahlrecht auf allen Ebenen für mehr Bürgereinfluss, führt Volksentscheide auch auf Bundesebene ein, als Input-Ergänzung und Korrekturinstrument. Sichert dabei dem Bundesverfassungsgericht eine starke Rolle zu, sodass alle Initiativen, die Grund- oder Minderheitenrechte verletzten, unzulässig werden. Seid euch bewusst, dass wir dabei auch ein Risiko eingehen, dass nicht nur "gute Entscheidungen" getroffen werden, aber seht, dass wir dieses Risiko auch im parlamentarischen System haben.

Wer hat denn Hals über Kopf einen Kriegseintritt in Syrien beschlossen? Und wer hat, angetrieben von einer Minderheiten-Pegida-Bewegung, in null Komma nichts das Asylrecht verschärft? Die direkte Demokratie kann solch wichtige Entscheidungen gar nicht mit so unsäglicher Schnelligkeit herbeiführen. Sie braucht immer mehrere Monate Zeit für eine solide gesellschaftliche Diskussion.

Daran sollte eine dringend benötigte moderne Demokratie-Bewegung arbeiten. Dann kann der Einzelne beides: selbst Verantwortung übernehmen und berechtigtes Vertrauen aufbauen, in die Funktionsfähigkeit unserer Demokratie, auch in herausfordernden Zeiten wie diesen.

Sarah Händel ist Geschäftsführerin von "Mehr Demokratie e. V." Baden-Württemberg.


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10 Kommentare verfügbar

  • Stuttgarter
    am 22.01.2016
    Antworten
    @Müller 11:54
    Das Ergebnis aktzeptieren , heißt für Sie sich nicht am Ergebnis, sondern an einer der Beliebigkeit unterordnenden Interpretation
    anzuschließen.
    Wer fragt ob die Sonne am Tag scheint und die Antwort erhält nein. Der sagt danach es wurde beschlossen, dass
    der Mond Nachts scheint,…
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