Matĕj, 16 Jahre alt: "Ein Schild auf die Stirn braucht man sich nicht zu kleben"
Ein Einfamilienhaus mit Garten in Kirchheim. Ich klingele. Es dauert eine Weile, bis Matĕj mir die Tür öffnet und mich lächelnd hineinbittet. Er entschuldigt sich, dass ich warten musste. Eben erst von der Schule gekommen, ist er eigentlich schon wieder auf dem Sprung. Und für morgen hat er eine Karte für das Hip-Hop-Open in Stuttgart. Sein erstes Open-Air-Konzert. Er freut sich riesig darauf.
In seinem Zimmer steht sein Schlagzeug. "Ja, das habe ich angefangen", sagt er, "macht auch immer noch Spaß." Nur zum Thema Üben sind seine Mama Simone und er unterschiedlicher Meinung. "Sie diskutiert immer mal wieder mit mir, ob sich das überhaupt noch lohnt, dass ich Unterricht habe", berichtet er mit einem kleinen amüsierten Lächeln. Er findet durchaus, dass es sich lohnt. Und dass er eigentlich schon genug übt.
Das Jojo-Spielen dagegen hat er aufgehört. Oder anders gesagt: Er ist auf Diabolo umgestiegen. In der Zirkus-AG in seiner Schule hat er gelernt, die Halbschalen mit den beiden Stäben auf der Schnur zu jonglieren, sie zu Sonnen- und Weltenwanderern zu machen. "Ich war so ziemlich der Erste, der das gemacht hat. Angefangen damit habe ich in der ersten oder zweiten Klasse", berichtet er stolz. Das Meiste hat er sich selbst beigebracht. Dazu gehört ein regelmäßiges Training. Auf Youtube hat er seine Videos hochgeladen, in denen er und sein Spielpartner in Tipps und Tricks des Diabolo-Freestyle einführen und zeigen, was sie können. Bei einem ihrer Auftritte wurden sie sogar als Animateure für ein Spielwarenhaus engagiert. "Da haben wir dann die ganze Ausrüstung gesponsert bekommen", erzählt er. Dafür, dass sie Flyer verteilten und in T-Shirts mit dem Logo des Händlers Diabolo-spielend Kunden warben. "Der Laden hat aber dann leider dichtgemacht", sagt Matĕj bedauernd. "Lag aber nicht an uns, denk ich mal." Er zuckt mit den Schultern. "War schon cool."
Seit der Trennung seiner Eltern lebt Matĕj mit seiner Mama Simone hier in diesem Haus. Seit einiger Zeit gibt es Johann, den Partner der Mama, mit dem versteht er sich ganz gut. Seine Mami Jana sieht er alle zwei Wochen am Wochenende. Auch sie hat eine neue Partnerin. "Aber zu meiner Familie rechne ich eher nur meine richtigen Eltern", stellt Matĕj klar. Und sagen lässt er sich auch nur von ihnen etwas. Dass seine Mama sich jetzt in einen Mann verliebt hat, ist für ihn kein besonders wichtiges Thema. "Ich habe das eher so mit Abstand verfolgt und mich dann dran gewöhnt", meint er.
Damit, dass er zwei Mütter hat, geht Matĕj immer noch sehr offen um. Wobei er mittlerweile eher abwägt und bewusster auswählt, wann und wem er es sagen möchte. "Es ist ja nichts, wofür man sich schämen müsste", findet er, "aber ein Schild auf die Stirn braucht man sich auch nicht zu kleben." Weil man ja schließlich auch als die Person gesehen werden will, die man außerdem und unabhängig von seinen Eltern ist. Und weil es auch um etwas sehr Persönliches geht. Deshalb möchte er beispielsweise in seinem Lebenslauf die Information, wer seine Eltern sind, nicht einfach so preisgeben. "Ich habe da aber schon eine Lösung für mich gefunden", berichtet er vergnügt. "Ich kürze die Vornamen einfach mit den Anfangsbuchstaben ab."
Das, was er an beleidigenden Kommentaren zu hören bekam, kann Matĕj, wie er betont, "an einer Hand abzählen. Meistens sind es auch eher so Scherze." Und wenn was darüber hinausgeht, meint er, "sage ich auch, das passt mir jetzt nicht." Und wenn welche versuchen, ihn damit anzugreifen, lässt er das an sich abprallen. "Das kommt in dem Sinne nicht bei mir an", erklärt er. Er verschränkt die Arme und lehnt sich zurück. Und wenn er anderen Kindern aus Regenbogenfamilien etwas empfehlen würde, dann wäre es das, zu "überlegen, ob man den falschen Freundeskreis hat, wenn man sich mit solchen Leuten umgibt, die die Familie beleidigen."
Insgesamt findet Matĕj, dass vieles von dem, was er vor zehn Jahren berichtet hat, immer noch stimmt: Halb tschechisch und halb deutsch fühlt er sich. "Vielleicht etwas mehr deutsch als tschechisch", schränkt er ein. Aber Tschechien fühlt er sich als Land sehr verbunden, die Sprache spricht er fließend – viele Freunde leben dort, zu denen er regelmäßig Kontakt hat, dann seine Großeltern, die Eltern seiner Mami Jana, und auch sein Spender ist Tscheche. Nicht, dass es sein dringendster Wunsch wäre, den Mann kennenzulernen, von dem er genetisch abstammt, "aber", sagt Matĕj, "eine gewisse Neugierde gibt es schon". Allzu wichtig ist es ihm im Moment jedoch nicht. Sollte es das werden, würde er versuchen, Kontakt zu ihm herzustellen.
Okay, das mit den Heiratsplänen würde er heute natürlich nicht mehr so formulieren. Aber auch wenn er sich zurzeit in Mädchen verliebt und sich als hetero bezeichnet, betont Matĕj, dass man es ja nie weiß, "was noch kommt". Wer noch kommt. In wen man sich später irgendwann einmal verliebt. Wie seine Mama Simone. "Ich weiß nicht", überlegt Matĕj, "ob ich das auch so sagen würde, wenn ich in einer in Anführungsstrichen normalen Familie aufgewachsen wäre. Ich finde einfach, es sollte keine Unterschiede geben." Und keine Bewertungen, welche Lebensform die bessere oder eben die "normale" ist.
Wo er in zehn Jahren ist, da möchte sich Matej noch nicht festlegen, in Prag vielleicht, vielleicht auch in Paris oder irgendwo in Frankreich. Ein Land, das ihm auch gut gefällt und dessen Sprache er ebenfalls liebt. "Oder aber ich bin einfach noch in Kirchheim", meint er und lacht.
Erst mal steht jetzt an, im nächsten Jahr seinen Realschulabschluss auf der Waldorfschule zu schaffen und dann eine Ausbildungsstelle zu finden. Erzieher zu werden könnte er sich vorstellen. Seit er seine Jugendleiterausbildung abgeschlossen hat und regelmäßig Ferienzeiten für Kinder mitorganisiert, hat er festgestellt, dass ihm das großen Spaß macht. Oder aber er schlägt eine ganz andere Richtung ein und wird Mediendesigner. Werbung entwerfen und die entsprechenden Konzepte dafür, das wäre auch durchaus etwas, das ihn reizt. Matĕj zuckt mit den Schultern. "Zum Glück kann ich mir noch ein bisschen Zeit lassen, mich zu entscheiden." Er weiß, dass er Zeit braucht. Und dass es gut ist, sich die zu lassen. Manche finden ihn deswegen langsam. Aber die haben ihn wahrscheinlich noch nicht Snowboard fahren sehen.
Info:
Uli Streib-Brzič/Stephanie Gerlach: "Und was sagen die Kinder dazu? Zehn Jahre später! Neue Gespräche mit Töchtern und Söhnen lesbischer, schwuler und trans* Eltern" erscheint im September 2015 <link http: www.querverlag.de _blank>im Querverlag.
5 Kommentare verfügbar
Theo
am 22.06.2015Sagen Sie mal, haben Sie den Artikel überhaupt gelesen, oder kommen bei Ihnen nur reflexartige, verbale Hiebe?
Bei all Ihre Fragen (Woher kommt das Kind ? Wer sind die natürlichen Eltern ?) stehen die Antworten im Text.
Mit LSBTTIQ-Eltern verhält es sich wie bei heterosexuellen Eltern…