Zwei Tage später war in der "Süddeutschen Zeitung" zu lesen, der Klimaprotest habe "keinen Einfluss auf Versorgung des Unfallopfers" gehabt. Jedenfalls kommt die behandelnde Notärztin hier zu der Einschätzung, dass die Rettung der verunglückten Radfahrerin durch den Stau nicht beeinträchtigt worden sei.
In der Berichterstattung über zivilen Ungehorsam macht sich seit geraumer Zeit eine zunehmende Polarisierung bemerkbar, die zwischen Glorifizierung und Verteufelung schwankt. Während ein Teil der Medienlandschaft Aktionen, die auf die Klimakatastrophe hinweisen, prinzipiell gutheißt, stemmt sich beispielsweise Reinhard Müller in einem Kommentar für die FAZ "wider den Klimaterrorismus" und verweist auf die Bedrohung "durch einen juvenil daherkommenden Aktivismus, der schon jetzt nicht davor zurückschreckt, Kinder zu instrumentalisieren und Leben zu gefährden". Das gipfelt in der Unterstellung: "Obwohl Aufmerksamkeit und Mobilisierung auch ohne Rechtsbruch leichter zu erreichen sind als früher, gelten Anschläge auf die Infrastruktur als Goldstandard eines im Gewande des Gemeinwohls daherkommenden Protests." Konkrete Beispiele für "Anschläge" werden hier zwar nicht genannt. Allerdings fragte Autorin Eva Horn nach der Sabotage an der Nord-Stream-Pipeline im selben Blatt: "Was, wenn es Klimaaktivisten waren?", vielleicht "Extinction Rebellion in Tauchanzügen?" Nach der reißerischen Aufmachung findet sich im Artikel allerdings auch ein Hinweis, dass die verschiedenen Strömungen des Aktivismus für Klimagerechtigkeit "anders als viele frühere Protestbewegungen" ein "ostentatives Bekenntnis zu Gewaltlosigkeit" eine. Was die Frage dann soll, wird nicht erläutert.
Nicht militant, aber ideenlos
Gerade bei den Blockade-Aktionen der "Letzten Generation" dürfte Militanz bislang eher bei entnervten Autofahrer:innen zu verorten sein, die sich nicht bis zum Eintreffen der Exekutive gedulden wollen und selbst Hand anlegen, um die Störer:innen zu entfernen. Dadurch ist allerdings noch nicht geklärt, welchem Zweck Klebe-Protest oder auch Angriffe auf museale Kunst dienen. Dass die Aktionen Aufmerksamkeit erzeugen, soll hier angesichts der gewaltigen medialen Resonanz nicht bestritten werden. Es gibt jedoch viele Anzeichen dafür, dass das Kernproblem beim Umgang mit der Klimakrise längst nicht mehr eine mangelhafte Sensibilisierung der politischen Entscheidungsträger:innen ist – sondern eine aufrechte Ratlosigkeit, wie gelungener Umweltschutz auf globaler Ebene unter den gegebenen Bedingungen funktionieren könnte. Und gerade bei Ideen für eine Umsetzung fällt das Angebot der "Letzten Generation" extrem mager aus.
Auf der Website der Bewegung gibt es unter dem Reiter "Forderungen" lediglich einen Brief an die Bundesregierung, gezeichnet von drei Personen. Neben zahlreichen, wissenschaftlich gut untermauerten Hinweisen auf drohende Katastrophen durch die Erderhitzung werden nur zwei konkrete Maßnahmen verlangt: ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen und ein dauerhaftes 9-Euro-Ticket für den ÖPNV. Allzu radikal klingt das nicht – eher nach der Art von kleinen Schritten, die auch Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) im Vorfeld der 27. Klimakonferenz der Vereinten Nationen anführt. Habeck betont, dass sein Haus jeden Tag daran arbeite, ein kleines Stück voranzukommen, sei es durch neue Vereinbarungen zum Ausbau von Offshore-Windkraft-Anlagen oder durch einen vorgezogenen Braunkohleausstieg. Er räumt allerdings auch ein, dass "die Größe der Aufgabe und die Größe der Schritte" aktuell "dennoch auseinanderfallen".
1 Kommentar verfügbar
bedellus
am 09.11.2022wer sich dem in den weg legt / klebt, gibt eine adaequate antwort!