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Kontext-Sommerserie

Schwarzer Gürtel der Illusionen

Kontext-Sommerserie: Schwarzer Gürtel der Illusionen
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Tacos, Schweineschwarte, Scheinidentitäten: Mexikos Antwort auf die Alltagsrealität ist ein einzigartiger Eskapismus. Don Eulogio, der Wächter des Tors zu meiner Straße, ist mein liebster Vertreter dieses kulturellen Spezifikums geworden. Ein unvollständiges Psychogramm.

Ah, Don Eulogio, der fleischgewordene Aussichtsturm der 22. Straße! Wie er thront und hasst, tagaus, tagein. Er ist einer dieser Menschen, aus denen man nie wirklich schlau wird, für die man aber immer ein oberflächliches Interesse hegt. Nach vielleicht einem Dreivierteljahr, in dem ich Tag für Tag an ihm vorbeigegangen war, wusste ich seinen Namen.

Sommergedanken

"Was für ein schönes Angebot!", hieß es vielfach, als wir unsere Autor:innen für unsere Sommerserie anfragten. Ob sie nicht ein Thema hätten, über das sie schon immer mal schreiben wollten? Selbstverständlich. Angesichts konkfliktvoller Zeiten wird nicht alles leicht und luftig werden. Rassismus und Systemkritik kommen vor, Armut und Lachen, aber auch Sylt und eine geheimnisvolle Postkarte, sogar das Videospiel Counter-Strike. Zum Auftakt: Don Eulogio, eine echte Type in Mexiko-Stadt.  (red)

Don Eulogio strahlt Autorität aus – nicht durch physische Attribute, Status, Waffen, Kontakte, Einfluss, nicht mittels Charisma oder eines besonderen Repertoires an Zitaten. Sondern schlicht dadurch, dass er hier schon so verdammt lange hockt. Und hockt. Und hockt. Wie viele Regierungswechsel sein weißer Plastiksessel wohl schon übers Radio mitbekommen hat? Er weiß es selbst nicht mehr.

Die Gleichung ist simpel: Der Don hat einen Scheißjob – und entsprechend hat er Scheißlaune. Grunzen und Sprüche schreien, das steht auf der Tagesordnung. Aber immer mit einem Lachen dazu. Er war der Erste und er wird der Letzte sein. Einen Nachfolger wird es nicht geben.

Don "Eulo", wie meine kubanischen Nachbarn ihn tauften, hat sie alle erlebt, die in dieser Straße wohnten: Da war der nette ältere Diabetiker, dessen Bein dann leider nicht mehr wollte; der mit dem fein gestutzten Schnurrbart; der, der nach einer blutigen Auseinandersetzung zweier Nachbarn nie wieder gesehen wurde; und natürlich der supersympathische, aber unfähige Typ. Don Eulo hat sie alle kommen und gehen sehen. Niemand kann so gut sitzen, das Tor öffnen und raunen wie er. Don Eulo hält den ganzen Laden zusammen. Niemand hat in dieser Straße so viel Autorität wie er.

Beim Don weiß man nie, ob er gerade Lust hat, mit einem zu reden. Oft entgegnet er auf buenos días oder buenas tardes nur mit einem Zur-Kenntnis-nehmenden Nicken. Gerne folgt auf eine herzliche Begrüßung auch mal ein "Ja". Sein Job besteht darin, dieses verschissene Tor auf- und zuzumachen, jeden Tag, jede Stunde, alle paar Minuten: reguläre Taxis, Uber, Lieferdienste, Handwerker, Bewohner:innen oder die Elektrizitätsbehörde CFE, wenn mal wieder ein depperter Ast eines Baumes für einen ganzen Nachmittag ohne Strom sorgt.

Eulogio braucht kein Masterstudium in irgendeiner geisteswissenschaftlichen Disziplin, um zu verstehen, dass er in der Hackordnung weit unten steht.

Zehn Pesos Arterienverkalkung

Der Don macht ein Tor auf. Das ist sein Broterwerb. Wir reden hier noch nicht einmal von Toren, im Plural. Es ist ein einziges, großes Scheißtor mit abblätternder, weißer Farbe. Dabei muss er sich mit Vielem rumschlagen: Taxis mit verwirrten Touristen, die in der 22. ein Museum vermuten, ewig tratschende Damen mit Einkaufskorb, die vom Einkaufen zurückkehren, Besoffene, Aggressive, oder die nur allzu häufige Kombination der beiden letztgenannten Attribute in derselben Person. Die kleine Einbahnstraße, dessen Torverwalter Don Eulo ist, nennt sich "privada" oder "cerrada". Sie soll Mittelschichts-Mexikaner:innen – oder eben weißen Korrespondent:innen aus dem Globalen Norden – für erhöhte Mietpreise ein Scheingefühl der Sicherheit bieten.

Herzlichkeit ist für den Don ein Konzept, für das er im Alltag keine Anwendung findet. Mit einer Ausnahme: Tacos nähern sich seinem Antlitz. Nicht irgendwelche. Die von der Taquería neben dem Sportplatz. Ein Fragment der Freude blitzt über sein Gesicht – egal ob Pastor, Chorizo oder Suadero, Salsa verde oder roja, scheißegal. Seine Dankbarkeit wirkt ehrlich. Er hinkt einem einen Meter entgegen, verstaut den schweinefleischigen Eskapismus in seinem klaustrophobischen Zweieinhalb-Quadratmeter-Kabuff und setzt sich wieder auf den Stuhl. Respekt verschafft man sich bei ihm ausschließlich auf eine Weise: jeden Tag an ihm vorbeilaufen, ständig, jahrelang. Irgendwann respektiert er einen dann.

Korrektur des letzten Absatzes: Eine weitere Ausnahme für Freude existiert beim Don. Mittwoch, día de plaza – wörtlich: Tag des Platzes – heißt konkret: Wochenmarkt. Eine Querstraße weiter, rund um den großen Sportplatz herum, wird gefeilscht, gewogen und geratscht. Der nuschelnde ältere Herr mit seinem soliden Angebot an Nüssen ist mir nach einer Weile zu anhänglich und aggressiv im Kundenmanagement ("Weißer, du warst letzte Woche gar nicht da! Was war los?").

Die Gemüsehändler schreien laut, haben aber gutes Gemüse. (Klingt nach einem fairen Kompromiss.) Die ältere Frau direkt neben der Kirche mit dem sehr dichten grauen Haar lächelt bei jedem Wetter. Sie hat auch allen Grund dazu: Sie verkauft ein einziges Produkt, chicharrón, frittierte Schweineschwarte. Da ihre Marktanalyse hervorragend war, kann sie mit einem steten, nie abebbenden Strom an Kund:innen rechnen. Ich kaufe manchmal für 50 Pesos, aber nicht jede Woche – der Darmkrebs kann gerne noch etwas warten. Anfangs habe ich dem Don nur ein Stück abgegeben, Halleluja, die Freude – sonst einmal im Schaltjahr – kehrt in sein Gesicht zurück. Dann stieg ich zum mittwöchentlichen Schweinebauch-Versorger des Dons auf. Zehn Pesos Arterienverkalkung, nur für Eulogio – immer gerne. Die Freude in seinen Augen ist mehr wert als die Zehn-Pesos-Münze mit den Insignien Mexikos.

Seine Tätigkeit ist eine dieser omnipräsenten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die die ganze Agavenrepublik durchziehen: der Tür-Aufmacher, der Parkplatz-Einweiser oder – mein Favorit – der Desinfektionsgel-in-die-Hand-Verteiler (eine Erscheinung der Pandemie, versteht sich).

Humor ist alternativlos

Jedes Quartal quatscht der Don mal beiläufig von seinem rancho irgendwo in Morelos, und wie er dort hinziehen wird, wie er uns alle hier in der Straße verlassen wird, all die señoras chismosas – die tratschenden älteren Damen – und all die Hunde, Katzen und Taxifahrer verlassen wird. Natürlich ist nie was passiert. Don Eulogio wird bis zu seinem Ableben sitzen – und warten und sterben, gemächlich vor sich hinsterben, mit Scheißlaune.

Als dann mal am helllichten Tag in einer Bude nahe dem großen Baum eingebrochen wurde, unweit der Wohnung mit den sektenartigen Nachbarn in ihren weißen Gewändern, da beteuerte der Don seine Fähigkeiten im Zweikampf: Er habe ja den schwarzen Gürtel in Judo, sagt er. Kein Zwinkern, keine besondere Modulation der Stimme – aber dieser subtile Glanz in den Augen, das leichte Grinsen, das darauf hinweist: Natürlich hat er den nicht. Es ist eine Art Rückversicherung, sich selbst und den anderen gegenüber, dass er hier der Boss ist und bleibt, dass wir sicher sind. Außer halt als die Bude ausgeräumt wurde, aber bueno, que se le hace, was soll man da schon tun?

Don Eulogio hat mir eines der wichtigsten Konzepte in Mexiko beigebracht: Humor als Eskapismus. Auf einem absolut brutalen Niveau. Als eine Art Ausflucht. Die Kriminellen aus Jalisco haben einen Widersacher geköpft, den Kopf neben einen Geldautomaten gelegt, dann hat ihn ein Hund durch die Gegend getragen – haha! Das hat sogar jemand gefilmt, heftig. "Nos reímos de todo", wir lachen einfach über alles, "Todo es broma", alles ist ein Witz. Der Mexikaner ist ein humoristischer Anti-Lindner. Hier lautet die Devise: Besser falsch lachen als gar nicht zu lachen.

Und das ist ein sinnvoller, notwendiger Schutzmechanismus: Mit fast 200.000 Morden (alleine unter der letzten Regierung López Obradors), knapp 130.000 Verschwundenen, der Großteil davon seit dem Jahr 2006, über 52.000 nicht identifizierten Leichen und einer immensen Straflosigkeit – da ist Humor alternativlos.

Moritz Osswald lebte viele Jahre in Mexiko-Stadt. Als freier Korrespondent, Autor und Producer für deutschsprachige Medien fokussiert er sich vornehmlich auf Menschenrechte, Gewalt und Sicherheit, Politik und Kultur. Jetzt ist er in der Entwicklungszusammenarbeit und parallel als Korrespondent tätig. Seine favorisierte Tacoart ist der Taco al pastor ("Schäferart"), den vermutlich libanesische Einwanderer einst nach Mexiko brachten.  (os)

Ah, Don Eulogio. Der Fels in der Großstadtbrandung, der Mann, der alles aussitzt. Man muss ihn mögen, auch wenn er nach all den Jahren meinen Namen immer noch nicht kennt – aber er grüßt, ab und zu halten wir ein Schwätzchen. Das fühlt sich nach Erfolg an. Harte Arbeit. Sozialpsychologisch elaborierte Interventionen waren notwendig: Schweineschwarte, Schweinefleisch-Taco, zuhören und: grüßen, grüßen, grüßen.

Nach all den Jahren wirkt er sichtlich überrascht, was meinen Abschied anbelangt. Ob ich jetzt wieder zurück nach Kanada gehe, so seine einzige Frage. Herrlich, denke ich. All die Jahre hat er gedacht, ich sei Kanadier.

Jorge Ibargüengoitia, einer der klügsten Kommentatoren und zauberhaftesten Zyniker der mexikanischen Gesellschaft, hätte seine Freude an Don Eulogio gehabt. Ibargüengoitia schrieb einst: "Die Traurigkeit oder Freude einer Geschichte hängt nicht von den Ereignissen ab, die sich zugetragen haben, sondern von der Haltung desjenigen, der sie dokumentiert."

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